Faschismus – überhaupt

von Karlheinz Weißmann

„Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen." Die hinter dem Slogan stehende Auffassung teilen nicht nur Antifaschisten, ...

… sie dürf­te in Deutsch­land kon­sens­fä­hig sein. Das hängt damit zusam­men, daß Faschis­mus den meis­ten nicht als his­to­ri­sche, son­dern als meta­phy­si­sche Grö­ße erscheint – das abso­lu­te Böse -, das kei­ne Ana­ly­se und kei­ne Beur­tei­lung wie ande­re Welt­an­schau­un­gen zuläßt, son­dern nur Verdammung.

Die Ursa­che dafür liegt in einer bestimm­ten Les­art der Geschich­te, die die poli­ti­sche Lin­ke durch­set­zen konn­te und die mit ihrer Trau­ma­ti­sie­rung durch den Faschis­mus zusam­men­hängt. Sozia­lis­ten wie Kom­mu­nis­ten wur­den vom Faschis­mus über­rascht. Ganz gleich, ob man die neue Gesell­schaft auf dem Weg der Reform oder der Revo­lu­ti­on erhoff­te, immer stand dahin­ter der Glau­be, daß der Weg ein gera­der sein wür­de. Es moch­te Unter­bre­chun­gen geben, auch Hin­der­nis­se, aber kei­ne Gabe­lun­gen. Im Pro­gramm „Fort­schritt” exis­tier­te kein Faschis­mus. Des­halb bestritt man dem Faschis­mus vor allem, eine Grö­ße sui gene­ris zu sein, er galt der Lin­ken seit je als Rück­fall in bar­ba­ri­sche Zei­ten, als Repri­se des Bona­par­tis­mus oder als Mobi­li­sie­rung der Knüp­pel­gar­de des Kapitals.

Als vor neun­zig Jah­ren, am 23. März 1919, die Fasci di Com­bat­ti­men­to, die „Kampf­bün­de”, gegrün­det wur­den, han­del­te es sich tat­säch­lich nur um ein Sam­mel­be­cken ent­täusch­ter Natio­na­lis­ten, Sozia­lis­ten, Anar­chis­ten, der Anhän­ger des Futu­ris­mus und poli­tisch hei­mat­lo­ser Sol­da­ten in einem Land zwei­ter Ord­nung. Aber die Bewe­gung ent­wi­ckel­te bin­nen kur­zem eine erstaun­li­che Anzie­hungs­kraft und fand Nach­ah­mer in vie­len euro­päi­schen und außer­eu­ro­päi­schen Staa­ten. Wenn das libe­ra­le Sys­tem in die Kri­se geriet, sahen die Faschis­ten ihre Stun­de gekom­men. Klu­ge Beob­ach­ter unter den Zeit­ge­nos­sen wie der bel­gi­sche Sozia­list Hen­drik de Man wie­sen früh auf die beun­ru­hi­gen­de Tat­sa­che hin, daß der Faschis­mus als revo­lu­tio­nä­re Par­tei auf­tre­ten konn­te, „die an anti­ka­pi­ta­lis­ti­schem Radi­ka­lis­mus mit der sozia­lis­ti­schen Bewe­gung in Wett­be­werb tritt”, – und dabei Erfol­ge verzeichnete.

Was de Man irri­tier­te, war der Zulauf, den der Faschis­mus in der Zwi­schen­kriegs­zeit fand, die Tat­sa­che, daß hier eine Mas­sen­be­we­gung ent­stand, die jene Gesetz­mä­ßig­keit durch­brach, nach der seit hun­dert Jah­ren der sozia­le Wan­del immer der Lin­ken zu Gute kam. Das hat­te mit den Fol­gen des Ers­ten Welt­kriegs zu tun, auch mit der Abstiegs­angst der Mit­tel­schich­ten, aber nicht nur. Das revo­lu­tio­nä­re Moment des Faschis­mus kam durch den Natio­na­lis­mus zustan­de, der ihm ideo­lo­gi­sche Aus­rich­tung und Dyna­mik ver­lieh, auch weil sei­ne Mas­sen­wirk­sam­keit wesent­lich auf der Ver­knüp­fung von Natio­na­lis­mus und Sozia­lis­mus beruh­te. Die­ser Aspekt, daß alle Faschis­men vor allem Natio­na­lis­men, genau­er: Natio­nal­so­zia­lis­men oder Sozi­al­na­tio­na­lis­men, waren, ist durch die neue­ren wis­sen­schaft­li­chen Unter­su­chun­gen zum The­ma – von Stan­ley G. Pay­ne, Robert Pax­t­on, Geor­ge L. Mos­se und Ste­fan Breu­er – wie­der her­vor­ge­ho­ben wor­den. Das bedeu­tet auch, daß eher sozio­lo­gisch (Faschis­mus als Ver­tei­di­gung des Klein­bür­ger­tums gegen das Abglei­ten in das Pro­le­ta­ri­at), geschichts­phi­lo­so­phisch (Faschis­mus als Par­tei des Euro­päi­schen oder Welt­bür­ger­kriegs) oder reli­gi­ons­wis­sen­schaft­lich (Faschis­mus als poli­ti­sche Reli­gi­on) argu­men­tie­ren­de Theo­rien an Bedeu­tung ver­lie­ren und die The­se vom „Faschis­mus in sei­ner Epo­che” (Ernst Nol­te) weni­ger überzeugt.

Der Anti­fa­schis­mus wird das begrü­ßen, weil er sei­ne Exis­tenz­be­rech­ti­gung aus der ste­ten War­nung vor einem Wie­der­auf­flam­men ablei­tet. Doch bleibt ihm ein Unbe­ha­gen ange­sichts der Vor­stel­lung, daß der Faschis­mus eine grund­sätz­lich mög­li­che Form der moder­nen Gesell­schaft sein könn­te. Der Faschis­mus als prin­zi­pi­el­le Alter­na­ti­ve hat mit dem zu tun, was der Staats­recht­ler Rudolf Smend noch offen als „star­ke Sei­te des Faschis­mus” bezeich­ne­te: die Fähig­keit zur unmit­tel­ba­ren Inte­gra­ti­on der moder­nen Gesell­schaft, die natur­ge­mäß zur Des­in­te­gra­ti­on neigt und die Inte­gra­ti­ons­leis­tun­gen der frü­he­ren Sozi­al­for­men ver­schleißt. Die­sen Abbau kann ein libe­ra­les Sys­tem unter güns­ti­gen Umstän­den kaschie­ren, aber in der Kri­se gibt es Bedarf nach Ver­ein­heit­li­chung und Ein­heit. Dem, so Smend, kam der Faschis­mus auf geschick­te Wei­se ent­ge­gen, weil er die poli­ti­schen For­men des 19. Jahr­hun­derts – Par­la­men­ta­ris­mus, Mehr­heits­prin­zip, „öffent­li­che Mei­nung” – zu Illu­sio­nen erklär­te und durch cha­ris­ma­ti­sche Füh­rung, stren­ge Orga­ni­sa­ti­on und Pro­pa­gan­da ersetz­te. Von Bedeu­tung ist auch, daß er – anders als klas­si­sche Dik­ta­tu­ren – kei­ne Still­stel­lung der Mas­sen wünsch­te und – anders als der Kom­mu­nis­mus – sei­nen Tota­li­täts­an­spruch mäßi­gen und dif­fe­ren­zier­ten Gesell­schaf­ten anpas­sen konnte.

Daß die­ser Ver­gleich von Faschis­mus und Kom­mu­nis­mus eher zu Guns­ten des Faschis­mus aus­fällt, über­rascht heu­te, ent­sprach aber in den ers­ten Nach­kriegs­jahr­zehn­ten einer all­ge­mei­nen Über­zeu­gung. Das hat­te damit zu tun, daß man unter „Faschis­mus” für gewöhn­lich nur das ita­lie­ni­sche Modell mit sei­nen Vari­an­ten (in den roma­ni­schen Län­dern und Groß­bri­tan­ni­en), kaum gewis­se Son­der­for­men (auf dem Bal­kan) und kei­nes­falls den Natio­nal­so­zia­lis­mus ver­stand. Die­se Dif­fe­ren­zie­rung ist fast voll­stän­dig ver­schwun­den und hat jener Ver­ein­fa­chung Platz gemacht, der­zu­fol­ge der Natio­nal­so­zia­lis­mus als Nor­mal­fa­schis­mus zu betrach­ten ist und sein destruk­ti­ves Poten­ti­al als aus­schlag­ge­bend für die – poli­ti­sche wie mora­li­sche – Bewer­tung des Faschis­mus überhaupt.

Damit wer­den Fak­ten unter­schla­gen, die his­to­ri­schen Zusam­men­hän­ge ver­kürzt und eine Uni­for­mi­tät des Faschis­mus behaup­tet, die es so nie gege­ben hat. Es exis­tier­te eben kei­ne „Faschis­ti­sche Inter­na­tio­na­le” und kein Zen­tral­bü­ro, das Wei­sun­gen ertei­len konn­te, die über­all zu befol­gen waren, der Faschis­mus ent­wi­ckel­te nie eine Dog­ma­tik und des­halb nie die für den Kom­mu­nis­mus typi­schen Ket­zer­ver­fol­gun­gen, das Maß sei­ner Gewalt­ta­ten ging zwi­schen 1919 und 1939 nicht über das hin­aus, was ande­re – auch demo­kra­ti­sche – Regime im Rah­men von Bür­ger- und Kolo­ni­al­krie­gen zu ver­ant­wor­ten hat­ten. Nir­gends erreich­te die Opfer­zahl die des roten Terrors.

Das wur­de erst anders durch Hit­lers Ent­schluß zur sys­te­ma­ti­schen Ver­nich­tung der Juden. Zwar gab es zahl­rei­che faschis­ti­sche Bewe­gun­gen, die anti­se­mi­ti­sche Vor­stel­lun­gen ver­tra­ten und Pogro­me eben­so recht­fer­tig­ten wie die Auf­he­bung der jüdi­schen Eman­zi­pa­ti­on, aber ihre Wen­dung gegen das Juden­tum hat­te damit zu tun, daß man im Juden den „Gegen­ty­pus” sah – den Kos­mo­po­li­ten, den Bour­geois, den Aus­beu­ter -, nicht mit der Inten­ti­on der phy­si­schen Aus­rot­tung einer Volks­grup­pe. Der ita­lie­ni­sche Faschis­mus kann­te jeden­falls kei­ne Juden­feind­schaft, und in der zio­nis­ti­schen Bewe­gung gab es ein­zel­ne, die einen jüdi­schen „Faschis­mus” als zeit­ge­mä­ße Aus­drucks­form des eige­nen Ide­als betrach­te­ten. Zu den Vete­ra­nen des „Marschs auf Rom” gehör­te eine nicht so klei­ne Anzahl von Juden, und erst unter wach­sen­dem deut­schem Druck änder­te Mus­so­li­ni sei­ne Hal­tung und war bereit, eine Ras­sen­ge­setz­ge­bung einzuführen.

Man muß auf die­se und ande­re Dif­fe­ren­zen hin­wei­sen, wenn man über­haupt sinn­voll mit einem gene­ra­li­sie­ren­den Faschis­mus­be­griff arbei­ten will.

Unter Faschis­mus soll also im fol­gen­den ver­stan­den wer­den:

  • eine poli­ti­sche Bewe­gung, deren Ziel die voll­stän­di­ge Inte­gra­ti­on einer von Des­in­te­gra­ti­on bedroh­ten Gesell­schaft ist,
  • wes­halb alle his­to­ri­schen Faschis­men natio­na­lis­tisch waren
  • und ihren Natio­na­lis­mus mit sozia­lis­ti­schen Ideen kombinierten.
  • Die Welt­an­schau­ung des Faschis­mus ist idea­lis­tisch und vol­un­t­a­ris­tisch und
  • einer „faschis­ti­schen Kul­tur” (Zeev Stern­hell) ent­wach­sen, die sehr ver­schie­de­ne phi­lo­so­phi­sche, reli­giö­se und ästhe­ti­sche Strö­mun­gen Euro­pas in sich auf­ge­nom­men hat.
  • Der Faschis­mus bekämpft im Namen sei­nes Haupt­ziels jede Ideo­lo­gie (Kom­mu­nis­mus, Sozia­lis­mus, Libe­ra­lis­mus, unter Umstän­den Kon­ser­va­tis­mus) oder Grup­pe (Juden, Frei­mau­rer, Ange­hö­ri­ge sons­ti­ger Geheim­ge­sell­schaf­ten, Sek­ten, unter Umstän­den Kir­chen), die der Inte­gri­tät der Nati­on scha­den kann bezie­hungs­wei­se einen ent­spre­chen­den Ver­dacht weckt.
  • Der Faschis­mus schätzt die Gewalt als Mittel,
  • das auto­ri­ta­ti­ve Han­deln (Füh­rer­prin­zip, Ent­schei­dung, Befehl-Gehorsam)
  • und einen ent­spre­chen­den poli­ti­schen Stil (Mas­sie­rung, Militarisierung).
  • Der Faschis­mus will nicht zurück, er streb­te grund­sätz­lich etwas Neu­es an: ein „neu­er Mensch” in einer „neu­en Ord­nung” am Beginn eines „neu­en Zeitalters”.
  • Er ist inso­fern modern, wie auch sein Anspruch auf „Tota­li­tät” nur aus den Hand­lungs­mög­lich­kei­ten erwach­sen kann, die mit der Moder­ne gege­ben sind.

Die Abbil­dun­gen von oben nach unten: Titel des Spie­gel vom 25. Juli 1983 aus Anlaß von Mus­so­li­nis 100. Geburts­tag, Titel des Spie­gel vom 16. April 1989 aus Anlaß von Hit­lers 100. Geburts­tag, Pla­ka­t­ent­wurf für das ita­lie­ni­sche CAUR (Comi­ta­to di azio­ne per l’ uni­ver­sa­li­tà di Roma) von G. Ferrari.

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