Werte-Alternative: Grenzsituationen erfahren

Auch wenn es noch zahlreiche Werte-Alternativen gibt, will ich dieses Thema nicht überstrapazieren und nur noch auf eine Alternative hinweisen, ...

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Auch wenn es noch zahl­rei­che Wer­te-Alter­na­ti­ven gibt, will ich die­ses The­ma nicht über­stra­pa­zie­ren und nur noch auf eine Alter­na­ti­ve hinweisen, …

… die sich erst auf den zwei­ten Blick als eine sol­che ent­hüllt: die Grenz­si­tua­tio­nen. Karl Jas­pers hat die­sen Begriff in die Phi­lo­so­phie ein­ge­führt und mein­te damit unwan­del­ba­re Situa­tio­nen, denen der Mensch aus­ge­lie­fert ist: Lei­den, Kampf, Zufall, Tod und Schuld.

Im Gegen­satz zur Situa­ti­on, die sich ver­än­dern kann, blei­ben Grenz­si­tua­tio­nen unwan­del­bar, sie ändern nur ihre Erschei­nung. In ihnen zeigt sich der Mensch unver­hüllt. Das Wis­sen um mei­nen unaus­weich­li­chen Tod erfor­dert die Tap­fer­keit, sich den Tod nicht durch sinn­li­che Jen­seits­vor­stel­lun­gen zu ver­harm­lo­sen. Doch wie­so leben und arbei­ten, wenn wir doch ster­ben müs­sen? Weil nur der sich sei­ner Sterb­lich­keit bewußt sein kann, wer lebt und damit als Mensch in irgend­ei­ner Wei­se auch arbei­tet. Daß der Tod zwangs­läu­fig zum Leben gehört, ist theo­re­tisch leicht ein­zu­se­hen. Daß er jedoch auch not­wen­dig dazu gehört, ist wis­sen­schaft­lich nicht zu begründen.

Im Tod endet das Leben, es hat sich voll­endet. Voll­endung ist dem­zu­fol­ge das Ende des Lebens, so daß alles Erreich­te wie tot erscheint. Daher kann auch die Flucht in den Tod als eine Flucht aus der Grenz­si­tua­ti­on des Lei­des ver­stan­den wer­den. Hier ist die Ant­wort auf die Fra­ge, wie­so man im Leben nicht rück­sichts­los sei­nen Vor­teil suchen soll, ver­bor­gen: Weil mein Mit­mensch lei­det. Das kann ich nur wis­sen, wenn ich selbst dem Lei­den nicht ver­nei­nend gegen­über­ste­he und es als Bestand­teil des Lebens akzep­tiert habe. Das heißt, das Leben sehen, wie es ist, nüch­tern und rea­lis­tisch: „Jeder hat zu tra­gen und zu erfül­len, was ihn trifft. Nie­mand kann es ihm abnehmen.”

Hin­ter Jas­pers’ Leh­re von den Grenz­si­tua­tio­nen steht die Erfah­rung der anti­no­mi­schen Struk­tur der Wirk­lich­keit, wie sie bereits in der grie­chi­schen Tra­gö­die zum Aus­druck kommt: kein Han­deln ohne Schuld, kei­ne Erfül­lung ohne Leid, kei­ne Leben ohne Tod, kein Frie­den ohne Kampf, kein Sinn ohne Zufall. Es ist unmög­lich, sich Grenz­si­tua­tio­nen objek­tiv zu ver­ge­gen­wär­ti­gen als ob sie mich nicht betref­fen wür­den. Man kann ihnen nur aus­wei­chen, wenn man sich von der eigent­lich mensch­li­chen Fähig­keit, sich ergrei­fen zu las­sen, ver­ab­schie­det hat.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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