Die Gründe dafür liegen offen zu Tage: Der Faschismus hat die zentralen Vorstellungen des Liberalismus bekämpft und, wo er zur Macht kam, für die Beseitigung liberaler Verfassungen gesorgt. Aus seiner Sicht waren Parlamentarismus und öffentliche Diskussion Symptome des Verfalls, das Postulat unaufgebbarer Menschenrechte nichts als ein Täuschungsmanöver der Bourgeoisie zum Zweck der Herrschaftssicherung.
Die klaren Konturen dieses Bildes verwischen allerdings, sobald man die historische Beziehung zwischen Faschismus und Liberalismus genauer betrachtet. Regelmäßig gelangten die Faschisten als Erben eines kollabierenden liberalen Systems an die Macht. Es gab dann durchaus einzelne Liberale, die gegen den Vorgang Widerstand leisteten – in Italien etwa den zuletzt ermordeten Journalisten Giovanni Amendola -, aber auch Überläufer, die der Meinung waren, in einer postliberalen Ära habe man keine Alternative mehr zum Faschismus. So hat Mussolinis erster Unterrichtsminister, Giovanni Gentile, Schüler des großen liberalen Historikers Benedetto Croce und Professor der Philosophie, die Auffassung vertreten, daß der Faschismus im Sinne Hegels eine neue Synthese bilde, die aus der Dialektik von Liberalismus und Reaktion entstehen mußte. Gentile glaubte, daß die Bewegung weiterführe, was mit der liberalen Nationalbewegung und dem Risorgimento begonnen habe, aber unter den Bedingungen des modernen Massenstaates nicht die älteren Formen des Liberalismus bewahren konnte.
Von dieser geschichtsphilosophischen Deutung klar zu unterscheiden sind die Positionen jener Liberalen, die nicht den Faschismus als System, aber die Person Mussolinis bewunderten und in ihm den Kopf einer „kommissarischen” Diktatur sahen, die die Ordnung wiederherstellen und die Modernisierung des Landes erzwingen werde. In diese Reihe gehört der deutsche Journalist Emil Ludwig, der mit einem Interview-Band eine der einflußreichsten Darstellungen des duce in der Zwischenkriegszeit lieferte. In der Einleitung hieß es: „Als Individualist par excellence wäre ich niemals Faschist geworden, trenne aber von diesem persönlichen Punkt die Erkenntnis ab, daß diese Bewegung für Italien Großes geleistet hat.” Ludwig wollte sein Urteil übrigens ausdrücklich nicht auf Deutschland übertragen wissen und beharrte noch im Exil darauf, Mussolini (und Stalin) gegen Hitler positiv abzusetzen.
Ein weniger bekannter Fall ist der des Nationalökonomen Ludwig von Mises, der seine radikale Verteidigung des Marktes mit einer Kritik des modernen Wohlfahrtsstaates verband und unter dem Eindruck der Oktoberrevolution dem „Faszismus” ein relatives historisches Recht zubilligte. Dessen Gewaltakte im Kampf gegen die äußerste Linke sah Mises als notwendige Begleitumstände an, bedachte man die Auswirkungen des bolschewistischen Terrors. Eine gewisse Besorgnis errege allerdings, daß der Faschismus die Vorläufigkeit seiner Funktion nicht begreifen wollte. In seinem 1927 erschienenen Buch Liberalismus schrieb Mises: „Es kann nicht geleugnet werden, daß der Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und daß ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. Das Verdienst, das sich der Faszismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben. Doch die Politik, die im Augenblick Rettung gebracht hat, ist nicht von der Art, daß das dauernde Festhalten an ihr Erfolg versprechen könnte. Der Faszismus war ein Notbehelf des Augenblicks; ihn als mehr anzusehen, wäre ein verhängnisvoller Irrtum.”
Es sei am Rande erwähnt, daß Mises wie Ludwig jüdischer Herkunft war und wegen der Rassenideologie eine deutliche Trennung zwischen dem Faschismus im allgemeinen und dem Nationalsozialismus vollzog. Entscheidender für unseren Zusammenhang ist allerdings, daß sie zu den Nachzüglern einer Strömung gehörten, die sich schon im Liberalismus des 19. Jahrhunderts angebahnt hatte. Als strange liberalism (Roger Boesche) kann man die Geisteshaltung von Männern wie Ernest Renan, Hippolyte Taine, Max Weber, Walther Rathenau, Gaetano Mosca oder Vilfredo Pareto bezeichnen, die alle aus den bürgerlich-liberalen Traditionen herkamen, aber schon vor dem Ersten Weltkrieg an ihren Idealen irre wurden. Das hat entweder zur Resignation (Renan, Taine, Mosca), zum Versuch einer Modifikation (Weber, Rathenau ) oder – wenn der Aufstieg des Faschismus noch erlebt wurde – zu einer gewissen und bezeichnenden Annäherung (Pareto) geführt.
Besonders aufschlußreich für diesen Zusammenhang ist der Fall Webers. Da er bereits 1920 starb, hat er nur die Frühform des neuen völkischen Radikalismus wahrnehmen können, dem er mit einer Mischung aus Widerwillen und Ratlosigkeit gegenüberstand. Als Graf Arco-Valley den Kopf der Münchener Räterepublik, Kurt Eisner, erschoß, bekannte Weber sich ausdrücklich zu seinem Widerwillen gegen Eisner und zu seiner Sympathie für Arco-Valley. Trotzdem war er der Meinung, daß Arco-Valley hätte hingerichtet werden müssen, denn ein Mord bleibe ein Mord und Milde dürfe in solchen Fällen nicht Schule machen. Damit ist aber nicht alles gesagt. Das von Webers Witwe überlieferte Gespräch mit Ludendorff läßt noch viel deutlicher erkennen, wie weit Weber sich am Ende seines Lebens von den Positionen des klassischen Liberalismus entfernt hatte. Wilhelm Hennis legte in seiner Analyse Max Webers Fragestellung überzeugend dar, daß er längst keinen einzigen liberalen Kerngedanken mehr vertrat: weder die Lehre vom Naturrecht, noch den Glauben an „Werte”, weder die Überzeugung, daß der Fortschritt den Lauf der Geschichte bestimme, noch daß es ökonomische Gesetze an sich gebe. Weber war von Nietzsches Denken tief beeinflußt, von der Überzeugung, daß fast alles auf den Willen ankomme, daß die geschichtliche Lage über Möglichkeit oder Unmöglichkeit des politischen Handelns entscheide und daß ein Volk sich nur in der Sphäre des Politischen halten könne, wenn es dazu alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einsetze.
Webers Nationalismus und seine Vorstellung von einer plebiszitären Führerdemokratie haben früh Debatten darüber ausgelöst, ob man ihn als „Präfaschisten” zu betrachten habe. Das wurde von Ernst Nolte bejaht und von Wolfgang Mommsen verneint. Auffallend ist dabei, daß Mommsen eigentlich nur darauf vertraute, daß Weber aus „persönlichen” Gründen ein Gegner des Faschismus geworden wäre. Nimmt man eine Äußerung, die er machte, nachdem er als Mitglied der deutschen Delegation aus Versailles heimgekehrt war – „Zur Wiederaufrichtung Deutschlands in seiner alten Herrlichkeit würde ich mich gewiß mit jeder Macht der Erde und auch mit dem leibhaftigen Teufel verbünden, nur nicht mit der Macht der Dummheit.” -, hätte den Ausschlag wohl eher gegeben, für wie „dumm” Weber den Faschismus halten mußte.
Von der Position Webers ist die Rathenaus zu trennen. Zwar gehörten beide zur „Deutschen Demokratischen Partei”, die als Erbin der Linksliberalen des Kaiserreichs galt, und fühlten sich in dieser politischen Heimat unbehaust, aber anders als Weber zog es Rathenau in die praktische Politik. Als die Friedensbedingungen der Sieger bekannt wurden, hatte er als einer der wenigen eine levée en masse gefordert und von dem Gedanken nur wegen der Aussichtslosigkeit Abstand genommen. Er vertrat in der Folge die Meinung, man müsse wegen der Fortsetzung des Krieges gegen Deutschland – „alle gegen einen, wenn auch ohne Sprengstoffe” – einen „dritten Weg” beschreiten, um den Wiederaufstieg der Nation vorzubereiten. Dazu bedürfe es unbedingt der Eingliederung des Proletariats in eine neue Form von organisatorischem „Sozialismus” und einer unabhängigen Führungsklasse der „wirklich Klugen und … Stärksten” . Wie Weber zweifelte Rathenau an der Fähigkeit des Parlaments zur Elitenauswahl, glaubte allerdings auch nicht an die heilsame Kraft des Charismas. Seiner Auffassung nach mußte man das preußische Prinzip absoluter Sachlichkeit auf den nationalen Massenstaat des 20. Jahrhunderts übertragen.
Ein französischer Autor der Zwischenkriegszeit hat dieses Konzept als „aristokratischen Nationalismus” (Edmond Vermeil) bezeichnet und im Grunde nur einen Unterschied zu Hitlers Weltanschauung gesehen: das Fehlen des plebejischen Elements und mithin des Antisemitismus. Das war ohne Zweifel eine Verkürzung, aber nur wenigen Zeitgenossen erschien Rathenau als Liberaler im orthodoxen Sinn, seine Feinde auf der Rechten irritierte nicht zuletzt, daß er, der Jude, Vorstellungen vertrat, die ihren eigenen zum Verwechseln ähnelten. Ernst von Salomon, der an der Ermordung Rathenaus 1922 beteiligt war, hat sogar überliefert, Hartmut Plaas, der Stabschef Kapitän Ehrhardts, habe im nachhinein geurteilt „Rathenau war ein Faschist” . Das entsprach in mancher Hinsicht der Auffassung, zu der auch Salomon gekommen war, der immer hervorhob, die Verschwörer hätten den Mord nicht aus antisemitischen Motiven begangen, sondern weil man Rathenaus Strategie mit „Erfüllungspolitik” verwechselte. Im Rückblick meinte er: „Rathenau war der einzige Mann, der fähig gewesen wäre, Deutschland zu sich selbst zurückzuführen …” .
Abbildungen, von oben nach unten: Festsetzung und öffentliche Demütigung des politischen Gegners, 1933; italienisches Plakat von 1944 zur Erinnerung an die Aufstandsbewegung von 1849 und das Risorgimento; linke Rathenau-Karikatur, 1919.