Schuld daran ist China. »Warum«, so fragt er stellvertretend für alle, die das liberal-kapitalistische Demokratie-Modell für das Ende der Geschichte halten, »warum gehorcht ein Land nach dreißig Jahren hochprozentigen Wachstums noch immer dem Einparteienstaat?
Wie kann man mit einem Bein (Kapitalismus) sprinten, mit dem anderen (Demokratie) lahmen?« Schließlich habe die Geschichte doch gezeigt, daß Deutschland, Rußland und Japan als die drei Nachzügler bei der demokratischen Entwicklung zwar im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter Freiheitsentzug rasanter gewachsen seien als die anderen, der Preis für ihren politischen Rückstau sei aber im frühen 20. Jahrhundert fällig geworden: Revolution (Deutschland und Rußland). Wie also könne Chinas KP »solche Gesetzmäßigkeit« aushebeln?
Da Joffe keine der (westlichen) Vernunft gemäße Erklärung findet, tippt er auf Gehirnwäsche: »Jenseits des Wohlstands, der seit einer Generation anschwillt, ist es der Partei offenbar gelungen, dem Volk das richtige, das heißt staatstragende Bewußtsein einzupflanzen … Die Profiteure der kleinen Freiheiten, die aufsteigenden Klassen, haben die Zügel der Partei verinnerlicht; das Regime muß nicht zerren und züchtigen.« In Europa sei es unter Kaiser und Zar genau umgekehrt gewesen – je reicher das Land, desto lauter der Ruf nach politischer Teilhabe. In China indes habe, obwohl der Kommunismus tot sei, die KP noch immer recht. »Wie lange?« Mit dieser Frage gibt Joffe der Hoffnung Raum, mit dem westlichen Politik-Latein vielleicht doch noch nicht ganz am Ende zu sein. Im übrigen, so hatte er sich und seinen Lesern bereits früher Mut gemacht, könnten Errungenschaften wie beispielsweise der iPod nur von freien Individuen erfunden werden, nicht aber von Mitgliedern einer Gesellschaft, die im Kollektivismus verharre.
Derartige Einschätzungen sind typisch für jene Geschichtsvergessenheit und Überheblichkeit, mit denen der Westen jahrzehntelang die Weltpolitik dominiert hat. Kulminationspunkt war die historische Wende von 1989/90, die Francis Fukuyama im Zeichen des Triumphes der kapitalistischen Demokratien das »Ende der Geschichte« verkünden ließ – ein voreiliger Triumph, wie sich rasch herausstellte. Fragestellern wie Joffe hat Pekings stellvertretende Außenministerin Fu Ying daher die bündige Antwort erteilt: »Wenn Sie China immer an Ihren Maßstäben messen, und wenn Sie erwarten, China werde eines Tages wie der Westen sein, dann wird diese Hoffnung Sie immer wieder trügen … Sie sollten jedenfalls nicht glauben, daß alle in China ohne Gehirn herumlaufen. 1,3 Milliarden Menschen!«
Und in der Tat: Die Erfolge, die die Volksrepublik aufzuweisen hat, zeugen eindrucksvoll von dem großen politischen und ökonomischen Sachverstand, mit dem jenes Land regiert wird, das mit seinen geographischen Dimensionen von Norwegen bis Italien sowie von Frankreichs Atlantikküste bis zum Ural kontinentale Ausmaße hat. Als Deng Xiaoping 1978, zwei Jahre nach Mao Zedongs Tod, Abschied von dessen utopischen Träumen nahm und unter dem pragmatischen Motto »Es ist egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist – Hauptsache, sie fängt Mäuse« die Reformpolitik durchsetzte, wurden die Volkskommunen aufgelöst und die Märkte schrittweise auch für ausländisches Kapital geöffnet.
Ein rasanter Aufholprozeß begann, der mit jährlichen Wachstumsraten zwischen neun und elf Prozent innerhalb von dreißig Jahren dazu führte, daß sich das Durchschnittseinkommen der Chinesen, fast eines Fünftels der Weltbevölkerung, mehr als verzehnfacht hat. Nie zuvor in der Geschichte haben sich in so kurzer Zeit so viele Menschen von der Armut befreit – eine Leistung, die im Westen nie gerecht gewürdigt worden ist. Dabei sind Nahrung, Kleidung und ausreichender Wohnraum die elementaren Menschenrechte, die erfüllt sein müssen, um überhaupt ein Leben in Würde führen zu können. Wäre die chinesische Regierung den ständigen Einreden des Westens gefolgt und hätte nach dessen Modell parlamentarische Demokratie und individuelle Freiheitsrechte importiert, wäre das Riesenreich wohl – wie so oft in seiner bald fünftausendjährigen Geschichte – längst in bürgerkriegsartigen Wirren auseinandergebrochen. Heute hat China dank seines eigenen Entwicklungskonzepts Japan als zweitstärkste Wirtschaftsnation abgelöst, ist Export-Weltmeister und mit einem Devisenschatz von rund 2,5 Billionen Dollar der größte Gläubiger der USA.
Mögen Chinas Führer auch schwere Fehler begangen haben und, vor allem Mao nach 1949, die Verantwortung für entsetzliches Leid und immensen Schaden tragen, so genießen doch sie und die Partei, in deren Namen sie agierten, bis heute Achtung und großen Respekt. Schließlich weiß jeder Chinese, was er ihnen zu verdanken hat. »Mao Zedong«, so lautet das Credo, »hat uns von Feudalismus und kolonialer Ausbeutung und Unterdrückung befreit, Deng Xiaoping von der Armut.« Im gegenwartsfixierten Westen wird nur allzu leicht vergessen, daß Maos große Lebensleistung vor seiner Proklamation der Volksrepublik liegt: 1893 geboren, gehörte er 1921 zu den zwölf Gründungsmitgliedern der KP, die er von 1934 bis 1936 auf dem Langen Marsch quer durch China zu den Lößhöhlen von Yenan führte, von wo aus er zusammen mit Deng, Zhou Enlai und vielen anderen die »Volksbefreiungsarmee« erst im Guerillakampf gegen die japanischen Invasoren und später im Bürgerkrieg gegen die Truppen Tschiang Kai-scheks bis zum Sieg befehligte. Nach dem Tod des Republikgründers Sun Yat-sen (1925) hatte Generalissimus Tschiang dessen Erbe auch als Vorsitzender der Nationalen Volkspartei (Kuomintang) angetreten und war 1948/49 mit den letzten Getreuen auf die Provinz-Insel Taiwan (Formosa) geflüchtet, wo der Diktator samt korruptem Familienclan, von den USA finanziell und militärisch unterstützt, bis zu seinem Tod im Jahr 1975 so realitätsblind wie seine Gönner von der Rückeroberung des kommunistischen Festlandes träumte.
Maos politisches Leben läßt sich somit in zwei beinahe gleich lange Perioden einteilen: Die erste umfaßt 28 Jahre von der Gründung der KP (1921) bis zum Sieg im Bürgerkrieg, die zweite 27 Jahre vom Beginn des sozialistischen Aufbaus (1949) bis zu seinem Tod (1976). Die Verehrung, die er trotz katastrophaler Fehlentscheidungen – »Großer Sprung nach vorn« (1958), Kulturrevolution (1966 bis 1976) – in breiten Kreisen der Bevölkerung nach wie vor genießt, bezieht sich primär auf die erste Zeitspanne, denn es war vornehmlich Maos Verdienst, nach hundertjährigem Niedergang das einstige »Reich der Mitte« wieder aufgerichtet und stabilisiert zu haben. Innerer und äußerer Zerfall hatten 1840 nach der Niederlage im Opiumkrieg mit England begonnen und auch nach dem Sturz der mandschurischen Qing-Dynastie (1911) durch die von Sun Yat-sen initiierte bürgerliche Revolution und die erstmalige Gründung einer Republik nicht gestoppt werden können. Aufgrund zahlreicher »ungleicher Verträge « hatten Japan, die USA und die europäischen Mächte dem Drachenthron einen halbkolonialen Status aufgezwungen, während einheimische Feudalherren und warlords die weitgehend analphabetischen Bauernmassen nach wie vor ausplünderten und unterjochten.
In dem zum Mythos gewordenen Jahrzehnt von Yenan bauten Mao und seine Genossen in der nördlichen Provinz Schensi einen kleinen Sowjetstaat auf, in dem sie en miniature und wie in einer Lehrwerkstatt die Lösung politischer, militärischer, landwirtschaftlicher, industrieller und kultureller Probleme in Theorie und Praxis erprobten. Beim siegreichen Einzug in Peking verfügten sie daher über einen aus Marxismus und altchinesischen Weisheitslehren gespeisten Erfahrungsschatz, auf den sie sich bei der Umgestaltung des gigantischen Landes stützen konnten. Schon damals waren die sowjetrussischen Kommunisten ihren chinesischen Genossen mit Mißtrauen begegnet und hatten geargwöhnt, diese seien in Wahrheit »wie Radieschen: außen rot und innen weiß« – ein zutreffendes Urteil, wie sich spätestens nach Maos Tod herausgestellt hat. Der von Deng Xiaoping entwickelte »Sozialismus chinesischer Prägung« hat nichts mehr mit den Dogmen des orthodoxen Marxismus-Leninismus zu tun, sondern ist ein autoritärer und überaus erfolgreicher Staatskapitalismus, der mit Leistungsethos, Bildungsbeflissenheit, Disziplin, Fleiß, kindlichem Gehorsam und Ahnenkult wesentliche Elemente des wieder zu Ehren gekommenen Konfuzianismus aufgenommen hat. Hier zeigt sich einmal mehr, daß das nationale Erbe als geistiger Habitus stärker ist als alle ideologischen Lehrsätze.
Auch Mao Zedong, Meister der Kalligraphie und Könner in der klassischen Dichtkunst, war in erster Linie ein Sohn des ältesten Kulturvolkes der Welt und hatte versucht, den Marxismus zu sinisieren, indem er ihn mit traditioneller chinesischer Philosophie verband. Viele seiner Ideen haben bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt, so daß es angesichts der zu erwartenden Verschärfung innen- und außenpolitischer Konflikte von Nutzen sein kann, nach dem Beispiel Carl Schmitts das analytische Besteck zu vergrößern und von einem originellen Denker zu lernen. Schmitt hatte seine 1932 erschienene Schrift Der Begriff des Politischen dreißig Jahre später durch eine »Zwischenbemerkung« erweitert und in der Abhandlung Theorie des Partisanen Bezug auf Mao genommen – »den größten Praktiker des revolutionären Krieges und zugleich seinen berühmtesten Theoretiker«.
Ausgangspunkt für Maos Denken ist ein monistisches Weltbild, dessen permanente Dialektik das Ende offenläßt, Niederlagen einkalkuliert und das Ringen um eine bessere Ordnung als fortwährende Aufgabe begreift: »Leben ist Tod, Tod ist Leben. Gegenwart ist Vergangenheit und Zukunft, Vergangenheit und Zukunft sind Gegenwart. Yin ist Yang und das sich Wandelnde ist ewig … Der Widerspruch ist allgemein, absolut, er existiert in allen Entwicklungsprozessen der Dinge, er durchdringt alle Prozesse von Anfang bis Ende.« Daher werde der politische Kampf, auch in der Partei, immer wieder aufbrechen, denn: »Überall, wo Menschen leben – das heißt an jedem Ort außer in der Wüste –, teilen sie sich in die Linke, in der Mitte Stehende und Rechte. Das wird in zehntausend Jahren noch so sein.«
Bereits in Yenan hatte Mao 1937 die beiden grundlegenden Essays Über den Widerspruch und Über die Praxis verfaßt, um, wie es später in den Anmerkungen hieß, »die damals grassierenden Fehler einer dogmatischen Denkweise zu überwinden«. Ausführlich analysierte er Haupt- und Nebenwidersprüche der seinerzeitigen Gesellschaft und erklärte, wie sie geschickt zu lösen seien. Zwanzig Jahre später, nach dem Sieg der Revolution, aktualisierte Mao seine Thesen in der 1957 als Rede konzipierten Arbeit Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volk.
Zunächst legte er dar, wer unter den Bedingungen des sich neu formierenden Staates als »Feind« zu gelten habe und wer zum »Volk« gehöre. Die Gegensätze zwischen diesen beiden Protagonisten seien von Natur aus antagonistisch, könnten aber durch intelligente politische Maßnahmen entschärft und auf friedliche Weise gelöst werden. So waren in China 1956 beispielsweise alle kapitalistischen Industrie- und Handelsbetriebe in gemischt staatlich-private Unternehmen verwandelt worden, wobei der Staat den ehemaligen Eigentümern im Zuge einer Ablösepolitik für eine bestimmte Frist jährlich feste Zinsen für ihr eingebrachtes Kapital zahlte oder sie als Geschäftsführer mit Rendite-Beteiligung einsetzte. Bei den »Widersprüchen im Volk« unterschied Mao jene zwischen Arbeitern und Bauern, zwischen Arbeitern, Bauern und der Intelligenz, zwischen Regierung und Volk, Widersprüche innerhalb der Bauernschaft, innerhalb der Intelligenz, Widersprüche zwischen den Interessen des Staates, der Kollektive und der Einzelpersonen etc. All diese unterschiedlichen Interessenlagen seien im Prinzip nicht-antagonistischer Art, die auftauchenden Gegensätze könnten daher durch Überzeugungsarbeit und Reformen überwunden werden. Würden die Widersprüche jedoch mit falschen Methoden behandelt, könnten sie sich rasch zu antagonistischen Problemen entwickeln und Unruhen im Volk auslösen.
Diese als »Massenlinie« bezeichnete Politik gilt in Chinas Führungszirkeln nach wie vor als oberste Regierungsmaxime und ist wesentlicher Teil ihres Erfolgsgeheimnisses. Es gehört zur Tragik Mao Zedongs, daß er sich, besonders in den letzen Lebensjahren, über die von ihm maßgeblich entwickelten Methoden hinweggesetzt hat. Statt das Gewicht auf den weiteren ökonomischen Aufbau zu legen, hetzte er aus realitätsblindem Subjektivismus und revolutionärer Ungeduld die »Roten Garden« zur Verschärfung des Klassenkampfes auf, wodurch die Volksrepublik wirtschaftlich und kulturell um mindestens ein Jahrzehnt zurückgeworfen wurde.
Heute hält der Westen den Chinesen eine aggressive und egozentrische Außenpolitik vor, weil sie rund um den Globus Rohstoffe aufkaufen, ohne sich um die Herrschaftspraktiken der jeweiligen Regierungen zu kümmern. Und in der Tat: Peking nimmt es mit den völkerrechtlichen Grundsätzen der Achtung der nationalen Souveränität sowie der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten genau, lehnt menschenrechtliche Belehrungen für sich und andere ab und hat keine imperialen Ambitionen. Diese Prinzipien waren Leitlinien der chinesischen Außenpolitik bereits in den sechziger und siebziger Jahren, als Peking besonders in Afrika Hilfe zur Selbsthilfe leistete.
Zu Kassandra-Rufen besteht daher ebensowenig Anlaß wie zu der von manchen Kosmopoliten gehegten Hoffnung auf ein »Ende der Geschichte «. Ein realistisches Zukunftsbild hat Martin Jacques, ehemaliger Kolumnist der Times, entworfen: »Mit dem Aufstieg Chinas als Kulturmacht werden wir eine weitreichende Verschiebung der globalen Werte erleben: Zivilisation vor Nationalismus; Staat vor Individuum; Geschichte vor Gegenwart; kulturelle Hierarchie vor militärischer Expansionspolitik. Die chinesische Kultur ist dazu berufen, umfassenden Einfluß auf die Welt auszuüben, und wird mit der Zeit zweifellos die gegenwärtige Kulturvorherrschaft Amerikas verdrängen.«