ist leicht erklärt: Sezession erscheint so selten und ist so weit vor jeder Tagespolitik angesiedelt, daß die Arbeit an ihr nicht von Trends, Moden oder politischen Klimaschwankungen bestimmt wird.Der Blick auf den nunmehr zu Ende gebrachten Jahrgang 2010 zeigt: Ein »Faschismus«-Heft (Februar) hätte auch zwei Jahre früher oder später erscheinen können, »Sexpolitik« (Juni) lag als Idee schon längere Zeit in der Schublade und rückte anläßlich der neuerlichen Gender-Wahn-Schübe und der Debatte um den Kindesmißbrauch an die Stelle der angekündigten »Geopolitik«. Für das Oktober-Heft dann diktierte uns die Großwetterlage nur den Titel, nicht den Inhalt. Jene »Alternativen nach 45« oder »Alternativen von rechts« sind wie geplant Thema des Heftes – die Redaktion entschied sich erst kurz vor Druckbeginn für das Stichwort »Konservativ «, weil Roland Kochs anmaßende Begriffsbesetzung nicht unbeantwortet bleiben sollte: Sein Buch mit dem Titel Konservativ hat mit dem Sinn dieses Wortes nichts zu tun.
Mittlerweile muß man fragen: Was war da einst mit Kochs Buch? Es ist doch schon wieder verschwunden aus der CDU-internen Debatte (die gar keine richtige war). Wenn es hochkommt, sind ein paar tausend Exemplare von diesem Profilierungsversuch verkauft worden – weniger jedenfalls als von Karlheinz Weißmanns Das konservative Minimum. Das Sezession-Themenheft »Konservativ« aber gilt, wenn wir den Leserzuschriften glauben dürfen, als eines unserer besten, als gültiger Überblick über das, was nach 1945 an konservativen Strömungen virulent war und es teilweise noch ist.
Wir erzählen, wir klären, wir erinnern, wir deuten, wir fassen zusammen, wir tradieren, wir halten fest: So arbeitend haben wir für 2011 die drei Themenhefte bestimmt und den Kernbestand der Artikel notiert (siehe nebenstehend): im Februar »Islam«, im Juni »Carl Schmitt« (die Reihe unserer personenbezogenen Hefte fortsetzend: Spengler, Eliade, Jünger, Lorenz), im Oktober »Konservative Revolution« – ein Programm, das sich nicht rechtfertigen muß und das auch dann angemessen bleibt, wenn beispielsweise im Frühsommer das Finanzsystem zusammenbricht oder bei vorgezogenen Wahlen die Grünen ihre erste BundeskanzlerIn stellen. Solches zunächst zu kommentieren und in seiner momentanen Bedeutung aufzuwerten, bleibt Tages- und Wochenzeitungen, Magazinen und Trendverlagen vorbehalten.
Sezession ist dem »Diktat der Welt« (Adorno) nicht im selben Maße unterworfen: Was wir bedenken und veröffentlichen, kann nicht unmittelbar benutzt und damit vernutzt werden, und wir sind uns sicher, daß unsere Abonnenten und Gelegenheitsleser Sezession aufblättern, um durch die Oberfläche auf den Grund zu kommen.
Ja nun: Das klingt alles ein bißchen zu fern, zu waldgängerisch, zu abgewandt und zu desillusioniert (»dennoch die Schwerter halten«/ Gottfried Benn usw.). Das Jahr 2010 wird uns allen doch als denkwürdiges Jahr in Erinnerung bleiben, als Jahr, in dem wir uns jäh und elektrisiert dem »Diktat der Welt« unterwarfen, wenigstens für ein paar lange Wochen. Denn als der Sommer schon beinahe keiner mehr war, Mitte August, veröffentlichten Bild und Spiegel Vorabdrucke aus Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab, und plötzlich begann »unser Weizen zu blühen«, wie wir hier zu sagen pflegen: Die Sarrazin-Studie des Instituts für Staatspolitik (immerhin Herausgeber der Sezession und zur Hälfte mit der Redaktion identisch) hat sich 10 000 Mal innerhalb von sechs Wochen verkauft, Themen wie »Deutschenfeindlichkeit«, »Überfremdung« oder »Parteigründung von rechts« sind diskutabel geworden.
Wir wußten, daß wir diesen Moment nicht ungenutzt verstreichen lassen durften, und haben innerhalb weniger Wochen das Sonderheft »Sarrazin lesen« erstellt – früher als jede andere Institution, die uns wichtigen Aspekte der Debatte abdeckend, in eingespielter Zusammenarbeit zwischen Redaktion, Autoren, Satz und Druck. »Eingespielt« – das ist nichts Selbstverständliches, das ist der Beweis für unsere Arbeitsfähigkeit auch unter Druck, für Aufbauarbeit und Organisationsstrukturen. Das ist viel, das können wir nach jahrelanger Erfahrung mit auftretenden und wieder verschwindenden Verlagen, Zeitschriften, Projekten, Initiativen sehr wohl beurteilen.
Wir packen zu, spitzen zu, stoßen zu, wir sind nicht aus der Welt, nicht im Elfenbeinturm, stecken nicht in der Aussichtslosigkeit eines »ehernen Zeitalters« fest: Zum Selbstzweck tritt der Zweck, dieser »Doppelcharakter der Bildung« (wiederum Adorno) scheint auf, wir tun etwas, wollen etwas, halten etwas für möglich. Goethe hat die Architektur seines Dramas über den urdeutschen Faust-Stoff nach dem Prinzip von Systole und Diastole des Herzschlags angelegt: Anspannung/Endspannung, Ausstoßphase/Füllungsphase, Speere schleudern/ Speere spitzen — so kann es weitergehen, und vielleicht kommt es doch so, daß – sollte der Euro das nächste Jahr nicht überstehen – wir das Füllungs- und Substanzheft »Konservative Revolution« zugunsten eines Anspannungsund Ausstoß-Heftes verschieben.