… sie dürfte in Deutschland konsensfähig sein. Das hängt damit zusammen, daß Faschismus den meisten nicht als historische, sondern als metaphysische Größe erscheint – das absolute Böse -, das keine Analyse und keine Beurteilung wie andere Weltanschauungen zuläßt, sondern nur Verdammung.
Die Ursache dafür liegt in einer bestimmten Lesart der Geschichte, die die politische Linke durchsetzen konnte und die mit ihrer Traumatisierung durch den Faschismus zusammenhängt. Sozialisten wie Kommunisten wurden vom Faschismus überrascht. Ganz gleich, ob man die neue Gesellschaft auf dem Weg der Reform oder der Revolution erhoffte, immer stand dahinter der Glaube, daß der Weg ein gerader sein würde. Es mochte Unterbrechungen geben, auch Hindernisse, aber keine Gabelungen. Im Programm „Fortschritt” existierte kein Faschismus. Deshalb bestritt man dem Faschismus vor allem, eine Größe sui generis zu sein, er galt der Linken seit je als Rückfall in barbarische Zeiten, als Reprise des Bonapartismus oder als Mobilisierung der Knüppelgarde des Kapitals.
Als vor neunzig Jahren, am 23. März 1919, die Fasci di Combattimento, die „Kampfbünde”, gegründet wurden, handelte es sich tatsächlich nur um ein Sammelbecken enttäuschter Nationalisten, Sozialisten, Anarchisten, der Anhänger des Futurismus und politisch heimatloser Soldaten in einem Land zweiter Ordnung. Aber die Bewegung entwickelte binnen kurzem eine erstaunliche Anziehungskraft und fand Nachahmer in vielen europäischen und außereuropäischen Staaten. Wenn das liberale System in die Krise geriet, sahen die Faschisten ihre Stunde gekommen. Kluge Beobachter unter den Zeitgenossen wie der belgische Sozialist Hendrik de Man wiesen früh auf die beunruhigende Tatsache hin, daß der Faschismus als revolutionäre Partei auftreten konnte, „die an antikapitalistischem Radikalismus mit der sozialistischen Bewegung in Wettbewerb tritt”, – und dabei Erfolge verzeichnete.
Was de Man irritierte, war der Zulauf, den der Faschismus in der Zwischenkriegszeit fand, die Tatsache, daß hier eine Massenbewegung entstand, die jene Gesetzmäßigkeit durchbrach, nach der seit hundert Jahren der soziale Wandel immer der Linken zu Gute kam. Das hatte mit den Folgen des Ersten Weltkriegs zu tun, auch mit der Abstiegsangst der Mittelschichten, aber nicht nur. Das revolutionäre Moment des Faschismus kam durch den Nationalismus zustande, der ihm ideologische Ausrichtung und Dynamik verlieh, auch weil seine Massenwirksamkeit wesentlich auf der Verknüpfung von Nationalismus und Sozialismus beruhte. Dieser Aspekt, daß alle Faschismen vor allem Nationalismen, genauer: Nationalsozialismen oder Sozialnationalismen, waren, ist durch die neueren wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema – von Stanley G. Payne, Robert Paxton, George L. Mosse und Stefan Breuer – wieder hervorgehoben worden. Das bedeutet auch, daß eher soziologisch (Faschismus als Verteidigung des Kleinbürgertums gegen das Abgleiten in das Proletariat), geschichtsphilosophisch (Faschismus als Partei des Europäischen oder Weltbürgerkriegs) oder religionswissenschaftlich (Faschismus als politische Religion) argumentierende Theorien an Bedeutung verlieren und die These vom „Faschismus in seiner Epoche” (Ernst Nolte) weniger überzeugt.
Der Antifaschismus wird das begrüßen, weil er seine Existenzberechtigung aus der steten Warnung vor einem Wiederaufflammen ableitet. Doch bleibt ihm ein Unbehagen angesichts der Vorstellung, daß der Faschismus eine grundsätzlich mögliche Form der modernen Gesellschaft sein könnte. Der Faschismus als prinzipielle Alternative hat mit dem zu tun, was der Staatsrechtler Rudolf Smend noch offen als „starke Seite des Faschismus” bezeichnete: die Fähigkeit zur unmittelbaren Integration der modernen Gesellschaft, die naturgemäß zur Desintegration neigt und die Integrationsleistungen der früheren Sozialformen verschleißt. Diesen Abbau kann ein liberales System unter günstigen Umständen kaschieren, aber in der Krise gibt es Bedarf nach Vereinheitlichung und Einheit. Dem, so Smend, kam der Faschismus auf geschickte Weise entgegen, weil er die politischen Formen des 19. Jahrhunderts – Parlamentarismus, Mehrheitsprinzip, „öffentliche Meinung” – zu Illusionen erklärte und durch charismatische Führung, strenge Organisation und Propaganda ersetzte. Von Bedeutung ist auch, daß er – anders als klassische Diktaturen – keine Stillstellung der Massen wünschte und – anders als der Kommunismus – seinen Totalitätsanspruch mäßigen und differenzierten Gesellschaften anpassen konnte.
Daß dieser Vergleich von Faschismus und Kommunismus eher zu Gunsten des Faschismus ausfällt, überrascht heute, entsprach aber in den ersten Nachkriegsjahrzehnten einer allgemeinen Überzeugung. Das hatte damit zu tun, daß man unter „Faschismus” für gewöhnlich nur das italienische Modell mit seinen Varianten (in den romanischen Ländern und Großbritannien), kaum gewisse Sonderformen (auf dem Balkan) und keinesfalls den Nationalsozialismus verstand. Diese Differenzierung ist fast vollständig verschwunden und hat jener Vereinfachung Platz gemacht, derzufolge der Nationalsozialismus als Normalfaschismus zu betrachten ist und sein destruktives Potential als ausschlaggebend für die – politische wie moralische – Bewertung des Faschismus überhaupt.
Damit werden Fakten unterschlagen, die historischen Zusammenhänge verkürzt und eine Uniformität des Faschismus behauptet, die es so nie gegeben hat. Es existierte eben keine „Faschistische Internationale” und kein Zentralbüro, das Weisungen erteilen konnte, die überall zu befolgen waren, der Faschismus entwickelte nie eine Dogmatik und deshalb nie die für den Kommunismus typischen Ketzerverfolgungen, das Maß seiner Gewalttaten ging zwischen 1919 und 1939 nicht über das hinaus, was andere – auch demokratische – Regime im Rahmen von Bürger- und Kolonialkriegen zu verantworten hatten. Nirgends erreichte die Opferzahl die des roten Terrors.
Das wurde erst anders durch Hitlers Entschluß zur systematischen Vernichtung der Juden. Zwar gab es zahlreiche faschistische Bewegungen, die antisemitische Vorstellungen vertraten und Pogrome ebenso rechtfertigten wie die Aufhebung der jüdischen Emanzipation, aber ihre Wendung gegen das Judentum hatte damit zu tun, daß man im Juden den „Gegentypus” sah – den Kosmopoliten, den Bourgeois, den Ausbeuter -, nicht mit der Intention der physischen Ausrottung einer Volksgruppe. Der italienische Faschismus kannte jedenfalls keine Judenfeindschaft, und in der zionistischen Bewegung gab es einzelne, die einen jüdischen „Faschismus” als zeitgemäße Ausdrucksform des eigenen Ideals betrachteten. Zu den Veteranen des „Marschs auf Rom” gehörte eine nicht so kleine Anzahl von Juden, und erst unter wachsendem deutschem Druck änderte Mussolini seine Haltung und war bereit, eine Rassengesetzgebung einzuführen.
Man muß auf diese und andere Differenzen hinweisen, wenn man überhaupt sinnvoll mit einem generalisierenden Faschismusbegriff arbeiten will.
Unter Faschismus soll also im folgenden verstanden werden:
- eine politische Bewegung, deren Ziel die vollständige Integration einer von Desintegration bedrohten Gesellschaft ist,
- weshalb alle historischen Faschismen nationalistisch waren
- und ihren Nationalismus mit sozialistischen Ideen kombinierten.
- Die Weltanschauung des Faschismus ist idealistisch und voluntaristisch und
- einer „faschistischen Kultur” (Zeev Sternhell) entwachsen, die sehr verschiedene philosophische, religiöse und ästhetische Strömungen Europas in sich aufgenommen hat.
- Der Faschismus bekämpft im Namen seines Hauptziels jede Ideologie (Kommunismus, Sozialismus, Liberalismus, unter Umständen Konservatismus) oder Gruppe (Juden, Freimaurer, Angehörige sonstiger Geheimgesellschaften, Sekten, unter Umständen Kirchen), die der Integrität der Nation schaden kann beziehungsweise einen entsprechenden Verdacht weckt.
- Der Faschismus schätzt die Gewalt als Mittel,
- das autoritative Handeln (Führerprinzip, Entscheidung, Befehl-Gehorsam)
- und einen entsprechenden politischen Stil (Massierung, Militarisierung).
- Der Faschismus will nicht zurück, er strebte grundsätzlich etwas Neues an: ein „neuer Mensch” in einer „neuen Ordnung” am Beginn eines „neuen Zeitalters”.
- Er ist insofern modern, wie auch sein Anspruch auf „Totalität” nur aus den Handlungsmöglichkeiten erwachsen kann, die mit der Moderne gegeben sind.
Die Abbildungen von oben nach unten: Titel des Spiegel vom 25. Juli 1983 aus Anlaß von Mussolinis 100. Geburtstag, Titel des Spiegel vom 16. April 1989 aus Anlaß von Hitlers 100. Geburtstag, Plakatentwurf für das italienische CAUR (Comitato di azione per l’ universalità di Roma) von G. Ferrari.