Faschismus – post

von Karlheinz Weißmann

„Wäre der Faschismus nicht in den Krieg eingetreten, hätte er meiner Überzeugung nach lange überdauert."

Als der His­to­ri­ker Ren­zo De Feli­ce die­se Mei­nung 1977 in einem Inter­view äußer­te, erreg­te das erheb­li­ches Auf­se­hen, zumal er als der bedeu­tends­te Ken­ner des ita­lie­ni­schen Faschis­mus galt. De Feli­ce begrün­de­te sei­ne Mei­nung mit einer schar­fen Unter­schei­dung von Faschis­mus und Natio­nal­so­zia­lis­mus, wies dar­auf hin, daß der Zwei­te Welt­krieg ursprüng­lich kei­ne ideo­lo­gi­sche, son­dern eine macht­po­li­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung gewe­sen sei und Mus­so­li­ni nicht dar­an dach­te, in einem Akt faschis­ti­scher Soli­da­ri­tät an die Sei­te Hit­lers zu tre­ten, son­dern um eine impe­ria­lis­ti­sche Kon­zep­ti­on im klas­si­schen Sinn zu ver­wirk­li­chen. Der Fehl­schlag die­ses Kal­küls habe das Regime in den Unter­gang geführt und alle Mög­lich­kei­ten einer stär­ke­ren Kon­sti­tu­tio­na­li­sie­rung des Faschis­mus verstellt.

De Feli­ce nahm damit Bezug auf den eigen­tüm­li­chen Sach­ver­halt, daß ein faschis­ti­sches Gre­mi­um – der „Groß­rat” der Par­tei – Mus­so­li­ni 1943 ent­mach­tet hat­te und das Ziel der Oppo­si­ti­on um Dino Gran­di ursprüng­lich ein Faschis­mus ohne Mus­so­li­ni war, der ein auch für die West­mäch­te akzep­ta­bles Sys­tem hät­te auf­bau­en können.

Die­se Per­spek­ti­ve mag aus heu­ti­ger Sicht unwahr­schein­lich wir­ken, gewinnt aber eine gewis­se Plau­si­bi­li­tät, wenn man bedenkt, daß in der Nach­kriegs­zeit sozi­al-natio­na­lis­ti­sche oder natio­nal-sozia­lis­ti­sche Ent­wick­lungs­dik­ta­tu­ren eine erheb­li­che Bedeu­tung hat­ten und durch­aus tole­riert wur­den. Sie blie­ben aller­dings auf den außer­eu­ro­päi­schen Raum beschränkt – der Nas­se­ris­mus Ägyp­tens, die Baath-Par­tei­en in Syri­en und im Irak, der Pero­nis­mus Argen­ti­ni­ens, die Kuom­in­tang-Herr­schaft auf For­mo­sa – und pfleg­ten manch­mal enge Bezie­hun­gen zur Sowjet­uni­on, was die Tat­sa­che ver­deck­te, wel­che Ein­flüs­se aus den Faschis­men der Zwi­schen­kriegs­zeit hier nach­wirk­ten. Die sonst als „faschis­tisch” apo­stro­phier­ten Regime Euro­pas, das Spa­ni­en Fran­cos, das Por­tu­gal Sala­zars und das Obris­ten­re­gime in Grie­chen­land, waren im Grun­de Mili­tär­dik­ta­tu­ren tra­di­tio­nel­len Zuschnitts und wur­den auch nur wegen der stra­te­gi­schen Bedeu­tung ihrer Län­der und ihrer scharf anti­kom­mu­nis­ti­schen Aus­rich­tung im West­block geduldet.

Eine sol­che Tole­ranz gab es gegen­über „neo­fa­schis­ti­schen” Bewe­gun­gen nicht. Anders als in der Ver­gan­gen­heit hat­ten sich die Demo­kra­tien nach 1945 ein gan­zes Reper­toire von juris­ti­schen Mög­lich­kei­ten ver­schafft, um ent­spre­chen­de Par­tei­en zu ver­bie­ten. Eine Aus­nah­me bil­de­te im Grun­de nur Ita­li­en, wo bereits 1946 der Movi­men­to Socia­le Ita­lia­no (MSI) – die „Ita­lie­ni­sche Sozi­al­be­we­gung” ent­stand, die mit ihrem Namen an die Repu­blik von Salò anknüpf­te und hin­ge­nom­men wur­de, um die gro­ße Zahl ehe­ma­li­ger Faschis­ten nicht in den Unter­grund zu drän­gen. Der MSI blieb aber selbst­ver­ständ­lich aus­ge­schlos­sen vom „Ver­fas­sungs­bo­gen”, der von den Kom­mu­nis­ten bis zu den Christ­de­mo­kra­ten reich­te, und schwank­te immer zwi­schen Ver­bür­ger­li­chung und Maxi­ma­lis­mus. Sei­ne Über­füh­rung in die „post­fa­schis­ti­sche” Des­tra Nazio­na­le Finis, zeigt, daß sich die ers­te Alter­na­ti­ve durch­ge­setzt hat.
Die Lage in Frank­reich, das in der Nach­kriegs­zeit wahr­schein­lich die größ­te Zahl „faschi­sie­ren­der” Bewe­gun­gen her­vor­brach­te, unter­schied sich deut­lich von der in Ita­li­en. Hier war der Nähr­bo­den güns­tig auf Grund der kri­sen­haf­ten Ent­wick­lung, die das Land zwi­schen 1944 und 1970 durch­lief. Von den gro­ßen Säu­be­run­gen über den ver­lo­re­nen Indo­chi­na- und Alge­ri­en­krieg bis zur beson­de­ren Hef­tig­keit der lin­ken Revol­te gab es immer wie­der Anläs­se, die zur Ent­ste­hung eines radi­kal­na­tio­na­lis­ti­schen Unter­grunds – etwa der OAS – oder ent­spre­chend aus­ge­rich­te­ter Par­tei­en führ­ten. Die Regie­run­gen der Vier­ten und der Fünf­ten Repu­blik gin­gen aller­dings rasch und mit gro­ßer Här­te vor.
Der Neo­fa­schis­mus schei­ter­te zuletzt aber nicht an der Stär­ke sei­nes Geg­ners, son­dern an der Unfä­hig­keit des eige­nen Füh­rungs­per­so­nals. Hin­zu kam die Schwä­chung durch das Bewußt­sein, eine mora­lisch dis­kre­di­tier­te Sache zu ver­tre­ten. Abge­se­hen von weni­gen Intran­si­gen­ten ver­such­te die Mehr­zahl der „Neos” eine unbe­schä­dig­te von der beschä­dig­ten Tra­di­ti­on, den „faschis­ti­schen Traum” (Mau­rice Bar­dè­che) von der faschis­ti­schen Rea­li­tät zu tren­nen. Über­zeugt hat das die Öffent­lich­keit nie, für die die Dis­kre­di­tie­rung nicht nur mit den Ver­bre­chen der faschis­ti­schen Regime, allen vor­an des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen, zu tun hat­te, son­dern auch mit deren Bewer­tung. Die beruh­te auf dem anti­fa­schis­ti­schen Kon­sens der Sie­ger von 1945, der auch dem Zweck dien­te, eige­ne Unta­ten zu recht­fer­ti­gen, nicht ein­mal durch den „Kal­ten Krieg” ganz auf­ge­ho­ben wur­de und noch die Rede von der „Unver­gleich­bar­keit” der Juden­ver­nich­tung im Kon­text der letz­ten gro­ßen geschichts­po­li­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen motivierte.
Denn daß der Ver­bün­de­te des Wes­tens im anti­fa­schis­ti­schen Kampf, der Kom­mu­nis­mus, eine viel grö­ße­re Zahl von Men­schen aus ideo­lo­gi­schen Moti­ven getö­tet hat­te als der Faschis­mus, unter­lag nie ernst­haf­tem Zwei­fel. In der von Gun­nar Hein­sohn auf­ge­stell­ten Lis­te der „Megamör­der” des 20. Jahr­hun­derts kommt Hit­ler nur an drit­ter Stel­le und Mus­so­li­ni tritt gar nicht auf; die ers­te bei­den Rän­ge wer­den von Sta­lin und Mao Tse-Tung ein­ge­nom­men, dann fol­gen bis zum zehn­ten Platz vier wei­te­re Kom­mu­nis­ten (Lenin als fünf­ter, Pol Pot als sie­ben­ter, Men­gis­tu Hai­le-Mari­am als ach­ter und Tito als zehn­ter), außer­dem Drit­te-Welt-Dik­ta­to­ren (Tschiang Kai-Shek auf dem vier­ten Platz, Yahya Khan auf dem neun­ten) und der Minis­ter­prä­si­dent des kai­ser­li­chen Japan zwi­schen 1941 und 1945 (an Num­mer sechs). Nach Hein­sohns Sta­tis­tik haben mar­xis­ti­sche Regime im 20. Jahr­hun­dert 110 Mil­lio­nen Men­schen getö­tet, nicht­mar­xis­ti­sche – zu denen auch die faschis­ti­schen gehö­ren – etwa 28 Mil­lio­nen. Eine Rela­ti­on, die im Grun­de bis heu­te nicht zur Kennt­nis genom­men wird und auch jeder „His­to­ri­sie­rung” des Faschis­mus im Wege steht.
Die wür­de letzt­lich zu dem Schluß füh­ren, daß die außer­or­dent­li­che Sta­bi­li­tät, die die west­li­che Demo­kra­tie nach dem Zwei­ten Welt­krieg unter ame­ri­ka­ni­schem Schutz gewann, der Haupt­grund für die Aus­sichts­lo­sig­keit jeder faschis­ti­schen Renais­sance war. Der Wohl­stand, den Wie­der­auf­bau und Mas­sen­kon­sum ermög­lich­ten, hat­te eine all­ge­mei­ne Ent­po­li­ti­sie­rung zur Fol­ge, die ‘68 nur kurz unter­bro­chen wur­de, und einen Bedeu­tungs­ver­lust jener Männ­lich­keits­idea­le, die für die faschis­ti­sche Men­ta­li­tät so wich­tig waren. Die post­he­roi­sche Gesell­schaft ent­wi­ckel­te sich im Wes­ten seit den acht­zi­ger Jah­ren zu einer Sozi­al­form ohne Alternative.

Dafür war auch der Kol­laps des sowje­ti­schen Sys­tems ein Indi­ka­tor, des­sen Unter­gang jenes „Ende der Geschich­te” in greif­ba­re Nähe zu rücken schien, das die all­ge­mei­ne Aner­ken­nung von Par­la­men­ta­ris­mus, Markt­wirt­schaft und indi­vi­du­el­ler Ent­fal­tung brin­gen wür­de. Aller­dings misch­ten sich in den Chor der Opti­mis­ten eini­ge bedenk­li­che Stim­men, dar­un­ter Allan Bloom, der Fran­cis Fuku­ya­mas The­se vom End of Histo­ry ent­geg­ne­te: „Also der Libe­ra­lis­mus hat gesiegt, aber dies könn­te sich letzt­lich als unbe­frie­di­gend erwei­sen. Der Kom­mu­nis­mus war ein ver­rück­ter Aus­wuchs des libe­ra­len Ratio­na­lis­mus, und jeder hat inzwi­schen erkannt, daß das weder funk­tio­niert noch wün­schens­wert ist. Der Faschis­mus wur­de zwar auf dem Schlacht­feld besiegt, aber sei­ne dunk­len Mög­lich­kei­ten wur­den nicht bis zum Ende aus­ge­schöpft. Sucht man nach einer Alter­na­ti­ve, dann bleibt kei­ne ande­re Mög­lich­keit, die man ins Auge fas­sen könn­te. Wir sind der Auf­fas­sung, daß der Faschis­mus Zukunft hat, wenn er nicht gar die Zukunft ist.”

Bloom führ­te sei­ne Posi­ti­on nicht wei­ter aus, beton­te nur, daß Libe­ra­lis­mus, Kom­mu­nis­mus und Faschis­mus in ers­ter Linie „Ideen” sei­en und Ideen die Eigen­schaft haben, unter ande­ren Umstän­den in ande­rem Gewand auf­zu­tre­ten. Man könn­te des­halb an Strö­mun­gen den­ken, die ähn­lich wie der his­to­ri­sche Faschis­mus ihren Anfang als Wider­stands­be­we­gun­gen nah­men, die sich gegen das wand­ten, was man schon vor dem Ers­ten Welt­krieg als Pro­zeß der „Ame­ri­ka­ni­sie­rung” bezeich­ne­te. Die reli­gi­ös moti­vier­ten Fun­da­men­ta­lis­men kom­men damit in den Blick, aber auch die Natio­na­lis­men des ost­eu­ro­päi­schen und des asia­ti­schen Raums. Deren rela­ti­ver Bedeu­tungs­ver­lust in den letz­ten zehn Jah­ren war eine Fol­ge des gro­ßen Auf­schwungs, was unter den Bedin­gun­gen der welt­wei­ten Wirt­schafts­kri­se gesche­hen wird, steht noch dahin. Soll­te nach dem Ende sei­ner Geg­ner auch der Libe­ra­lis­mus schei­tern, könn­te das durch­aus den Boden berei­ten für eine neue Art von Faschismus.
Es besteht aller­dings wenig Grund zu der Annah­me, daß eine Wie­der­ho­lung des Expe­ri­ments zu neu­en Ergeb­nis­sen führt. Schon der his­to­ri­sche Faschis­mus ist dar­an geschei­tert, vom Aus­nah­me­zu­stand zur Nor­ma­li­tät über­zu­ge­hen. Wenn er nicht auf neue Kon­flik­te hin­ar­bei­te­te oder zum Zweck der Mobi­li­sie­rung immer neue Geg­ner prä­sen­tier­te, sah er sich gezwun­gen, Anlei­hen bei sei­nen Geg­nern zu machen, um ein dau­er­haf­tes Gesamt­sys­tem zu stif­ten. Er gehört des­halb in die Kate­go­rie der „poli­ti­schen Pseu­do­re­nais­san­cen” (Her­mann Hel­ler). Sein Auf­tre­ten ist – anders als heu­te gemein­hin vor­ge­ge­ben wird – sehr wohl ver­steh­bar, aber das heißt nicht, daß er das Modell einer guten Ord­nung abge­ben könnte.

Abbil­dun­gen von oben nach unten: Abzei­chen der Groß­sy­ri­schen Natio­nal-Sozia­lis­ti­schen Par­tei; Auf­nah­me von der Über­füh­rung der Gebei­ne José Anto­nio Pri­mo de Rive­ras; Comic aus dem Umfeld des Grou­pe Uni­on Défen­se, Anfang der neun­zi­ger Jah­re des 20. Jahrhunderts.

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