Sind die Reaktionen im Laufe der Zeit auch andere geworden, so stellt die Beachtung und Behandlung bestimmter Personen noch immer eine Art Lackmustest für jedes Lexikon dar. Voraussetzung ist, daß die betreffende Person polarisiert, was bei Jünger, wenn man ihn richtig liest, nach wie vor der Fall ist. Vor vierzehn Jahren konnte einzig das Philosophische Wörterbuch bestehen, das in seiner 22. Auflage (1991) folgendes schrieb: „Jünger, Ernst, philos. Schriftsteller, * 29.3.1895 Heidelberg, bemühte sich um eine philosophische Deutung des Kriegserlebnisses. Für die Existenzphilosophie wichtig ist sein Buch ‚Der Arbeiter. Herrschaft u. Gestalt‘ (1931, 1941), in dem er den Arbeiter als Exponenten der Technik und als Prototyp des kommenden, der Technik verfallenden Menschen darstellt […]. Als Sprachforscher trat J. 1934 mit seiner Arbeit ‚Lob der Vokale‘ […] hervor. In ‚Sprache und Körperbau‘ (1947) untersuchte er den Zusammenhang gewisser Wertbegriffe mit Rechts- und Linksseitigkeit des Körpers, mit der Senkrechten (Kopf und Fuß) und mit der Natur der Sinnesorgane.” Was bis heute durchfällt, und das seit drei Auflagen, ist das ambitionierte, von Bernd Lutz herausgegebene Philosophenlexikon, wohingegen das alte Philosophenlexikon von Werner Ziegenfuß Jünger ausführlich als Interpreten des Kriegserlebnisses würdigte.
Es würde demnach trist aussehen, wenn es nicht das Große Werklexikon der Philosophie gäbe, in dem Günter Figal einige Hauptwerke Jüngers vorstellt: Die totale Mobilmachung, Der Arbeiter, Über den Schmerz, Über die Linie, An der Zeitmauer. Begründet wird dies von Figal mit dem Hinweis, daß Jünger immer wieder philosophische Fragen aufgegriffen und sich der Zeitdiagnostik, der Sprach- und Naturphilosophie sowie der Geschichtsphilosophie zugewandt habe. Beeinflußt sei Jünger vor allem von Nietzsche, Schopenhauer und Spengler. Wenn man das Werklexikon als einen philosophischen Kanon betrachtet, gehört Ernst Jünger also mittlerweile dazu. Nun ist der Philosophiebegriff dieses Lexikons so weit gefaßt, daß sich damit noch nichts beweisen läßt, zumal die Kriterien der Auswahl nicht klar benannt werden. Philosophie muß sich von Wissenschaft und Dichtung unterscheiden, wobei es zwischen ihnen Überschneidungen gibt.
Karl Jaspers hat die Eigenart der Philosophie prägnant bestimmt: „Die Art der in der Philosophie zu gewinnenden Gewißheit ist nicht die wissenschaftliche, nämlich die gleiche für jeden Verstand, sondern ist eine Vergewisserung, bei deren Gelingen das ganze Wesen des Menschen mitspricht.” Nicht der einzelne Gegenstand, sondern das Ganze des Seins ist der Raum der Philosophie, der nach dem Sinn befragt wird. Philosophie bedeutet radikales Fragen. Von der Dichtung unterscheidet sie, daß sich dieses Fragen in jedem Fall auf die Wirklichkeit bezieht und die Phantasie eine untergeordnete Rolle spielt. Vor allem ist Philosophie in jedem Fall ein methodisches Vorgehen auf dem Weg der Erkenntnis, kein freies Assoziieren.
Beide Unterscheidungen treffen für Jünger nicht eindeutig zu. Dazu ist sein Werk zu heterogen, widmet sich auf verschiedene Art und Weise verschiedenen Gegenständen. Jünger hat Romane und Erzählungen geschrieben und ständig Tagebuch geführt. Und er hat sich in seinen Essays immer auf seine Eigenschaft als Beobachter, der beschreibt, was er sieht, berufen. Dennoch oder gerade deshalb hat Jünger einen genuin philosophischen Anspruch. Das geht so weit, daß sogar seine Dichtung „wesentlich Metaphysik” (Hans-Peter Schwarz) ist, was nicht unbedingt für Jüngers Dichtung spricht.
Ich kenne niemanden, der vom erzählerischen Werk Jüngers, von den Marmorklippen einmal abgesehen, nachhaltig ergriffen worden wäre. Es ist von der Metaphysik verstellt. Jünger will uns in Heliopolis, den Gläsernen Bienen oder Eumeswil um jeden Preis eine philosophische Deutung der Gegenwart aufdrängen. Jünger ist aber nur dort echt, wo er seine genauen Beobachtungen nicht in eine erzählerische Form gießen muß: Im Tagebuch und im Essay. Deshalb wird Jüngers Name auch immer mit den Stahlgewittern, dem Arbeiter und mit dem Waldgang in Verbindung gebracht werden. In ihnen erschöpft sich Jünger nicht in der Beschreibung der Lage, er ist hier im besten Sinne Philosoph. Er bleibt nicht im Empirischen hängen, sondern verfeinert die induktive Methode. Aus dem, was ist („das alles gibt es also”), was man aber auch sehen muß, ergibt sich die radikale Frage nach dem Sinn des Ganzen. Den wollte Jünger der Lage gleichsam ablauschen: dem Weltkrieg, der Technik, der Massengesellschaft und schließlich dem Einzelnen.
Der von Jünger sehr geschätzte Lichtenberg schreibt: „Man bedenkt nicht, daß Sprechen, ohne Rücksicht von was, eine Philosophie ist. Jeder, der Deutsch spricht, ist ein Volksphilosoph und unsere Universitätsphilosophie besteht in Einschränkungen von jener.” Vielleicht ist so das Verhältnis zu beschreiben, in dem Jünger zu dem stand, was man unter akademischer Philosophie versteht. Jünger hat sich ganz bewußt in diese Ecke gestellt.
Als sich nach dem Ersten Weltkrieg die Frage der Studienwahl stellte, hat er nicht Philosophie, sondern Zoologie studiert. Er folgte damit einem Zug der Zeit. Die Universitätsphilosophie stand im Ruf der völligen Lebensferne und Abstraktheit, so daß die Wißbegierigen, die den Sinn des Lebens suchen wollten, in die Naturwissenschaften und die Medizin gingen. Es sei nur an Gottfried Benn erinnert, der diese Entscheidung schon vor dem Weltkrieg traf. Nicht umsonst hat die Generation des Fronterlebnisses sich den großen Außenseiter der Philosophie, Nietzsche, zum Leitstern gewählt. Jünger hat sich neben Nietzsche vor allem mit Goethe beschäftigt. Hierin ist er vermutlich Oswald Spengler gefolgt, der der Philosophie ebenfalls von außen entscheidende Impulse gab und durch die Prognose des Untergangs des Abendlandes die zwanziger Jahre und damit auch Jüngers geistige Entwicklung prägte.
Bei Jünger äußerte sich diese vor allem in der Zeitkritik, die an sich noch nicht philosophisch sein muß. Daß sie es ist, hat Heidegger indirekt bewiesen. Die Auseinandersetzung Heideggers mit Jüngers Werk ist als Aspekt der Philosophiegeschichte immer wieder behandelt worden und hat dazu geführt, in diesem Austausch so etwas wie einen philosophischen Ritterschlag für Jünger zu sehen. Heidegger war vom Arbeiter so gepackt, daß er darüber ein privates Seminar für seine höheren Semester, vor allem aber die Assistenten veranstaltete. Hier hat Heidegger den Impuls für seine Technikkritik her und damit den Kern seiner Kritik am Nationalsozialismus.
Heidegger hat offenbar früh gesehen, daß es Jünger nicht um eine verquere Art des Nationalbolschewismus ging, sondern um eine planetarische, heute würde man sagen globale, Entwicklung, die sich aus zwei Ereignissen, die dem Zeitalter der Massen und der Technik die Konsequenzen abtrotzen, speist: dem Ersten Weltkrieg und der Erfahrung des technischen Krieges, in dem der einzelne Mensch bedeutungslos wird sowie der russischen Revolution, die eindeutig belegt, daß das bürgerliche Zeitalter vorbei ist. Wenn man sich anschaut, wie sich in den verschiedensten Ländern in den zwanziger und dreißiger Jahren die Formierung der Massen vollzog, wie sie einem Plan unterworfen wurden, hat Jünger keine Gespenster gesehen. Für Heidegger ist Jüngers Einsicht entscheidend, daß die Technik nichts ist, was der Mensch steuern kann. Es ist Nietzsches Einsicht: „Einst aber werden größere Drachen zur Welt kommen.”
Gleichzeitig wird etwas offenbar, was schon seit Nietzsche kein Geheimnis mehr war: die Macht des Nihilismus. Jünger widmet ihm seine Schrift Über die Linie, die in einer Festschrift für Heidegger erscheint. Der reagiert darauf mehrfach, freundlich, aber doch Jüngers Überlegungen in zentralen Punkten kritisierend. Während Jünger davon redet, daß „in der Welt der Tatsachen der Nihilismus sich den letzten Zielen” annähere, meint Heidegger, daß es keine Ziele mehr geben könne, weil es nichts gebe, was außerhalb des Nihilismus stünde. Jünger sei metaphysisch befangen, restaurativ, könne die notwendige „Verwindung der Metaphysik” nicht mittragen. Dazu hat Jünger auch gar keinen Grund. Der Unterschied zwischen Jünger und Heidegger in den Jahren 1950/55 liegt in deren jüngster Vergangenheit. Heidegger hatte, wie auch Benn, 1933 mehr als ein Jahr geglaubt, die NS-Bewegung sei das antinihilistische Moment, auf das alle gewartet hatten. Die sich bald einstellende Enttäuschung wog bei Heidegger offenbar schwerer, wie sich den seit einigen Jahren vorliegenden Manuskripten der dreißiger und vierziger Jahre entnehmen läßt: Konsequenterweise war damit alles dem Nihilismus anheimgefallen und nur der „letzte Gott” läßt hoffen. Dagegen hatte Jünger nie Illusionen über den NS und konnte so nach 1945 recht ungebrochen die „eigene Brust” anführen: „Hier steht ein jeder, gleichviel von welchem Stand und Range, im unmittelbaren und souveränen Kampfe, und mit seinem Siege verändert sich die Welt.” Hier blitzt Jüngers echte Anteilnahme am Menschen auf und damit auch seine philosophische Haltung.
Jünger ist Existenzphilosoph. Damit ist nicht gemeint, daß Jünger einer so bezeichneten philosophischen Strömung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anhängt. Existenzphilosophie ist ein Phänomen der Gegenaufklärung. Mit Kierkegaard geht es um den Menschen als „Synthesis von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit”, die erst im Bewußtsein dieses Verhältnisses zu sich selbst findet. Jünger nennt das nicht Existenz, sondern Soldat, Arbeiter, Waldgänger. Und natürlich ist der Einzelne immer mehr als er selbst, er weist über sich hinaus. Existentiell heißt für Jünger: Erkenne die Lage und damit auch die Feinde. Diese haben Jünger und die Philosophie gemeinsam: Positivismus, Materialismus, Relativismus und schließlich den Nihilismus. Es geht Jünger um das Absolute und das Konkrete. Er definiert den Freiheitsanspruch als Arbeitsanspruch, Freiheit stellt sich dar als Ausdruck der Notwendigkeit. „Das bedeutet, daß das Maß der Freiheit des Einzelnen genau dem Maße entspricht, in dem er Arbeiter ist. Arbeiter, Vertreter einer großen, in die Geschichte eintretenden Gestalt zu sein, bedeutet, Anteil zu haben an einem neuen, vom Schicksal zur Herrschaft bestimmten Menschentum.”
Das bedeutet die Verinnerlichung des Freiheitsbegriffs Preußens: in Freiheit dienen. Nur gab es dieses Preußen nicht mehr, keinen König und keinen Gott. Daher die Selbstverpflichtung des Menschen als Antwort auf die Frage: Warum handeln, wenn wir doch sterben müssen? – Weil wir gar nicht anders können. Dieses Verständnis setzt sich im Waldgang fort: „Waldgänger ist also jener, der ein ursprüngliches Verhältnis zur Freiheit besitzt, das sich, zeitlich gesehen, darin äußert, daß er dem Automatismus sich zu widersetzen und dessen ethische Konsequenz, den Fatalismus, nicht zu ziehen gedenkt.”
Bereits 1959 hat Jünger dann seine zweite Leidenschaft, die Geschichtsphilosophie, zu einem Höhepunkt geführt und ein bis heute nicht gänzlich ausgedeutetes Buch geschrieben, das damals ein gewisses Aufsehen erregte: An der Zeitmauer. Das, was später als Ende der Geschichte und Ende des Menschen die Runde machte, ist hier in aller Deutlichkeit gesehen. Eine völlig neue Phase der Erdgeschichte eröffnet sich, wenn der Mensch sich und seine Artgenossen selbst auslöschen oder die Evolution selbst in die Hand nehmen kann. Der Weltstaat erscheint da nur als Zwischenstadium. Jünger, das wird hier deutlich, ist kein Alt-Konservativer, er hält den Prozeß der Modernisierung für unaufhaltbar, wenn auch für bedauerlich. Trotzdem weiß er, daß das Leben nicht aufgeht, daß wir uns nicht selbst in der Hand haben und daß es mehr gibt, als die handgreifliche Realität. Das, was man in der Metaphysik als Grundbegriff bezeichnet, hat Jünger in Worte gefaßt und damit oftmals überhaupt erst sichtbar gemacht. Dabei bleibt es nicht aus, daß sich in Jüngers Werk manche Zeitgeistverhaftung findet. Die Themen, die er aufgriff, waren virulent, gegenwärtig, aktuell. Da es Jünger aber nicht darum geht, und auch das zieht ihn auf die Seite der Philosophie, eine Weltanschauung zu basteln, wird er nie mainstream. Er läßt sich immer neu beeindrucken: „Wo der Verstand dem Urphänomen begegnet, stößt er auf Stärkeres. Hier muß er haltmachen; hier kann ihm ein Damaskus zuteil werden.”
Jünger hat es nicht zu einem philosophischen System gebracht. Seine Schriften bestehen in der Mehrzahl aus Essays, Notizen, Tagebüchern, selten wird mal ein Gedanke länger durchgehalten. Die Neigung zur kleinen Form ist jedoch kein Argument gegen Jünger, weil wir wissen, daß Nietzsche und auch Dávila keine andere Möglichkeit mehr gesehen haben, den Gedanken im Strom der Zeit und der Beliebigkeit festzuhalten. Es spricht für Jünger, daß er sich bis ins hohe Alter immer wieder der Anstrengung unterworfen hat, einem Gedanken methodisch nachzugehen. Das Werk Jüngers bietet nicht zuletzt deshalb viel, weil in ihm eine Entwicklung stattfindet, die es glaubwürdig und nachvollziehbar macht. Gerhard Nebel, der sich vielleicht am konsequentesten an die philosophische Auslegung Jüngers machte, hat seine Jünger-Lektüre als „Grenzniederlegung” bezeichnet, die ihm die Augen für die Wirklichkeit geöffnet und aus der Realität befreit habe. Darin liegt vielleicht der bleibende Rang Jüngers. Er ist philosophisch sicherlich nicht der bedeutendste Geist des 20. Jahrhunderts. Aber er vermag es, mit seiner am Konkreten geschulten Art der Darstellung dem noch nicht festgelegten Sucher eine Richtung zu geben. Mit der Lektüre Jüngers, den Essays und Kriegstagebüchern, war bei mir der erste und entscheidende Schritt in die Welt des Geistes getan, ohne den die weiteren nicht hätten folgen können.