Sie schlug sich auch in einem Briefwechsel nieder, der jetzt in einer Edition Reinhard Mehrings vorliegt (»Auf der gefahrvollen Straße des öffentlichen Rechts«. Briefwechsel Carl Schmitt – Rudolf Smend 1921–1961. Mit ergänzenden Materialien, Berlin: Duncker & Humblot 2010. kart, 14 SW-Abbildungen auf Tafeln, 208 S., 28.00 €). Der Anlaß der Publikation war wohl nicht nur das fortdauernde Interesse an Schmitt, sondern auch die Bedeutung Smends für die Entwicklung der deutschen Staatsrechtslehre des 20. Jahrhunderts. Trotzdem muß man feststellen, daß die Korrespondenz inhaltlich wenig Ertrag bietet, sehr viel weniger als etwa die zwischen Schmitt und Ernst Forsthoff.
Das hat mit einer gewissen Fixierung der Briefpartner auf das akademische Klein-Klein zu tun, vor allem aber mit der bleibenden persönlichen Distanz. Die kann man auf den – geringen – Altersunterschied zurückführen, der Smend einen Vorsprung in der Universitätskarriere verschaffte, was Schmitt anfangs in die Rolle des Bittstellers zwang, aber auch mit politischen Differenzen. Es gab für Schmitt sicher Gründe anzunehmen, daß er mit Smend ebenso einig gehe gegen jede »Restauration des Liberalismus«, wie in bezug auf »konservative Anständigkeit« und vielleicht sogar ein »römisches« Verständnis des preußischen Staatsethos. Aber am gegenreformatorischen Zug in Schmitts Denken schieden sich die Geister. Smend war bewußter evangelischer Christ, hatte deutliche Vorbehalte gegenüber der Weimar Demokratie, pflegte aber einen Vernunftrepublikanismus. Schmitts undurchsichtigem Taktieren in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren, seiner nie ganz klaren Haltung zum Zentrum stand er mit Mißtrauen gegenüber. Erst recht lehnte er Schmitts Anschluß an Hitler ab, obwohl der im Briefwechsel kaum thematisiert wird, während Schmitt sich – aus ebenfalls nicht ganz deutlich werdenden Motiven – durch Smend düpiert glaubte und bis zum Bruch mit dem Regime seine überlegene Position zur Geltung bringen wollte. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre kam es zu einer gewissen Wiederannäherung, aber Schmitts Haltung nach dem Zusammenbruch führte zu neuerlicher Entfremdung.
Anders als Schmitt betrachteten die Siegermächte Smend als unbelastet, er konnte seine Tätigkeit ungebrochen fortsetzen und übte bald wieder nachhaltigen Einfluß auf die juristische Disziplin der Bundesrepublik aus. Er unterstützte in gewissem Maß Schmitts Bemühen um eine reguläre Pensionierung, aber ließ doch durchblicken, daß er dessen Selbstdeutung »aus der Zelle« ablehnte und ein Schuldeingeständnis erwartete. Eine Rehabilitierung oder Wiederaufnahme in die Staatsrechtslehrervereinigung lehnte er jedenfalls ab, was letztlich auch den Bruch zwischen beiden Anfang der sechziger Jahre erklärt, der – soweit das die Unterlagen zeigen – von Schmitt ausging.
Vor dem Hintergrund erklärt sich auch die oben zitierte Äußerung Schmitts über den zentralen Begriff »Integration« in der Verfassungslehre Smends. Diese wurde niemals ausgeführt, sondern nur als »Rahmen« vorgelegt, der der Klärung der zentralen Beziehung zwischen Individuum und politischer Gemeinschaft dienen sollte. Jene könne – so Smend – nicht als »ein in sich beruhendes kollektives Ich« betrachtet werden, sondern bloß als »Einheitsgefüge individuellen Lebens, verstehbar nur als das Wesen der Einzelnen wie des Ganzen fließend realisierende und wandelnde Dialektik«. Das »Zusammenspiel« von Einzelnem und Staat war seit je ein heikles, niemals ganz fixiert, aber Smend legte Wert auf die Feststellung, daß seine Auffassung von der zentralen Bedeutung der Integration eigentlich erst durch die »Anschauung des Chaos des kranken Verfassungsstaates der 1920er Jahre« entstanden sei. Sie diente der Abwehr einer positivistischen Rechtsauffassung, die außerstande war, »Verfassung« im vollständigen Sinn zu begreifen, das heißt auch jene Bedingungen politischer Existenz einzubeziehen, die außerhalb der rechtlichen Sphäre lagen und die Zustimmung der Beherrschten zur Herrschaft, des Bürgers zur res publica überhaupt erst garantieren.
Smend verwies in dem Zusammenhang ausdrücklich auf Hermann Heller, der seinerseits eine Staatslehre gefordert hatte, die »die empirische Erlebbarkeit und Verstehbarkeit des Staates in der Totalität seiner sozialen und damit auch rechtlichen Beziehungen« leistete. Ohne Zweifel enthielt dieser Verweis auf seinen Kontrahenten eine Spitze gegen Schmitt, dessen Analyse der inneren Widersprüche des Weimarer Systems von Smend zwar genannt, aber nicht gewürdigt wurde.
Smend hat Mitte der sechziger Jahre darauf hingewiesen, daß sich die Situation gegenüber der Zwischenkriegszeit deutlich verändert habe. Weimar erschien ihm jetzt nur noch als »Sonderfall« jenes »weitgehenden Zerfalls«, einer »Desintegration« im Vollsinn, die alle Bereiche von Volk, Staat und Kirche erfaßt: »Auch wenn sie bestehen bleiben, werden sie so sehr kritisch durchdacht, ›rationalisiert‹, daß der Einzelne ein neues positives Verhältnis zu ihnen nur durch eine bewußte Eingliederung, eine Integration, gewinnt.« In der Beurteilung dieser Situation schwankte Smend zwischen der grundsätzlichen Hochschätzung jener »Verfassungen, die mit kraftvollem politischem Auftrieb des Volkswillens rechnen konnten«, eben weil die Integration im wesentlichen unbewußt ablief, und der Notwendigkeit, in einer technischen Welt die »Lebenswirklichkeit« des Staates als »Lebenswirklichkeit des Integrationsprozesses« durch reflektierte Entscheidung der Einzelnen zu gewährleisten.
Es war dieses Einerseits-Andererseits, das die Kritik Schmitts herausfordern mußte. Denn schon Smends Unterscheidung zwischen »persönlicher«, »funktioneller« und »sachlicher Integration« (die nicht von ungefähr an Max Webers Herrschaftstypen erinnert), zwang zu der Annahme, daß der große Modernisierungsprozeß die persönliche Integration strukturell verändert hatte, weg von der traditionellen Monarchie oder dem Paternalismus, hin zu einem neuen charismatischen Führertum, während sich die funktionelle Integration unter den Bedingungen der Massengesellschaft nicht mehr auf traditionelle Loyalität und vaterländische Gesinnung verlassen konnte, sondern die Anwendung unerprobter Mittel positiven und negativen Zwangs nahelegte, und die Vorstellung eines »politischen Wertganzen«, das die sachliche Integration aufrufen kann, einem unaufhaltsamen Verschleiß ausgesetzt war.
In seiner Verfassungslehre von 1928 hatte Smend darauf hingewiesen, daß die Rede von den Zwecken des Staates nur dann sinnvoll sei, wenn man annehme, daß die »Realisierung aller ideellen Sinngehalte … Gemeinschaft voraussetze«. Unter den Bedingungen eines Nationalstaats mit einer nach Millionen zählenden Bevölkerung sei das Bewußtsein solcher Gemeinschaft aber nur mit Hilfe der »gesteigerte[n] Integrationskraft eines symbolisierten Sachgehalts« erreichbar, der von den vielen »als irrationale und individuelle Fülle mit besonderer Intensität erlebt« werde. Schmitt hätte dem grundsätzlich zugestimmt, was man seiner Arbeit Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus im Negativen, der Schrift Staat, Bewegung, Volk im Positiven entnehmen kann. Allerdings gingen seine Erwartungen deutlich weiter als die Smends, stand für ihn dahinter die Hoffnung, der fatalen Rücksicht auf die »Zwischengewalten « irgendwann, irgendwie entrinnen zu können. Schon in einem der ersten Briefe an Smend, datiert auf den 25. Mai 1924, äußerte Schmitt mit überraschender Deutlichkeit, daß für ihn letztlich »alle gute Politik Kabinettspolitik « sei, »alle ›öffentliche‹ Politik auf beiden Seiten hinkt und nach zu vielen Seiten schielt, um ein großes Ziel im Auge zu behalten«.
Das war im Grund als vollständige Absage an die politische Moderne zu verstehen, die Schmitt gegenüber Smend bereits zur Geltung gebracht hatte, als er die Reihung »Integration – dynamisch – moderner Staat« der anderen »Repräsentation – statisch – antiker Staat« gegenüberstellte. Smend seinerseits attestierte Schmitt, daß der im Grund »eine antikisierende Betrachtungsweise … in glänzender Form repristiniert« habe. Es lag in der Feststellung allerdings auch ein Verdikt, denn Schmitts Konzept schien zwar geeignet, die Lage zu analysieren, bot aber keine Abhilfe. Umgekehrt glaubte Smend mit seiner Integrationslehre eine solche Abhilfe gefunden zu haben, um der Tendenz zum Staatszerfall entgegenzuwirken – ein Optimismus, den man angesichts der Gesamtentwicklung des letzten Jahrhunderts kaum teilen wird.
Denn wenn man voraussetzt, daß »Integration« auf »Herstellung eines Ganzen« zielt, dann haben zuerst Individualisierung und Atomisierung und dann eine Pluralisierung der ethnischen und kulturellen Zusammensetzung, die selbst Schmitt überrascht hätte, jede Vorstellung von einem »Ganzen« ungeheuer erschwert. Das politische Kardinalproblem ist also nicht neu, aber im Kontext der Einwanderungsdebatte scharf konturiert hervorgetreten, und an jeder offiziellen Stellungnahme – etwa aus Anlaß der jüngsten Integrationskonferenz der Bundesregierung – bleibt abzulesen, daß es an einer hinreichend klaren Definition jener Größe fehlt, auf die hin Integration erfolgen soll. In einem programmatischen Text, den Rainer Brüderle als Minister für Wirtschaft und Technologie unlängst veröffentlicht hat, ist wahlweise von »Deutschland«, »der Gesellschaft«, den »hier lebenden Menschen« als Bezug die Rede. Es handelt sich um Leerformeln und entsprechend sehen auch die Vorschläge aus, wie die Integration durchgeführt und woran ihre praktischen Erfolge gemessen werden sollen: von der Forderung nach Beherrschung der Hauptverkehrssprache über das diffuse Bekenntnis zu »Werten« bis zum Wunsch nach emotionaler Beheimatung. Immerhin ist Brüderle ehrlich genug, zu sagen, daß das alles nur Dekor ist und es im Kern um das »Chancenland« geht, dessen »Leitbild« einzig dazu dient, »gezielt Menschen mit hohem Chancenpotential für Deutschland zu interessieren«, auf daß sie Teil jenes je ne sais quoi (dt. etwa »das unbestimmbare, gewisse Etwas«) werden, dem sich alle Dauerbewohner – ganz gleich ob mit oder ohne Migrationshintergrund« – verpflichtet fühlen.
Im Sinne Smends kann damit weder von persönlicher noch von sachlicher Integration gesprochen werden, nur von funktioneller. Der Imperativ lautet: Integriere dich, damit du am wirtschaftlichen Erfolg teilhast. Gegen die Annahme, daß ein solches Konzept aufgeht, ist seit dem 19. Jahrhundert – angesichts des Aufstiegs von Plutokratie und Massengesellschaft – vieles vorgetragen worden. Allerdings wird man zugeben müssen, daß der Rückgriff auf das Modell des homo oeconomicus unter heutigen Umständen einiges für sich hat, oder, um genau zu sein: für die Politische Klasse alternativlos scheinen muß.
Was ist damit gemeint? In den letzten Jahrzehnten hat man nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen westlichen Welt die große Integrationsleistung des modernen Nationalstaats systematisch abgebaut. Die beruhte im wesentlichen auf jener sachlichen Integration, die ein Fundus an gemeinsamen Erfahrungen, gemeinsamen Erlebnissen, gemeinsamer Erziehung ermöglichte. Der Weg dahin war nirgends in Europa schmerzfrei, führte zur Unterdrückung, zum Ausschluß oder zum Kompromiß mit widerstrebenden Gruppen, aber diese »Kulturkämpfe« hatten eine Rechtfertigung insofern, als sie letztlich einen in der Geschichte des Kontinents einmaligen Zustand innerer Pazifizierung ermöglichten und jenes latent vorhandene Ganze zur Geltung brachten, das man als Nation bezeichnet.
Daß diese Integration das Ergebnis einer ungeheuren Anstrengung des modernen Staates war, wurde lange Zeit verkannt, entweder weil man einem romantischen Bild vergangener Homogenität anhing, oder weil man glaubte, es handele sich um die notwendige Folge eines selbstlaufenden Prozesses. Erst der deutlicher werdende Zerfall des integrierten Ganzen macht erkennbar, welche Probleme dadurch entstehen, daß mit der Integration nicht nur Alphabetisierung und Verhaltenskodex, sondern auch die Befriedung in Frage gestellt werden. Man hat diesen Vorgang als Teil einer großen Emanzipation zu deuten versucht, sieht sich aber mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert, die dieser optimistischen Auffassung widersprechen und von denen nicht mehr abzulenken ist: angefangen beim Zerfall des Bildungswesens über die Entstehung von Sondergruppen in Sonderräumen mit Sonderrechten bis hin zur Notwendigkeit, immer massivere Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen, die an Orwells schwarze Utopie erinnern.
Da die Desintegration so dramatisch fortschreitet, gibt es aus Sicht des Establishments nur die Möglichkeit, das Tempo zu erhöhen, entweder weil man ernsthaft mit einem dialektischen Umschlag rechnet, oder weil man den Prozeß unumkehrbar machen will. Der Aufgabe der Integration ist nicht zu entkommen, aber man hofft, daß die Beschränkung auf funktionale Aspekte genügt. Die Geschichte lehrt, daß diese Erwartung irrig ist, daß das Kalkül, den Menschen bestimme nur das Kalkül, nicht aufgeht. Ganz gleich, welche Population, welcher Herkunft, welcher Sprache, welcher Religion, dieses Gebiet in Zukunft besiedelt, sie bedarf der Vorstellung ihrer Einheit und einer Ordnung, die sie als legitim ansehen kann.
Angesichts unserer Lage wird man zugestehen müssen, daß der von Schmitt in Anspruch genommene »Instinkt der Realität« eher für seine, ungleich skeptischere Einschätzung spricht, als für Smends menschlich sympathischere, in vielem aber unbegründet optimistische Deutung einer Entwicklung, die das bis dato selbstverständliche Maß an Staat und Integration in Frage stellt. Integration gehört zu den soft skills des Politischen, staatliche Leistung im Normalfall, Schmitt dachte vom Ernstfall aus.