„Ich glaube”, sagte Jünger 1973, „die Franzosen wissen es zu schätzen, wenn ein Deutscher sich als solcher gibt, statt sich um jeden Preis ein Gesicht verleihen zu wollen, das nicht das seine ist.”
Freilich wurde ihm diese Berühmtheit lange Zeit nur um den Preis eines gewissen Mißverständnisses zuteil. Zumindest bis ungefähr 1975 nahmen die Franzosen Jünger als eine Figur wahr, die ausschließlich der literarischen Welt angehörte. Zwar wußte man selbstverständlich um den zeitgeschichtlichen Hintergrund, vor dem sein Werk entstanden war, doch wurde Jünger nicht als ein Mann jener Jahre gesehen. Von seinem Aufenthalt in Paris als Angehöriger der Besatzungsmacht waren hauptsächlich die literarischen Kontakte in Erinnerung geblieben, die er vor allem in Florence Goulds Salon knüpfte (Jean Cocteau, Paul Morand, Pierre Drieu La Rochelle, Sacha Guitry, Jean Giraudoux, Henry de Montherlant, Jean Schlumberger, etc.). Hatte Jünger seinerseits Paris nicht als „große Bücherstadt” gepriesen? Der breiten Öffentlichkeit in Frankreich jedenfalls waren die politischen Schriften seiner Jugend völlig unbekannt. Auch Namen wie Franz Schauwecker, Hugo Fischer, Ernst Niekisch, Friedrich Hielscher, ja selbst Carl Schmitt sagten ihr nichts. Kurzum, Jünger kannte man einzig und allein als Schriftsteller. Jünger selber war das offenbar durchaus recht. Indem er sich gegen eine Übersetzung des Arbeiters, seines großes Werks von 1932, sperrte, trug er sogar seinen Teil dazu bei, daß es so blieb.
Indes übten gerade die nicht ins französische übersetzten Bücher, die schon deshalb eine Art mythische Aura umgab, eine große Faszination auf die Nouvelle Droite aus. In den frühen sechziger Jahren kannte auch ich von Jünger nur die bereits auf Französisch erschienenen Bücher. Natürlich hatte ich seine Prosa aus dem Ersten Weltkrieg gelesen, doch anders als manche meiner Freunde hatte ich diese Lektüre nicht als Erweckungserlebnis empfunden, was zweifellos an meinem mangelnden Interesse an militärischen Dingen lag! Stärker hatten mich Sur les falaises de marbre (Auf den Marmorklippen) und Jeux africains (Afrikanische Spiele) beeindruckt, ebenso Héliopolis und erst recht Traité du Rebelle ou le recours aux forêts (Der Waldgang). L’Etat universel (Der Weltstaat) hingegen fand ich eher abstoßend.
Die Entdeckung des „anderen Jünger” verdanke ich eindeutig meinem Freund Armin Mohler. Dessen Handbuch Die Konservative Revolution, das ich mit den spärlichen Bruchstücken deutscher Sprachkenntnis zu entziffern versuchte, über die ich damals verfügte, erlebte ich als Offenbarung. Nirgendwo in dieser weitläufigen Bewegung mit ihren unzähligen Verästelungen gewahrte ich eine geistige Strömung, die dem Nationalsozialismus als Wegbereiter hätte dienen können, wie bisweilen behauptet wurde. Im Gegenteil erschien sie mir als eine alternative Denkströmung, deren Weiterentwicklung und bessere Strukturierung der Welt womöglich die Hitlersche Katastrophe erspart hätte.
In meinen Gesprächen mit Armin Mohler fiel immer wieder der Name Ernst Jüngers, für den er in der Nachkriegszeit bekanntlich als Privatsekretär gearbeitet hatte. Aufgrund dieser Erfahrung hatte er ein recht gespaltenes Verhältnis zu Jünger. Während mir selber die jungkonservative Bewegung politisch und intellektuell am interessantesten schien, machte Mohler kein Hehl aus seiner Präferenz für die nationalrevolutionäre Strömung. Ich hatte stärkere Vorbehalte gegen die Begriffe „Nation” und „Bewegung” als er, doch läßt sich nicht bestreiten, daß mir die Idee der Revolution verführerisch in den Ohren klang. Von Mohler erfuhr ich, daß Jünger an „neonationalistischen” oder bündischen Publikationen wie Arminius, Die Standarte oder Die Kommenden mitgearbeitet, daß er den Arbeiter und Die totale Mobilmachung geschrieben und daß er dem „Nationalbolschewisten” Ernst Niekisch nahegestanden hatte. Zur selben Zeit entdeckte ich auch die Zeichnungen von A. Paul Weber, die einen ungeheuren Eindruck hinterließen. Heute kennt man das alles, damals war es jedenfalls für mich etwas vollkommen Neues.
Diese Entdeckungen mochte ich nicht für mich behalten. Immer wieder las ich mich in Mohlers Handbuch fest und schwor, daß es mir eines Tages gelingen würde, es in französischer Übersetzung zu veröffentlichen (dieser Plan ließ sich 1993 verwirklichen). Als erste Frucht dieser Bemühungen konnte ich die Neuauflage eines der wenigen Texte herausbringen, die in Frankreich zum Arbeiter erschienen waren, Marcel Decombis’ Ernst Jünger et la „Konservative Revolution”. Une analyse de „Der Arbeiter” (GRECE, Paris 1973). Verleger war der Groupement d’études et de recherche pour la civilisation européenne, der wichtigste Verband einer Bewegung, die sich damals noch nicht als Nouvelle Droite bezeichnete. (Ursprünglich war der Begriff Nouvelle Droite keine Selbstbezeichnung. Er wurde 1979 von den Medien erfunden, um eine geistige Strömung zu beschreiben, die damals bereits seit über zehn Jahren existierte. Aus ebendiesem Grund und im Bewußtsein der damit verbundenen Mißverständnisse vermeide ich selber es nach Möglichkeit, ihn zu verwenden.)
Diese Schrift eines bereits verstorbenen Ger- manisten wurde ergänzt um eine knappe Bibliographie und ein eigens für diese Auflage von Armin Mohler verfaßtes Vorwort. Dort stellte er Jüngers Werk als „eines der wenigen großen Bücher dieses Jahrhunderts” vor, aber auch als „erratischen Block” innerhalb seines gesamten Œuvre, dessen Erscheinen 1932 ein „außergewöhnliches Ereignis” gewesen sei. Über den Arbeiter und die erste Fassung des Abenteuerlichen Herzens sollte er später sagen: „Noch heute kann meine Hand diese Werke nicht greifen, ohne daß sie zu zittern anfinge.”
Außerdem bekräftigte Mohler in seinem Vorwort gleich mehrmals, Der Arbeiter sei „unübersetzbar”. Dennoch wurde er 1989 schließlich von Julien Hervier übersetzt. Der Erregungssturm, den Jünger befürchtet hatte, blieb übrigens weitgehend aus.
Nie hätte ich erwartet, den Schriftsteller eines Tages persönlich kennenzulernen. Doch am 15. Mai 1977, als ich im Namen sowohl des Figaro-Magazine wie des Verlages Copernic, der dort einen Stand hatte, am Internationalen Festival des Buches in Nizza teilnahm (mein Buch Vu de droite wurde bei diesem Anlaß mit dem Großen Essaypreis der Académie française ausgezeichnet), hörte ich plötzlich, wie jemand meinen Namen rief. Ich drehte mich um und sah einen Mann von mittlerer Größe, sehr aufrechter Haltung und dichten weißen Haaren, der eine Weste aus Velours und einen eleganten Rollkragenpullover trug und den ich absolut nicht erkannte. „Guten Tag”, begrüßte er mich. „Ich bin Ernst Jünger.” Nachdem ich meine Sprache wiedergefunden hatte, unterhielten wir uns über eine Stunde lang. Wir ließen uns fotografieren – ein großartiges An-denken an diesen Tag.
Mit der Zeit, fast zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Marcel Decombis’ Studie, hatte ich genügend wichtiges Material über die „politische” Periode des jungen Ernst Jünger zusammengetragen, um nun selber einen Aufsatz zum Arbeiter zu verfassen. Eine erste Fassung erschien Ende 1981 in der Zeitschrift Eléments, eine weitere, sehr viel ausführlichere zwei Jahre später in Nouvelle Ecole. Tatsächlich hatte diese zweite Fassung, gefolgt von der Übersetzung eines im Oktober 1932 im Widerstand veröffentlichten Artikels von Ernst Niekisch („Zu Ernst Jüngers neuem Buche”), den Umfang einer Monographie. Erst in Spanien, dann in Italien erschienen später Übersetzungen in Buchform.
Mein Bestreben war nicht nur, die wichtigsten in Jüngers Buch enthaltenen Gedanken und Begriffe vorzustellen und den Lebensweg des Schriftstellers zwischen 1920 und 1930 nachzuzeichnen, um dem Leser einige Anhaltspunkte zur Geschichte der nationalrevolutionären Bewegung zu geben. Darüber hinaus wollte ich zeigen, wie die „Problematik des Arbeiters” in immer neuen Formen Jüngers weiteres Schaffen durchzog. Besonders offensichtlich schien mir dies für die Entwicklung seiner Ideen zur Technik zu gelten, die ganz unter dem Einfluß seines Bruders Friedrich Georg Jünger stand. Ich stellte den Arbeiter als ein zum Verständnis einer Übergangsepoche, des „Interregnum” zwischen der Herrschaft der Titanen und jener der Götter, unverzichtbares Buch dar. Dabei bezog ich mich immer wieder auf das Denken Carl Schmitts und die Philosophie Martin Heideggers, mit denen ich mich ebenfalls eingehend befaßt hatte.
Zu seinem 90. Geburtstag am 29. März 1985 – tags zuvor hatte ich an einer öffentlichen Konferenz in Saint-Etienne teilgenommen – schickte ich dem Schriftsteller ein Glückwunschtelegramm. Er bedankte sich mit einem kurzen handschriftlichen Brief, dem er ein Foto angeheftet hatte. Zehn Jahre später, am 25. März 1995, schrieb ich ihm einen Brief, der nur einen einzigen Satz enthielt: „Danke, daß Sie leben.” Zur Feier dieses Hundertsten veranstaltete der Club de Mille (eine Organisation zur finanziellen Unterstützung der Nouvelle Droite) am 21. Juni ein Fest zu seinen Ehren.
Im Folgejahr beschloß ich, Jünger eine gesamte Ausgabe der Nouvelle Ecole zu widmen. Mein Editorial dazu begann mit den Worten: „Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert, in dem der Nobelpreis nicht an Ernst Jünger verliehen wurde. Auch so kann man es definieren.” Das Heft enthielt ein Interview mit Ernst Jünger, das sein spanischer Übersetzer Andrés Sánchez Pascual geführt hatte, Aufsätze von Armin Mohler, Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Werner Bräuninger, Marcus Beckmann sowie – im Sinne einer Dokumentation – Übersetzungen von Texten von Friedrich Hielscher, Albrecht Erich Günther, Ernst Niekisch und Friedrich Sieburg.
Jünger schien Unsterblichkeit erlangt zu haben! Ende 1997 veröffentlichte ich eine Bibliographie seines Gesamtwerkes in einem Verlag, der mutig (oder leichtsinnig) genug war, um derartige Werke herauszubringen, die nur bei einem ziemlich begrenzten Leserpublikum Anklang fanden. Von dieser Bibliographie, mit der ich nie ganz zufrieden war, sollte eigentlich eine beträchtlich erweiterte Neuauflage erscheinen, an der ich mehrere Jahre lang gearbeitet habe. Dieses Vorhaben gab ich auf, als Nicolai Riedel, ein würdiger Nachfolger von Hans-Peter des Coudres und Horst Mühleisen, 2003 die seine veröffentlichte. (Seither hat sich meine Arbeit als Bibliograph eher auf Carl Schmitt konzentriert!) Im ersten Teil schilderte ich die wichtigsten Etappen in Jüngers Leben. Im Jahr 1997 angekommen, schrieb ich: „Nunmehr in seinem 103. Lebensjahr schreibt Jünger weiterhin.” Leider, leider verstarb er wenige Monate später, am 17. Februar 1998. Ich gedachte seiner in einem Nachruf, den Radio-Courtoisie am 7. März sendete.
Seit seinem Tod ist das wissenschaftliche Interesse an Jünger größer als je zuvor. Bereits am 7. November hatte ich an einer Jünger-Tagung teilgenommen, die unter dem Titel „Due volte la cometa” an der Universität La Sapienza in Rom stattfand: eine Anspielung darauf, daß der Halleysche Komet zu Lebzeiten des Schriftstellers zweimal von der Erde aus zu sehen war. Als Höhepunkt der großen Jünger-Tagung in Mailand vom 20. bis 24. Oktober 2000 hatte ich vor einem Konzert von Ricardo Mutti in der Scala Gelegenheit, mit Nicolai Riedel Bekanntschaft zu schließen. Im Anschluß an eine „Pilgerreise” entlang dem Chemin-des-Dames nahm ich überdies am 8. November 1998 in Laon an einer Tagung zu Jünger und dem Ersten Weltkrieg teil, bei der auch Danièle Beltran-Vidal, François Poncet, Isabelle Rozet, Olivier Aubertin, Manuela Alessio unter den Anwesenden waren.
Meine Bewunderung für Jünger – für den Menschen selber wie für sein Werk – ist immer noch so stark wie eh und je. Womöglich hat sich ihre Ausrichtung aber ein wenig geändert. Dreißig Jahre lang begeisterte ich mich für den „ersten” Jünger, jenen der zwanziger und dreißiger Jahre. Mit der Zeit und wohl auch mit zunehmendem Alter bin ich zunehmend empfänglich geworden für den „zweiten” – für den Anarchen mehr als den Rebellen, für den „unzeitgemäßen” Denker, der weil er sehr hoch gestiegen war, auch sehr weit sehen konnte.
Eine sehr persönliche Erinnerung möchte ich noch ergänzen. Am 6. Februar 1993 war ich zu einer Debatte in Berlin eingeladen. Zu meiner äußerst unangenehmen Überraschung wurde ich von einer Gruppe junger militanter „Autonomer” – Anhängern eines archaischen „Antifaschismus”, die nicht einmal wußten, daß ich sich mein Beitrag zu der Debatte gegen Fremdenfeindlichkeit richten sollte! – buchstäblich entführt, körperlich angegriffen und sogar geprügelt. Die Nacht verbrachte ich auf dem Polizeirevier, wo man mich aufforderte, meine Angreifer anhand von Fotos zu identifizieren. Ich erkannte sie mit absoluter Gewißheit, verweigerte aber die Aussage. Mit der Polizei kollaboriere ich nicht.
Als ich wieder zu Hause in Paris angekommen war, erhielt ich einen Anruf von Armin Mohler. Er wollte mir mitteilen, daß Jünger, der von dem Vorfall erfahren hatte, sich umgehend bei ihm nach meinem Befinden erkundigt habe. Diese Anteilnahme rührte mich ungemein.
Ernst Jünger gehört wahrscheinlich nicht zu den Autoren, auf die sich die Nouvelle Droite am häufigsten bezieht. Außer Zweifel steht jedoch, wie aus dem Vorangegangenen klargeworden sein sollte, daß er eine große Bedeutung für sie hat.
Heutzutage ist es nicht mehr nötig, das Jünger-Bild der Franzosen zu „vervollständigen”, wie ich es mir einst zum Ziel setzte. Die vielfältigen Aspekte seines Werkes sind längst wohlbekannt. Ähnlich wie Schmitt und Heidegger oder auch Mircea Eliade fiel auch Jünger zeitweise einer denunziatorischen Kritik anheim. Erhoben wurde sie von sektiererischen Köpfen, die sich nicht nur in der Epoche irrten, sondern Jünger nur lasen, um zu Schlußfolgerungen zu kommen, die den Vorurteilen entsprachen, mit denen sie die Lektüre begonnen hatten. Derartige Verwerfungen blieben jedoch die Ausnahme. Freilich, es kommt allzu selten vor, daß einer der gerade angesagten Intellektuellen Jünger zitiert: Wer hören will, wie Intellektuelle des gesamten Meinungsspektrums von rechts bis links ständig Jünger (oder auch Schmitt und Heidegger) im Munde führen, muß heutzutage nach Italien reisen. Nichtsdestotrotz hat der Autor von Eumeswil und Chasses subtiles (Subtile Jagden) in Frankreich eine sehr große und treue Leserschaft.
Inzwischen liegen so gut wie alle Bücher Jüngers in französischer Übersetzung vor. Sie erscheinen in den größten Verlagen, und die meisten von ihnen werden ständig neuaufgelegt. Eine Neuauflage seiner Kriegstagebücher (Strahlungen) wird dieser Tage bei Gallimard in der renommierten „Pléiade”-Reihe herauskommen, versehen mit einem ausführlichen kritischen Anmerkungsapparat von Julien Hervier, der überdies eine Sammlung von Interviews mit Jünger herausgegeben hat. Für die Koordinierung wissenschaftlicher Arbeiten zu Jünger ist ein Forschungs- und Dokumentationszentrum (CERDEJ) unter Leitung von Danièle Beltran-Vidal zuständig, das seit Dezember 1996 die Carnets Ernst Jünger als Jahrbuch veröffentlicht. Was nach wie vor fehlt, ist eine französische Gesamtausgabe der politischen Artikel aus seiner Jugendzeit (in Italien sind sie vor kurzem in drei Bänden erschienen) und der Korrespondenz (wie gern sähe man eine Veröffentlichung der Briefwechsel mit Schmitt, Heidegger, Hielscher, Gottfried Benn und Gerhard Nebel!) sowie eine „definitive” Biographie, wie sie Heimo Schwilk kürzlich in Deutschland fertiggestellt hat.
Sehr sonderbar ist auch, daß kein einziges Buch von Friedrich Georg Jünger jemals vollständig ins Französische übersetzt worden ist. In Anbetracht all seiner Beziehungen zu Verlegerkreisen hätte Ernst Jünger meines Erachtens ohne weiteres dafür sorgen können, daß einige Werke seines Bruders in Frankreich veröffentlicht werden. Wenn ich mich nicht irre, hat er sich niemals darum bemüht. Ich habe mich schon oft gefragt, warum nicht.
In diesem Jahr wäre Ernst Jünger 113 geworden. „Die stillen Revolutionen sind die wirksamsten”, hat er gesagt. In dieser Stille muß man ihn lesen.