Auch wenn es noch zahlreiche Werte-Alternativen gibt, will ich dieses Thema nicht überstrapazieren und nur noch auf eine Alternative hinweisen, …
… die sich erst auf den zweiten Blick als eine solche enthüllt: die Grenzsituationen. Karl Jaspers hat diesen Begriff in die Philosophie eingeführt und meinte damit unwandelbare Situationen, denen der Mensch ausgeliefert ist: Leiden, Kampf, Zufall, Tod und Schuld.
Im Gegensatz zur Situation, die sich verändern kann, bleiben Grenzsituationen unwandelbar, sie ändern nur ihre Erscheinung. In ihnen zeigt sich der Mensch unverhüllt. Das Wissen um meinen unausweichlichen Tod erfordert die Tapferkeit, sich den Tod nicht durch sinnliche Jenseitsvorstellungen zu verharmlosen. Doch wieso leben und arbeiten, wenn wir doch sterben müssen? Weil nur der sich seiner Sterblichkeit bewußt sein kann, wer lebt und damit als Mensch in irgendeiner Weise auch arbeitet. Daß der Tod zwangsläufig zum Leben gehört, ist theoretisch leicht einzusehen. Daß er jedoch auch notwendig dazu gehört, ist wissenschaftlich nicht zu begründen.
Im Tod endet das Leben, es hat sich vollendet. Vollendung ist demzufolge das Ende des Lebens, so daß alles Erreichte wie tot erscheint. Daher kann auch die Flucht in den Tod als eine Flucht aus der Grenzsituation des Leides verstanden werden. Hier ist die Antwort auf die Frage, wieso man im Leben nicht rücksichtslos seinen Vorteil suchen soll, verborgen: Weil mein Mitmensch leidet. Das kann ich nur wissen, wenn ich selbst dem Leiden nicht verneinend gegenüberstehe und es als Bestandteil des Lebens akzeptiert habe. Das heißt, das Leben sehen, wie es ist, nüchtern und realistisch: „Jeder hat zu tragen und zu erfüllen, was ihn trifft. Niemand kann es ihm abnehmen.”
Hinter Jaspers’ Lehre von den Grenzsituationen steht die Erfahrung der antinomischen Struktur der Wirklichkeit, wie sie bereits in der griechischen Tragödie zum Ausdruck kommt: kein Handeln ohne Schuld, keine Erfüllung ohne Leid, keine Leben ohne Tod, kein Frieden ohne Kampf, kein Sinn ohne Zufall. Es ist unmöglich, sich Grenzsituationen objektiv zu vergegenwärtigen als ob sie mich nicht betreffen würden. Man kann ihnen nur ausweichen, wenn man sich von der eigentlich menschlichen Fähigkeit, sich ergreifen zu lassen, verabschiedet hat.