Faschismus – liberal

von Karlheinz Weißmann

„Antiliberalismus" wird - fast mehr noch als die Feindschaft gegen Sozialismus und Kommunismus - zu den notwendigen Elementen faschistischer Ideologie gerechnet.

Die Grün­de dafür lie­gen offen zu Tage: Der Faschis­mus hat die zen­tra­len Vor­stel­lun­gen des Libe­ra­lis­mus bekämpft und, wo er zur Macht kam, für die Besei­ti­gung libe­ra­ler Ver­fas­sun­gen gesorgt. Aus sei­ner Sicht waren Par­la­men­ta­ris­mus und öffent­li­che Dis­kus­si­on Sym­pto­me des Ver­falls, das Pos­tu­lat unauf­geb­ba­rer Men­schen­rech­te nichts als ein Täu­schungs­ma­nö­ver der Bour­geoi­sie zum Zweck der Herrschaftssicherung.

Die kla­ren Kon­tu­ren die­ses Bil­des ver­wi­schen aller­dings, sobald man die his­to­ri­sche Bezie­hung zwi­schen Faschis­mus und Libe­ra­lis­mus genau­er betrach­tet. Regel­mä­ßig gelang­ten die Faschis­ten als Erben eines kol­la­bie­ren­den libe­ra­len Sys­tems an die Macht. Es gab dann durch­aus ein­zel­ne Libe­ra­le, die gegen den Vor­gang Wider­stand leis­te­ten – in Ita­li­en etwa den zuletzt ermor­de­ten Jour­na­lis­ten Gio­van­ni Amen­do­la -, aber auch Über­läu­fer, die der Mei­nung waren, in einer post­li­be­ra­len Ära habe man kei­ne Alter­na­ti­ve mehr zum Faschis­mus. So hat Mus­so­li­nis ers­ter Unter­richts­mi­nis­ter, Gio­van­ni Gen­ti­le, Schü­ler des gro­ßen libe­ra­len His­to­ri­kers Bene­det­to Cro­ce und Pro­fes­sor der Phi­lo­so­phie, die Auf­fas­sung ver­tre­ten, daß der Faschis­mus im Sin­ne Hegels eine neue Syn­the­se bil­de, die aus der Dia­lek­tik von Libe­ra­lis­mus und Reak­ti­on ent­ste­hen muß­te. Gen­ti­le glaub­te, daß die Bewe­gung wei­ter­füh­re, was mit der libe­ra­len Natio­nal­be­we­gung und dem Risor­gi­men­to begon­nen habe, aber unter den Bedin­gun­gen des moder­nen Mas­sen­staa­tes nicht die älte­ren For­men des Libe­ra­lis­mus bewah­ren konnte.

Von die­ser geschichts­phi­lo­so­phi­schen Deu­tung klar zu unter­schei­den sind die Posi­tio­nen jener Libe­ra­len, die nicht den Faschis­mus als Sys­tem, aber die Per­son Mus­so­li­nis bewun­der­ten und in ihm den Kopf einer „kom­mis­sa­ri­schen” Dik­ta­tur sahen, die die Ord­nung wie­der­her­stel­len und die Moder­ni­sie­rung des Lan­des erzwin­gen wer­de. In die­se Rei­he gehört der deut­sche Jour­na­list Emil Lud­wig, der mit einem Inter­view-Band eine der ein­fluß­reichs­ten Dar­stel­lun­gen des duce in der Zwi­schen­kriegs­zeit lie­fer­te. In der Ein­lei­tung hieß es: „Als Indi­vi­dua­list par excel­lence wäre ich nie­mals Faschist gewor­den, tren­ne aber von die­sem per­sön­li­chen Punkt die Erkennt­nis ab, daß die­se Bewe­gung für Ita­li­en Gro­ßes geleis­tet hat.” Lud­wig woll­te sein Urteil übri­gens aus­drück­lich nicht auf Deutsch­land über­tra­gen wis­sen und beharr­te noch im Exil dar­auf, Mus­so­li­ni (und Sta­lin) gegen Hit­ler posi­tiv abzusetzen.

Ein weni­ger bekann­ter Fall ist der des Natio­nal­öko­no­men Lud­wig von Mises, der sei­ne radi­ka­le Ver­tei­di­gung des Mark­tes mit einer Kri­tik des moder­nen Wohl­fahrts­staa­tes ver­band und unter dem Ein­druck der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on dem „Faszis­mus” ein rela­ti­ves his­to­ri­sches Recht zubil­lig­te. Des­sen Gewalt­ak­te im Kampf gegen die äußers­te Lin­ke sah Mises als not­wen­di­ge Begleit­um­stän­de an, bedach­te man die Aus­wir­kun­gen des bol­sche­wis­ti­schen Ter­rors. Eine gewis­se Besorg­nis erre­ge aller­dings, daß der Faschis­mus die Vor­läu­fig­keit sei­ner Funk­ti­on nicht begrei­fen woll­te. In sei­nem 1927 erschie­ne­nen Buch Libe­ra­lis­mus schrieb Mises: „Es kann nicht geleug­net wer­den, daß der Faszis­mus und alle ähn­li­chen Dik­ta­tur­be­stre­bun­gen voll von den bes­ten Absich­ten sind und daß ihr Ein­grei­fen für den Augen­blick die euro­päi­sche Gesit­tung geret­tet hat. Das Ver­dienst, das sich der Faszis­mus damit erwor­ben hat, wird in der Geschich­te ewig fort­le­ben. Doch die Poli­tik, die im Augen­blick Ret­tung gebracht hat, ist nicht von der Art, daß das dau­ern­de Fest­hal­ten an ihr Erfolg ver­spre­chen könn­te. Der Faszis­mus war ein Not­be­helf des Augen­blicks; ihn als mehr anzu­se­hen, wäre ein ver­häng­nis­vol­ler Irrtum.”

Es sei am Ran­de erwähnt, daß Mises wie Lud­wig jüdi­scher Her­kunft war und wegen der Ras­sen­ideo­lo­gie eine deut­li­che Tren­nung zwi­schen dem Faschis­mus im all­ge­mei­nen und dem Natio­nal­so­zia­lis­mus voll­zog. Ent­schei­den­der für unse­ren Zusam­men­hang ist aller­dings, daß sie zu den Nach­züg­lern einer Strö­mung gehör­ten, die sich schon im Libe­ra­lis­mus des 19. Jahr­hun­derts ange­bahnt hat­te. Als stran­ge libe­ra­lism (Roger Boe­sche) kann man die Geis­tes­hal­tung von Män­nern wie Ernest Ren­an, Hip­po­ly­te Taine, Max Weber, Walt­her Rathen­au, Gaet­a­no Mos­ca oder Vil­fre­do Pare­to bezeich­nen, die alle aus den bür­ger­lich-libe­ra­len Tra­di­tio­nen her­ka­men, aber schon vor dem Ers­ten Welt­krieg an ihren Idea­len irre wur­den. Das hat ent­we­der zur Resi­gna­ti­on (Ren­an, Taine, Mos­ca), zum Ver­such einer Modi­fi­ka­ti­on (Weber, Rathen­au ) oder – wenn der Auf­stieg des Faschis­mus noch erlebt wur­de – zu einer gewis­sen und bezeich­nen­den Annä­he­rung (Pare­to) geführt.

Beson­ders auf­schluß­reich für die­sen Zusam­men­hang ist der Fall Webers. Da er bereits 1920 starb, hat er nur die Früh­form des neu­en völ­ki­schen Radi­ka­lis­mus wahr­neh­men kön­nen, dem er mit einer Mischung aus Wider­wil­len und Rat­lo­sig­keit gegen­über­stand. Als Graf Arco-Val­ley den Kopf der Mün­che­ner Räte­re­pu­blik, Kurt Eis­ner, erschoß, bekann­te Weber sich aus­drück­lich zu sei­nem Wider­wil­len gegen Eis­ner und zu sei­ner Sym­pa­thie für Arco-Val­ley. Trotz­dem war er der Mei­nung, daß Arco-Val­ley hät­te hin­ge­rich­tet wer­den müs­sen, denn ein Mord blei­be ein Mord und Mil­de dür­fe in sol­chen Fäl­len nicht Schu­le machen. Damit ist aber nicht alles gesagt. Das von Webers Wit­we über­lie­fer­te Gespräch mit Luden­dorff läßt noch viel deut­li­cher erken­nen, wie weit Weber sich am Ende sei­nes Lebens von den Posi­tio­nen des klas­si­schen Libe­ra­lis­mus ent­fernt hat­te. Wil­helm Hen­nis leg­te in sei­ner Ana­ly­se Max Webers Fra­ge­stel­lung über­zeu­gend dar, daß er längst kei­nen ein­zi­gen libe­ra­len Kern­ge­dan­ken mehr ver­trat: weder die Leh­re vom Natur­recht, noch den Glau­ben an „Wer­te”, weder die Über­zeu­gung, daß der Fort­schritt den Lauf der Geschich­te bestim­me, noch daß es öko­no­mi­sche Geset­ze an sich gebe. Weber war von Nietz­sches Den­ken tief beein­flußt, von der Über­zeu­gung, daß fast alles auf den Wil­len ankom­me, daß die geschicht­li­che Lage über Mög­lich­keit oder Unmög­lich­keit des poli­ti­schen Han­delns ent­schei­de und daß ein Volk sich nur in der Sphä­re des Poli­ti­schen hal­ten kön­ne, wenn es dazu alle ihm zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­tel einsetze.

Webers Natio­na­lis­mus und sei­ne Vor­stel­lung von einer ple­bis­zi­tä­ren Füh­rer­de­mo­kra­tie haben früh Debat­ten dar­über aus­ge­löst, ob man ihn als „Prä­fa­schis­ten” zu betrach­ten habe. Das wur­de von Ernst Nol­te bejaht und von Wolf­gang Momm­sen ver­neint. Auf­fal­lend ist dabei, daß Momm­sen eigent­lich nur dar­auf ver­trau­te, daß Weber aus „per­sön­li­chen” Grün­den ein Geg­ner des Faschis­mus gewor­den wäre. Nimmt man eine Äuße­rung, die er mach­te, nach­dem er als Mit­glied der deut­schen Dele­ga­ti­on aus Ver­sailles heim­ge­kehrt war – „Zur Wie­der­auf­rich­tung Deutsch­lands in sei­ner alten Herr­lich­keit wür­de ich mich gewiß mit jeder Macht der Erde und auch mit dem leib­haf­ti­gen Teu­fel ver­bün­den, nur nicht mit der Macht der Dumm­heit.” -, hät­te den Aus­schlag wohl eher gege­ben, für wie „dumm” Weber den Faschis­mus hal­ten mußte.

Von der Posi­ti­on Webers ist die Rathen­aus zu tren­nen. Zwar gehör­ten bei­de zur „Deut­schen Demo­kra­ti­schen Par­tei”, die als Erbin der Links­li­be­ra­len des Kai­ser­reichs galt, und fühl­ten sich in die­ser poli­ti­schen Hei­mat unbe­haust, aber anders als Weber zog es Rathen­au in die prak­ti­sche Poli­tik. Als die Frie­dens­be­din­gun­gen der Sie­ger bekannt wur­den, hat­te er als einer der weni­gen eine levée en mas­se gefor­dert und von dem Gedan­ken nur wegen der Aus­sichts­lo­sig­keit Abstand genom­men. Er ver­trat in der Fol­ge die Mei­nung, man müs­se wegen der Fort­set­zung des Krie­ges gegen Deutsch­land – „alle gegen einen, wenn auch ohne Spreng­stof­fe” – einen „drit­ten Weg” beschrei­ten, um den Wie­der­auf­stieg der Nati­on vor­zu­be­rei­ten. Dazu bedür­fe es unbe­dingt der Ein­glie­de­rung des Pro­le­ta­ri­ats in eine neue Form von orga­ni­sa­to­ri­schem „Sozia­lis­mus” und einer unab­hän­gi­gen Füh­rungs­klas­se der „wirk­lich Klu­gen und … Stärks­ten” . Wie Weber zwei­fel­te Rathen­au an der Fähig­keit des Par­la­ments zur Eli­ten­aus­wahl, glaub­te aller­dings auch nicht an die heil­sa­me Kraft des Cha­ris­mas. Sei­ner Auf­fas­sung nach muß­te man das preu­ßi­sche Prin­zip abso­lu­ter Sach­lich­keit auf den natio­na­len Mas­sen­staat des 20. Jahr­hun­derts übertragen.

Ein fran­zö­si­scher Autor der Zwi­schen­kriegs­zeit hat die­ses Kon­zept als „aris­to­kra­ti­schen Natio­na­lis­mus” (Edmond Ver­meil) bezeich­net und im Grun­de nur einen Unter­schied zu Hit­lers Welt­an­schau­ung gese­hen: das Feh­len des ple­be­ji­schen Ele­ments und mit­hin des Anti­se­mi­tis­mus. Das war ohne Zwei­fel eine Ver­kür­zung, aber nur weni­gen Zeit­ge­nos­sen erschien Rathen­au als Libe­ra­ler im ortho­do­xen Sinn, sei­ne Fein­de auf der Rech­ten irri­tier­te nicht zuletzt, daß er, der Jude, Vor­stel­lun­gen ver­trat, die ihren eige­nen zum Ver­wech­seln ähnel­ten. Ernst von Salo­mon, der an der Ermor­dung Rathen­aus 1922 betei­ligt war, hat sogar über­lie­fert, Hart­mut Plaas, der Stabs­chef Kapi­tän Ehr­hardts, habe im nach­hin­ein geur­teilt „Rathen­au war ein Faschist” . Das ent­sprach in man­cher Hin­sicht der Auf­fas­sung, zu der auch Salo­mon gekom­men war, der immer her­vor­hob, die Ver­schwö­rer hät­ten den Mord nicht aus anti­se­mi­ti­schen Moti­ven began­gen, son­dern weil man Rathen­aus Stra­te­gie mit „Erfül­lungs­po­li­tik” ver­wech­sel­te. Im Rück­blick mein­te er: „Rathen­au war der ein­zi­ge Mann, der fähig gewe­sen wäre, Deutsch­land zu sich selbst zurückzuführen …” .

Abbil­dun­gen, von oben nach unten: Fest­set­zung und öffent­li­che Demü­ti­gung des poli­ti­schen Geg­ners, 1933; ita­lie­ni­sches Pla­kat von 1944 zur Erin­ne­rung an die Auf­stands­be­we­gung von 1849 und das Risor­gi­men­to; lin­ke Rathen­au-Kari­ka­tur, 1919.

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