alias Bruno Dössekker aufzeigte, löste das eine lebhafte Debatte über das Verhältnis von Erinnerungsliteratur, historischer Wahrheit und Medienbetrieb aus. Mit dem Erscheinen von Daniela Matijevics Buch „Mit der Hölle hätte ich leben können“ gibt es jetzt erneut Anlass dazu.
Die Autorin erzählt darin ihre Erlebnisse als Soldatin im Einsatz im Kosovo. Wie Wilkomirskis Publikation „Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948“ erhält auch Matijevics Buch seine Brisanz aus der schonungslosen Schilderung von Szenen grausamster Gewalt und nackter Not. So berichtet sie, deutsche Soldaten seien so schlecht versorgt gewesen, dass sie Hunde verspeisen mussten. Nach Gefecht und Massaker habe sie mit ihren Kameraden „knietief“ in Leichen gestanden und vor ihren Augen habe die Erschießung eines kleinen Jungen stattgefunden.
Diese Bilder sind als wirkungsvoll bekannt: Das verzweifelte Verspeisen von Unappetitlichem, das Waten durch Leichen und die Tötung unschuldiger Kinder finden sich auch bei Wilkomirski. Der erinnerte sich daran, aus Hunger Ratten gegessen zu haben, im Labor von Dr. Mengele durch verspritzte Hirnmasse gekrochen zu sein und im KZ der Hinrichtung seines besten und einzigen Freundes beigewohnt zu haben. Dabei ergaben sowohl Ganzfrieds Recherchen als auch die Nachforschungen des damit beauftragen Zürcher Historikers Stefan Mächler, dass der gebürtige Schweizer Bruno Dössekker nicht nur die Person des Binjamin Wilkomirski, sondern auch seine Holocaust-Biographie selbst erfunden hat, es handelte sich um „die verinnerlichte Bildersammlung eines Menschen, dem die Phantasie durchgebrannt ist“ (Ganzfried).
In der Folge geriet vor allem der Medien- und Kulturbetrieb und dessen unreflektierter Umgang mit Holocaustliteratur in die Kritik. Dazu ist mittlerweile wahrlich genug gesagt worden. Beeindrucken muss aber auch die Beharrlichkeit, mit der Bruno Dössekker an „seinem“ Wilkomirski festhielt – bis heute kann niemand mit Sicherheit sagen, ob es sich in diesem Fall um einen besonders dreisten Betrüger oder um ein bedauernswertes Opfer „falscher“ Erinnerungen handelt. Liest man Mächlers Studie „Der Fall Wilkomirski“, so scheint es sehr plausibel, dass Dössekker sich infolge einer „Memory-Recovery-Therapie“ gedanklich in eine Alternativrealität flüchtete, die es ihm ermöglicht hat, die öffentliche Anerkennung als bemitleidenswertes Opfer zu bekommen, nach der er sich sehnte. Dafür spricht auch, dass die historisch unwahre Biographie des Wilkomirski viele Parallelen zu der historisch wahren Biographie des Bruno Dössekker aufweist – nur wird sie eben in die Grausamkeiten einer Holocaustgeschichte eingebettet. Die pathologische Sehnsucht, als Opfer öffentliche Anerkennung zu erfahren, fand so den Namen „Wilkomirski-Syndrom“.
Auch die ehemalige Soldatin Matijevic scheint davon betroffen. In der vergangenen Woche berichtete die FAZ sehr detailliert über die offensichtlich erfundenen Erlebnisse der Daniela M. Die gelernte Rettungssanitäterin war zwar tatsächlich als Sanitätssoldatin im Kosovo im Einsatz, ihre traumatischen Erlebnisse sind aber allesamt erfunden. Die Beweislast ist dabei so erdrückend, dass kein Mensch, der auch nur über ein Mindestmaß an Reflektionsvermögen verfügt, ernsthaft davon ausgehen kann, damit dauerhaft durchzukommen. Ähnlich wie Wilkomirski beschränkt sich Matijevics Verteidigung darauf, ihren Kritikern mit Empörung oder Verschwörungsvorwürfen zu begegnen. Die Offensichtlichkeit der Unwahrheit steht in so augenfälligem Kontrast zu ihrem selbstbewussten Auftreten, dass sich eine klinische Erklärung aufdrängt. Die Frau hat sogar einen Veteranenverband gegründet, in dessen Namen sie mehrfach im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sprach und dessen Netzpräsenz nicht besonders geeignet ist, den Verdacht der Selbstinszenierung zu zerstreuen. Das wiederum erinnert an den Fall der „Laura Grabowski“ alias „Lauren Stratford“ alias Laurel Willson, die sich zuerst als Überlebende eines angeblichen Satanisten-Kultes, später auch als Holocaust-Überlebende im Namen von Opferverbänden durch die amerikanische Medienlandschaft schummelte.
Im „Fall Wilkomirski“ brauchte es drei Jahre bis die Wahrheit an die Öffentlichkeit kam und noch einmal ein Jahr, bis der Verlag das Buch aus dem Verkauf nahm. Matijevics „Mit der Hölle hätte ich leben können“ steht jetzt seit etwas mehr als einem halben Jahr in den Buchläden und der Heyne-Verlag listet es noch immer als „Sachbuch“. Man kann nur hoffen, dass sich das bald ändert – denn jedem traumatisierten Soldaten leistet diese peinliche Gruselgeschichte einen Bärendienst.
Der Fall “Wilkomirski” ist überigens der Aufhänger für die in 2. Auflage erschienenen Studie “Unsere Ehre heißt Reue”. Der Schuldstolz der Deutschen, die das Institut für Staatspolitik erarbeitet hat.
Und über weibliche Soldaten und die Frage nach ihrer Belastbarkeit im Allgemeinen handelt die gerade eben erschienene Studie Die Frau als Soldat.