eingekerkert und verhört. Zwischen 1998 und 2005 (Jahrzehnte nach den Ereignissen also) erschienen seine drei Romane, in denen er Kindheit, Jugend und Haft unter der Frage darstellt, wie ihm dies hatte widerfahren können. Über etwas anderes als dieses »Lebensthema« hat Schlattner nicht geschrieben, und er ist seit dem herausragenden Rote Handschuhe auch fertig damit.
Oder Gert Ledig? Er hat zwischen 1955 und 1957 in seinen Büchern Stalinorgel, Vergeltung und Faustrecht zu Krieg und Nachkrieg auf krasse Weise gesagt, was er zu sagen hatte – stieß auf Unverständnis und schwieg danach, schrieb auch nichts Neues mehr, als er kurz vor seinem Tod wiederentdeckt wurde.
15 Jahre jünger als Ledig ist Theodor Buhl (1936 in Schlesien geboren). Er hat ein halbes Jahrhundert lang mit der Veröffentlichung seines Werkes gewartet: Winnetou August ist ein autobiographischer Roman über das Durchkommen in Flucht und Vertreibung, und obwohl er diese deutsche Katastrophe, sein Lebensthema, so meisterlich faßt, wird er landauf, landab in den Feuilletons als Entdeckung gefeiert.
Buhl hat seine Kindheit in Schlesien verbracht, floh mit Mutter und Bruder vor der Roten Armee bis Dresden, überlebte dort in einem Vorort die Bombardierung der Stadt, zog durch die besetzte Heimat zurück bis Bunzlau und wurde nach einem Jahr endgültig vertrieben. Geschildert wird also etwa aus den Jahren 1930 bis 1946, der Ton ist lakonisch, nicht ohne Witz, und die Perspektive ist konsequent auf das verengt, was der heranwachsende Bub und sein älterer Bruder sich aus Erwachsenengesprächen und eigenen Beobachtungen zu einer Wirklichkeitsdeutung zusammenbasteln können.
Der eigentliche Held ist der Vater, den der Ich-Erzähler (das Kind) nur August nennt: aus dem I. Weltkrieg versehrt heimgekehrt, nicht der beste denkbare Ehemann, manchmal ein Prahlhans, latenter Alkoholiker – aber dann, als das Chaos ausbricht, so zäh, geschickt, unerbittlich, daß seine Söhne immer hoffen, Vater August möge in der Nähe sein. Neben ihm verblaßt sogar Winnetou, der lupenreine Held: Seiner edlen Seele fehlt Augusts Dimension einer Überlebens-Verschlagenheit, überhaupt wird der ganze Karl May (den die Knaben im Chaos um die Wette lesen) übertroffen von dem, was erlebt werden muß und wovon man die Augen nicht wenden kann.
Denn darauf steuert das ganze Buch zu: auf die unmittelbaren Vorgänge der Vertreibung (die Vergewaltigungen, Folterungen, Erschießungen), von denen es kaum veröffentlichte Bilder gibt. Vielleicht lagern sie in Archiven.
In einem Interview erklärt Buhl, warum er, der kindliche Augenzeuge, nicht den dokumentarischen Bericht, sondern ausgerechnet die literarische Sprache als Mitteilungsform gewählt und bis an die Grenze des Erträglichen ausgeschöpft habe: »Dokumente überdauern in Archiven – Romane, wenn sie ihre Leser finden, in den Köpfen.«
Buhl will etwas verankern, er hält die »europäische Versöhnung« für unvollendet, »solange nicht auch die Opfer der deutschen Zivilbevölkerung ein Gesicht und eine Stimme haben.« Wo nun Buhl von den Vergewaltigungen und Greueln der Sowjetsoldaten schreibt oder den Blick auf die vorüberziehenden und in der Januarkälte erfrierenden schlesischen Flüchtlinge richtet, erhalten diese Opfer ein Gesicht und eine Stimme, und der Text wird zu einem Höllengemälde. Davon muß hier nun einiges zitiert werden:
Im Durchgang zu den Ställen liegt ein Haufen Kleider mit zwei steif gestreckten nackten Beinen. An denen überall am Fleisch sind rote Kratzer – und zwischen den Beinen ist Blut. Der Haufen Kleider ist ein Rock. Der Rock ist hochgezogen und zugebunden wie ein Sack. Im Sack drin sind die Arme und der Kopf.
Die beiden in der Schlachterkammer waren tot, das konnte man sofort erkennen. Die Körper lagen auf dem Tisch, die eine mit dem Rücken, die andre umgekehrt. Die Beine hingen von der Kante runter, die Hände waren an den Tisch gebunden. Man konnte sie nur einen Augenblick lang sehen, die knallten gleich die Tür von innen zu, kaum daß sie uns entdeckten. Zwischen den gespreizten Beinen hat bei jeder eine Mistgabel gestanden, die Zinken auf dem Boden. Die waren mit den Stielen reingesteckt gewesen. Weil man es nicht richtig hatte sehen können, hat man es sich immer wieder vorgestellt.
Es gibt keinen Zweifel: Buhl möchte, daß wir uns das ab jetzt auch immer wieder vorstellen, weil wir es nicht richtig haben sehen können oder – sollen: Es waren und sind die »Wolkenschieber« und »Nebelwerfer« (so jüngst Martin Walser in einer Rede auf Ernst Jünger) in den Medien, den diversen Gruppen 47, auf den Hochstühlen und den Stiftungsratposten, die die Bilder unserer Opfer in die Archive verbannten. Theodor Buhl hat sie sprachgewaltig zurückgeholt.
(Theodor Buhl: Winnetou August. Roman, Eichborn: Frankfurt 2010. 320 S., 19.95 €)