Die Gesellschaft für deutsche Sprache begründete die Wahl damit, daß diese Neubildung von zahlreichen Medien benutzt wurde, „um einer Empörung in der Bevölkerung darüber Ausdruck zu geben, dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden.“
Das seltsame an diesem Wutbürger ist, wie anonym er bleibt. Wer könnte damit gemeint sein? Die WELT meint, er sei „Der große Unbekannte“, der stern fragt „Deutschland einig Wutbürgerland?“ und die FAZ bringt es auch nicht zustande, Beispiele zu nennen. Es bleibt auch dort bei vagen Umschreibungen:
„Er buht, schreit, hasst“, weiß sein Vater, der Journalist Dirk Kurbjuweit. Der Wutbürger ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr ganz jung. Er hat ein Herz für den Juchtenkäfer und die Bauern im Wendland. Früher war er einmal links, dann stieg er in die Halbhöhengesellschaft auf.
Die üblichen Verdächtigen fallen bei der Prüfung der Wutbürger-Eigenschaften allesamt durch: Sarrazin trägt in aller Ruhe seine Zahlen vor. Einen wütenden Eindruck vermittelt er aber nicht. Sicherlich sind seine Leser Wutbürger, die bei seinen öffentlichen Auftritten frenetisch losklatschen, wenn der ehemalige Bundesbanker nach seinen Statistik-Exkursionen auf den Punkt kommt und gegen Verdummung, Überfremdung und Integrationspannen wettert. Aus dieser Masse an unscheinbaren Unterstützern tritt aber kaum jemand hervor. Es fehlt also immer noch das Gesicht zum Wutbürger.
Im September erlebte ich in Berlin, wie sich eine große Schar von Atomkraftgegnern auf eine Demonstration vorbereitete. Hauptsächlich handelte es sich um kleine Familien. Auffallend war insbesondere, daß der müde alternative Papi seine ein bis zwei Kinder mitgebracht hatte, damit diese den „Atomkraft – Nein Danke!“-Luftballon halten. Sind das die Wutbürger? Nein, das paßt auch nicht.
Mir fällt eigentlich nur ein prominenter Wutbürger ein, der dazu alle Eigenschaften mitbringt, aber mit Politik nicht viel am Hut hat: der ehemalige Fußballmanager Rainer „Calli“ Calmund. Seine aufbrausende Art, die klaren Worte – „Tacheles“ eben, wenn andere versuchen, die Krise wegzureden.
Laßt uns jedoch nicht klagen! Es gab schon schlimmere Sorten von Wut in diesem Land. Im „Aufstand der Anständigen“ zeigte sich vor zirka zehn Jahren ein Bundespräsident „tief betroffen vor Scham und Wut“. Die konservative Antwort darauf erfolgte zwei Jahre später, als ein noch heute in Talkshows gern gesehener Publizist die Bürger auf die Barrikaden rief. Schnell stellte sich heraus, daß dies wohl mehr als Wortspiel – vielleicht sogar mit Ambitionen auf das Wort des Jahres – gemeint war und dem Aufruf die letzte Konsequenz fehlte.
Die Wutbürger, wo sind sie also? Die Zeitschrift eigentümlich frei spricht in ihrer aktuellen Ausgabe davon, der Protest (Anti-AKW-Bewegung, Stuttgart 21) sei nur inszeniert. Nicht die Wut der Bürger wäre demnach ausschlaggebend sondern die Professionalität der NGOs. Das ist ein wichtiges Argument und erklärt, warum linker Protest politische Entscheidungen beeinflussen kann bzw. zumindest so wirkmächtig ist, daß ein „Mediator“ gerufen wird. Die tendenziell „rechten“ Wutbürger, die mit Sarrazins Deutschland schafft sich ab ihr Erweckungserlebnis hatten, treten hingegen unorganisiert auf und bleiben so weitestgehend einflußlos.
Der Wutbürger, er ist ein recht durchschnittliches Wesen. Er protestiert mit, wenn der Nachbar auch mitmacht. Er hält seine Wut unter Verschluß, solange eine öffentliche Meinungskundgebung seinem Ansehen schaden könnte. Kurz und gut: Wir sollten den Wutbürger lieber „Mitbürger mit Wut im Hintergrund“ nennen.