Das November-Gedicht: Menschen getroffen

Man sitzt im Auto und wartet auf Kositza, die noch eben im real.- etwas von dem Zeug kaufen muß, das man nicht selber...

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

pro­du­zie­ren kann: Zahn­bürs­ten, FAZ, Bier. Am Auto vor­bei zieht man­cher­lei Volk, man kennt jeden zwan­zigs­ten vom Sehen und weiß bei kei­nem, womit sein Gehirn gera­de beschäf­tigt ist und wohin er sich auswächst.

Viel­leicht ent­steht in dem jun­gen Mann, der in sei­nem Korb ein paar Fla­schen Bier und eine Tüte mit auf­ge­schnit­te­nem Brot vor­über­trägt, soeben ein Gedicht – auch Höl­der­lin hät­te so aus­se­hen kön­nen auf sei­nem wochen­lan­gen Weg zurück nach dem Zusam­men­bruch in Bordeaux.

Die Dicke mit den bei­den Ein­kaufs­wä­gen – hat sie für ihre Tour nicht die Arbeit an einem Hör­spiel für den MDR unter­bro­chen und war noch ganz in Gedan­ken, als sie an der Kas­se einen Stau verursachte?

Und die­ser Schü­ler, der dem Hähn­chen-Grill zustrebt, schlur­fend wie ein Behin­der­ter, den Schritt der Jeans wie voll­ge­schis­sen auf Knie­hö­he (in Ber­lin, Köln und Mün­chen längst wie­der aus der Mode): Kommt er viel­leicht aus einem nach­ge­ra­de aso­zia­len Eltern­haus und durch­läuft jetzt eben eine unan­sehn­li­che Pha­se, bevor er 2022 als Abge­ord­ne­ter für die SPD in den Bun­des­tag einzieht?

Ja, viel­leicht, ja! Man kanns nicht wis­sen. Man kann das da drau­ßen nicht ein­fach eben mal sor­tie­ren, vor allem nicht Anfang Novem­ber, wenn der Natur die Mus­keln abhan­den kom­men und man nicht weiß, wo im Boden der Keim für die Früh­jahrs­blü­te steckt. Man muß genau­er hin­se­hen und hin­hö­ren, man wird über­rascht sein.

Auch Gott­fried Benn kann­te die­se Beur­tei­lungs­be­schei­den­heit und das Wun­der der Men­schen-Fun­de – und er schrieb unnach­ahm­lich davon:

Men­schen getroffen

Ich habe Men­schen getrof­fen, die,
wenn man sie nach ihrem Namen fragte,
schüch­tern – als ob sie gar­nicht bean­spru­chen könnten,
auch noch eine Benen­nung zu haben -
„Fräu­lein Chris­ti­an“ ant­wor­te­ten und dann:
„wie der Vor­na­me“, sie woll­ten einem die Erfas­sung erleichtern,
kein schwie­ri­ger Name wie „Popi­ol“ oder „Baben­der­erde“ -
„wie der Vor­na­me“ – bit­te, belas­ten Sie Ihr Erin­ne­rungs­ver­mö­gen nicht!

Ich habe Men­schen getrof­fen, die
mit Eltern und vier Geschwis­tern in einer Stube
auf­wuch­sen, nachts, die Fin­ger in den Ohren,
am Küchen­her­de lernten,
hoch­ka­men, äußer­lich schön und lady­li­ke wie Gräfinnen –
und inner­lich sanft und flei­ßig wie Nausikaa,
die rei­ne Stirn der Engel trugen.

Ich habe mich oft gefragt und kei­ne Ant­wort gefunden,
woher das Sanf­te und das Gute kommt,
weiß es auch heu­te nicht und muß nun gehn.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.