Unter den Belletristen, die zu Ikonen wurden, gibt es einige wenige, deren Einflußkraft weit in andere Zonen der populären Kultur hineinstrahlt. Das wahrscheinlich beste Beispiel ist William S. Burroughs, der von Patti Smith und Laurie Anderson bis zu Nirvana und Ministry zum Idol und Paten zahlloser Projekte der US-Independent-Musikszene wurde. Die Kultur der populären Musik ist meistens eine Kultur der Jugend, und ein Schriftsteller, der hier ikonischen Status erlangen will, muß gewisse Kriterien erfüllen, um zur Projektionsfläche jugendlicher Sehnsüchte tauglich zu sein. Nationalzeigefinger Onkel Grass eignet sich dafür schlecht (daran wird auch das müde Waffen-SS-„Outing” nichts ändern), Hermann Hesse schon eher.
Und Ernst Jünger? Der Begriff „Stahlgewitter” ist Allgemeingut geworden und wird auch von Bands wie Rammstein benutzt, während Harald Schmidt es sich leisten kann, die Burgunderszene aus den Strahlungen mit Playmobilfiguren nachzuspielen und dabei auf das Verständnis der Zuschauer zu hoffen. Das ist natürlich nicht viel.
Abseits der großen Heerstraße sieht es schon besser aus. 1998 beschrieben Manuel Ochsenreiter und Jürgen Hatzenbichler, beide in ihren Zwanzigern, in der Jungen Freiheit den eben im methusalemischen Alter verstorbenen Dichter als den „ersten deutschen Raver”, als exemplarische antibürgerliche Figur und Antithese „zum heutigen konservativen Breitcord- und Jankerträger”. Darin folgten sie einer damals gängigen Interpretation der Technokultur als Revolte „gegen eine durchrationalisierte Welt ohne Zauber und Emotionen”. Die stunden‑, ja tagelangen Raves wurden zu psychischen und physischen Grenzerfahrungen, zu modernen „Stahlgewittern”, die grenzüberschreitende Erfahrung des Ravers zum Pendant des „Kampfes als inneres Erlebnis”. Obwohl der Bezug zum „technophilen” Jünger des Arbeiters naheliegt, blieb diese Deutung jedoch eher eine Fußnote der Technokultur, deren formale Leere Platz für beliebige Botschaften läßt.
Anders verhält es sich mit jener Subkultur, auf die Jünger tatsächlich einen großen Einfluß hatte: Die sogenannte „Neofolk”-Szene, die europaweit Anhänger hat, konstituiert sich nicht allein durch ihre Musik, sondern durch einen gewissen Mehrwert an literarischen, okkultistischen, cineastischen und philosophischen Referenzen, die ein kodiertes, aber offenes System bilden, das von außen schwer zu durchschauen ist. Die Verwirrung beginnt schon damit, daß ein großer Teil der Musik wenig bis gar nichts mit „Folk” zu tun hat; im Szenekontext ist vom Lagerfeuergeklampfe über klassische Instrumente bis zur Lärmorgie alles möglich. Die Vorliebe für martialische Ästhetik und die enthusiastische Rezeption „rechter” Leitfiguren wie Leni Riefenstahl oder Julius Evola, bei gleichzeitiger Abhorreszenz explizit politischer Aktivität hat die Neofolkszene zu einem Lieblingsfeindbild „antifaschistischer” Aufklärer gemacht. In einem Interview mit eigentümlich frei versuchte Dominik Tischleder, der zeitweilige Herausgeber des Szenemagazins Zinnober (jetzt: Zwielicht), den Neofolk als „Musik zwischen Stirner, Jünger und Rand” zu definieren. Nota bene sind hier also eher literarisch-ideelle als musikalische Quellen ins Feld geführt. Die Erwähnung von Max Stirner und Ayn Rand ist allerdings wohl mehr ein aus dem Erklärungsnotstand erwachsenes Zugeständnis an die „libertäre” Leserschaft von eigentümlich frei. Jünger dagegen hat seit Mitte der neunziger Jahre einen bedeutenden Status innerhalb der Szene erlangt.
Zuvor spielte Jünger bereits in den siebziger Jahren eine gewisse Rolle im Umfeld einer Subkultur, die in mancher Hinsicht ein Vorläufer des Neofolk ist. Die rechtsgerichtete, aber relativ undogmatische „Musica Alternativa” (auch „Identitätsrock”) entwickelte sich Ende der sechziger Jahre vor allem in Italien und Frankreich als Antwort auf die zahlreichen linken Liedermacher und Agitpropgruppen. Die Musik weist Folk‑, Progressive Rock‑, und Pop-Elemente auf, in Italien war sie natürlich stets auch stark von Schwarzhemdenromantik geprägt. 1978 nahm die Pionier-Band Nuovo Canto Popolare einen Song mit dem Titel „Sulle scogliere di marmo” („Auf den Marmorklippen”) auf, wahrscheinlich das früheste Beispiel für eine Adaption Jüngers in der populären Musik. Das Lied wurde zu einem kleinen Klassiker und später von Antica Tradizione, einer weiteren zentralen Band des Genres gecovert. Seither ist der Jünger-Bezug ein zwar nicht häufiger, aber beständiger Fixpunkt der Musica Alternativa, speziell die Wendung „Sulle scogliere di marmo” ist zur Chiffre geworden.
Im Gegensatz zur Musica Alternativa ist der Neofolk nicht explizit politisch geprägt. Der Zugang zu Jünger erfolgte analog der Techno-„Vereinnahmung” nicht durch den „politischen”, sondern durch den „ekstatischen” Aspekt seines Werks. Verantwortlich dafür ist in erster Linie der oberösterreichische Musiker Gerhard Petak, der früher unter dem Künstlernamen „Kadmon” (heute: „Gerhard Hallstatt”) publizierte. Petak ist der Kopf des Projektes Allerseelen, dessen Stil von Album zu Album wechselt und den man als eine eigenwillige, zum Teil anmutig verschrobene Mischung aus folkloristischen, experimentellen und elektronischen Elementen bezeichnen kann. 1995 erschien ein Text aus seiner Feder, der programmatisch wurde für die Jünger-Rezeption der Neofolk/Post-Industrial-Szene. Jünger betrat deren Pantheon also relativ spät, als andere „faschistisch” angehauchte poetes maudits wie Yukio Mishima, Jean Genet oder Aleister Crowley durch Gruppen wie Death in June und Current 93 längst etabliert waren. „Feuertaufe” war ein Heft im Rahmen einer von Petak quasi eigenhändig am Fotokopierer produzierten Heftchen-Serie namens „Aorta” (später: „Ahnstern”), die sich mit dillettantisch-unseriöser Inbrunst auf obskure Thematiken mit meistens okkultistischem Hintergrund stürzte. Es gab Hefte über die „Münchener Kosmiker” Klages und Schuler, den US-Filmemacher Kenneth Anger, den Maler Fidus, über ein Anubis-Ritual von Joseph Beuys, den „Wiener Aktionisten” Schwarzkogler, die NS-Esoteriker Rahn und Wiligut, die „Trommeln von Calanda” und Riefenstahls „Das blaue Licht”. Schwarmgeistige, hymnische Exzesse, die sich mit einer provozierend „kritiklosen” Unbekümmertheit und dem Willen, sich in den Bann schlagen zu lassen, ihren Themen hingaben. Wenn es einen „roten Faden” gab, dann die leidenschaftliche Gier nach dem „Zauber”, der nach Stefan George „das Leben wach” hält. „Ein eigentümlicher, zauberischer, unwiderstehlicher Reiz ging von diesen Kriegsaufzeichnungen aus”, schrieb „Kadmon” über Jüngers Frühwerk. „In Stahlgewittern, Feuer und Blut, Sturm und Das Wäldchen 125 waren Niederschriften des Unbeschreiblichen. (…) Wo allen anderen die Worte fehlten, wo es ihnen längst die Sprache verschlagen hatte, fand er die Worte, um das rauchende, finsterlohe Niemandsland des Krieges (…) für immer festzuhalten, zu verewigen.” In der Folge stand das Rauschhafte, „Horrortrippige”, (Alp-)Traumhafte, die „traumatische Schönheit” von Jüngers Welt im Mittelpunkt, der Dichter selbst erschien als Psychagoge in Feldgrau: „… der Krieg als apokalyptische, psychedelische Nachtfahrt.(…) Der Kriegsschauplatz erschien als eine Anderswelt, eine Unterwelt, ein Niemandsland, eine Grauzone, in der die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, Jenseits und Diesseits fließend war.” Bezeichnenderweise fanden sich in der Bibliographie des Heftchens mehrere Titel von und über Gustav Meyrink.
Musik weckt Emotionen. „Die Basis jeder Selbststimulation ist der Sound” (QRT). Nicht anders zielten die Traktate Kadmons darauf ab, den Leser mit der Begeisterung und Faszination des Autors anzustecken, das „abenteuerliche Herz” anzufachen. Die billig produzierten Heftchen hatten weder eine hohe Auflage noch eine weite Verbreitung, dennoch war ihr untergründiger, befreiender Einfluß auf die sich entwickelnde Neofolk-Szene enorm. Sie gaben Wegweiser in ein Gebüsch voller ungehobener, vom Mainstream unterschlagener Schätze. In einem Interview mit Michael Moynihan, dem Kopf von Blood Axis, stellte Petak die Frage: „Glaubst Du, daß es eine Verbindung gibt zwischen rechten Vorstellungen und der rechten, intuitiven, mythischen Gehirnhälfte und linken Vorstellungen und der linken Gehirnhälfte, die für rationale, analytische Vorgänge verantwortlich ist?” Antwort: „Die Linke interessiert sich nur für die politische Ebene – in meinen Augen die niedrigste Ebene von allen. (…) Sie hat eine rein materialistische Anschauung, das Emotionelle wird vollkommen geleugnet.(…) Anstatt Zusammenhänge zu sehen, halten sie Spiritualität und Mytholgie für völlig unwichtig.” Diese Sätze sind symptomatisch für die Herangehensweise der enfant terribles des Neofolk, und enthalten im Kern alles, was zu den Attacken der „Antifaschisten” (mit oder ohne Doktortitel), die folgen sollten, zu sagen ist. Noch Jahre später betonte Petak in einem Interview: „Jünger mit all seinen Facetten, seinem Wissen und seiner Weisheit über Kunst, Drogen, Literatur, Natur und viele andere Themen, kann man nicht einfach ‚faschistisch‘ oder ‚rechts‘ nennen. Wer das tut, zeigt deutlich, daß er keine Ahnung von diesem bedeutenden deutschen Schriftsteller hat.” Jünger tauchte seither mehrfach als Referenz bei Allerseelen auf, 1997 erschien das Stück „In Stahlgewittern”, 1998 das „Käferlied”, 2002 das Album „Das abenteuerliche Herz”, das weniger als „Vertonung” denn als Hommage zu verstehen ist. Im Szene-Organ „Zinnober” (V/2003) interviewte Petak schließlich den Jünger-Forscher und ‑Aficionado Tobias Wimbauer. Inzwischen hatte sich der Jünger-Einfluß auch anderweitig bemerkbar gemacht.
Im selben Heft wurde eine Aufführung der Oper Auf den Marmorklippen von Giorgio Battistelli in Mannheim besprochen (die auch auf CD erschienen ist). Der Roman wurde im Szenekontext bisher zweimal atmosphärisch vertont, von His Divine Grace („Die Schlangenkönigin”, 2003, als Grundlage wurde zum Teil das Hörbuch mit Christian Brückner benutzt) und Sagittarius („Die große Marina”, ebenfalls 2003, frei zum Herunterladen auf www.sagittarius.de). Auszüge aus der englischen Übersetzung von Stuart Hood fanden sich auf dem Titel „The Storm Before the Calm” (1994) von Blood Axis, der den Text mit der Stimme von Corneliu Codreanu und einem Klaviermotiv von Nietzsche vermischte. Von Richard Leviathan (Strength Through Joy, Ostara), dem wohl intellektuellsten und zugleich popkompatibelsten Vertreter des Genres (er arbeitete auch mit Waltari zusammen), stammt der Text „On The Marble Cliffs”, der bisher in drei verschiedenen Versionen auf Alben von Kapo! (= Death in June), Ostara und Foresta di Ferro zu hören war. 1997 veröffentlichten Turbund Sturmwerk die Single „Der letzte Sieger ist der Tod”.
Auf der A‑Seite war die treibend-technoide Vertonung eines frühen expressionistischen Gedichts („Traum, hirndurchglüht, wird Vision, Krystall/ Urfrage Sein zu Wahnsinn, Katarakt”) von Jünger zu hören, das der Dichter auf Bitte der Gruppe selbst einsprach. Dem Jüngerschen „Optimismus des Willens” stellte die B‑Seite den „Pessimismus des Geistes” in Form von Heiner Müller gegenüber. 2001 erschien der Sampler „Der Waldgänger”, auf dem sich etwa zwei Drittel der Lieder direkt auf Jünger bezogen. Unter den rund zwei Dutzend internationalen Gruppen fanden sich „Von Thronstahl”, „Leger des Heils”, „Linija Mass”, „Werkraum” und die britischen „Lady Morphia”, deren Titel „Retreat into the Forest” (mit einem Jünger-Sprach-Sample) auch auf ihrem Album „Recitals to Renewal” (2000) erschien, das dem Andenken Jüngers gewidmet war.
Diese intensive Rezeption spiegelt sich auch in der Präsenz Jüngers in dem 2006 erschienenen Standardwerk zu dem Thema Looking for Europe. Neofolk und Hintergründe. Darin findet sich etwa im Anhang ein 30seitiger Essay mit dem Titel „Abenteuerliche Herzen – Das Individuum bei Nietzsche, Evola und Jünger”, der sich etwa zur Hälfte mit Jünger auseinandersetzt. Der – zugegeben eher miserable – Text von Patrick Achermann hebt die Wichtigkeit des Individualismus für die Neofolk-Musiker und ihre Fans hervor, und unterstreicht zu Recht, daß die Figuren des „Anarchen” und des „Waldgängers”, die eine subversive Widerstandstätigkeit implizieren, zentrale Modelle für deren Selbstverständnis sind. Die „individualismusbetonte” Deutung geht einher mit der Entpolitisierung des Zugangs: „Jünger zu lesen ist also zunächst ein Eintauchen in eine Flut aus Farben, Formen und Gestalten.” Dergleichen hat den Neofolk-Hardliner Josef Klumb („Von Thronstahl”) zu einem Spottlied bewegt: „Sie wollen nicht Anstoß erregen, man macht es sich bequem (…). Sie beugen sich jeder Kontrolle und üben Selbstzensur. Sie haben nichts zu vertreten, sie musizieren ja nur.(…) Eine Prise Ernst Jünger, ein wenig konservativ, / bequeme Bleichgesichter, die ich im Leben nie rief.”)
Ist nun Jünger, zumindest für eine Minderheit, zur „cultural icon” geworden? Für die Neofolk-Szene ist er die ideale Ikone, ein Dichter in Uniform, der sich auch völlig unpolitisch aufnehmen läßt, von einer schneidigen, „verbotenen” Aura umgeben – aber eben kein Nazi -, mit Zugangstoren zur Schwarzen Romantik, zum Surrealen, Magischen und Mythischen. Er ist tatsächlich eine „Verständigungs-Ikone”, ein Idol geworden, das ein ganzes Lebensgefühl kodiert. Die Szene erstreckt sich von Rußland bis Portugal, von Skandinavien bis Israel und die USA, ist mithin eine äußerst vitale Subkultur, die weite Felder im „metapolitischen” Raum besetzt hat. Es gibt in der Tat wenige Dichter, die eine solche Reverenz einer Jugend- und Musikkultur erwiesen bekommen haben wie Jünger, und der Einfluß seines Werkes ist ständig am Wachsen. Ochsenreiter und Hatzenbichler mögen recht gehabt haben, als sie in ihrem Nachruf schrieben: „Jünger ist ein Autor für die Menschen, die tatsächlich im Hier und Jetzt leben”, wobei zu ergänzen wäre: die sich aber gleichzeitig der mythenlosen „Totalherrschaft der Gegenwart” (Botho Strauß)