Mitbürger mit Wut im Hintergrund

Wutbürger ist nun also seit wenigen Tagen das Wort des Jahres 2010. Auf die folgenden Plätze haben es Stuttgart 21, Sarrazin-Gen, Cyberkrieg und Wikileaks geschafft.

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

Die Gesell­schaft für deut­sche Spra­che begrün­de­te die Wahl damit, daß die­se Neu­bil­dung von zahl­rei­chen Medi­en benutzt wur­de, „um einer Empö­rung in der Bevöl­ke­rung dar­über Aus­druck zu geben, dass poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen über ihren Kopf hin­weg getrof­fen werden.“

Das selt­sa­me an die­sem Wut­bür­ger ist, wie anonym er bleibt. Wer könn­te damit gemeint sein? Die WELT meint, er sei „Der gro­ße Unbe­kann­te“, der stern fragt „Deutsch­land einig Wut­bür­ger­land?“ und die FAZ bringt es auch nicht zustan­de, Bei­spie­le zu nen­nen. Es bleibt auch dort bei vagen Umschreibungen:

„Er buht, schreit, hasst“, weiß sein Vater, der Jour­na­list Dirk Kurb­ju­weit. Der Wut­bür­ger ist kon­ser­va­tiv, wohl­ha­bend und nicht mehr ganz jung. Er hat ein Herz für den Juch­ten­kä­fer und die Bau­ern im Wend­land. Frü­her war er ein­mal links, dann stieg er in die Halb­hö­hen­ge­sell­schaft auf.

Die übli­chen Ver­däch­ti­gen fal­len bei der Prü­fung der Wut­bür­ger-Eigen­schaf­ten alle­samt durch: Sar­ra­zin trägt in aller Ruhe sei­ne Zah­len vor. Einen wüten­den Ein­druck ver­mit­telt er aber nicht. Sicher­lich sind sei­ne Leser Wut­bür­ger, die bei sei­nen öffent­li­chen Auf­trit­ten fre­ne­tisch los­klat­schen, wenn der ehe­ma­li­ge Bun­des­ban­ker nach sei­nen Sta­tis­tik-Exkur­sio­nen auf den Punkt kommt und gegen Ver­dum­mung, Über­frem­dung und Inte­gra­ti­on­s­pan­nen wet­tert. Aus die­ser Mas­se an unschein­ba­ren Unter­stüt­zern tritt aber kaum jemand her­vor. Es fehlt also immer noch das Gesicht zum Wutbürger.

Im Sep­tem­ber erleb­te ich in Ber­lin, wie sich eine gro­ße Schar von Atom­kraft­geg­nern auf eine Demons­tra­ti­on vor­be­rei­te­te. Haupt­säch­lich han­del­te es sich um klei­ne Fami­li­en. Auf­fal­lend war ins­be­son­de­re, daß der müde alter­na­ti­ve Papi sei­ne ein bis zwei Kin­der mit­ge­bracht hat­te, damit die­se den „Atom­kraft – Nein Danke!“-Luftballon hal­ten. Sind das die Wut­bür­ger? Nein, das paßt auch nicht.

Mir fällt eigent­lich nur ein pro­mi­nen­ter Wut­bür­ger ein, der dazu alle Eigen­schaf­ten mit­bringt, aber mit Poli­tik nicht viel am Hut hat: der ehe­ma­li­ge Fuß­ball­ma­na­ger Rai­ner „Cal­li“ Cal­mund. Sei­ne auf­brau­sen­de Art, die kla­ren Wor­te – „Tache­les“ eben, wenn ande­re ver­su­chen, die Kri­se wegzureden.

Laßt uns jedoch nicht kla­gen! Es gab schon schlim­me­re Sor­ten von Wut in die­sem Land. Im „Auf­stand der Anstän­di­gen“ zeig­te sich vor zir­ka zehn Jah­ren ein Bun­des­prä­si­dent „tief betrof­fen vor Scham und Wut“. Die kon­ser­va­ti­ve Ant­wort dar­auf erfolg­te zwei Jah­re spä­ter, als ein noch heu­te in Talk­shows gern gese­he­ner Publi­zist die Bür­ger auf die Bar­ri­ka­den rief. Schnell stell­te sich her­aus, daß dies wohl mehr als Wort­spiel – viel­leicht sogar mit Ambi­tio­nen auf das Wort des Jah­res – gemeint war und dem Auf­ruf die letz­te Kon­se­quenz fehlte.

Die Wut­bür­ger, wo sind sie also? Die Zeit­schrift eigen­tüm­lich frei spricht in ihrer aktu­el­len Aus­ga­be davon, der Pro­test (Anti-AKW-Bewe­gung, Stutt­gart 21) sei nur insze­niert. Nicht die Wut der Bür­ger wäre dem­nach aus­schlag­ge­bend son­dern die Pro­fes­sio­na­li­tät der NGOs. Das ist ein wich­ti­ges Argu­ment und erklärt, war­um lin­ker Pro­test poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen beein­flus­sen kann bzw. zumin­dest so wirk­mäch­tig ist, daß ein „Media­tor“ geru­fen wird. Die ten­den­zi­ell „rech­ten“ Wut­bür­ger, die mit Sar­ra­zins Deutsch­land schafft sich ab ihr Erwe­ckungs­er­leb­nis hat­ten, tre­ten hin­ge­gen unor­ga­ni­siert auf und blei­ben so wei­test­ge­hend einflußlos.

Der Wut­bür­ger, er ist ein recht durch­schnitt­li­ches Wesen. Er pro­tes­tiert mit, wenn der Nach­bar auch mit­macht. Er hält sei­ne Wut unter Ver­schluß, solan­ge eine öffent­li­che Mei­nungs­kund­ge­bung sei­nem Anse­hen scha­den könn­te. Kurz und gut: Wir soll­ten den Wut­bür­ger lie­ber „Mit­bür­ger mit Wut im Hin­ter­grund“ nennen.

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

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