Als der Historiker Renzo De Felice diese Meinung 1977 in einem Interview äußerte, erregte das erhebliches Aufsehen, zumal er als der bedeutendste Kenner des italienischen Faschismus galt. De Felice begründete seine Meinung mit einer scharfen Unterscheidung von Faschismus und Nationalsozialismus, wies darauf hin, daß der Zweite Weltkrieg ursprünglich keine ideologische, sondern eine machtpolitische Auseinandersetzung gewesen sei und Mussolini nicht daran dachte, in einem Akt faschistischer Solidarität an die Seite Hitlers zu treten, sondern um eine imperialistische Konzeption im klassischen Sinn zu verwirklichen. Der Fehlschlag dieses Kalküls habe das Regime in den Untergang geführt und alle Möglichkeiten einer stärkeren Konstitutionalisierung des Faschismus verstellt.
De Felice nahm damit Bezug auf den eigentümlichen Sachverhalt, daß ein faschistisches Gremium – der „Großrat” der Partei – Mussolini 1943 entmachtet hatte und das Ziel der Opposition um Dino Grandi ursprünglich ein Faschismus ohne Mussolini war, der ein auch für die Westmächte akzeptables System hätte aufbauen können.
Diese Perspektive mag aus heutiger Sicht unwahrscheinlich wirken, gewinnt aber eine gewisse Plausibilität, wenn man bedenkt, daß in der Nachkriegszeit sozial-nationalistische oder national-sozialistische Entwicklungsdiktaturen eine erhebliche Bedeutung hatten und durchaus toleriert wurden. Sie blieben allerdings auf den außereuropäischen Raum beschränkt – der Nasserismus Ägyptens, die Baath-Parteien in Syrien und im Irak, der Peronismus Argentiniens, die Kuomintang-Herrschaft auf Formosa – und pflegten manchmal enge Beziehungen zur Sowjetunion, was die Tatsache verdeckte, welche Einflüsse aus den Faschismen der Zwischenkriegszeit hier nachwirkten. Die sonst als „faschistisch” apostrophierten Regime Europas, das Spanien Francos, das Portugal Salazars und das Obristenregime in Griechenland, waren im Grunde Militärdiktaturen traditionellen Zuschnitts und wurden auch nur wegen der strategischen Bedeutung ihrer Länder und ihrer scharf antikommunistischen Ausrichtung im Westblock geduldet.
Eine solche Toleranz gab es gegenüber „neofaschistischen” Bewegungen nicht. Anders als in der Vergangenheit hatten sich die Demokratien nach 1945 ein ganzes Repertoire von juristischen Möglichkeiten verschafft, um entsprechende Parteien zu verbieten. Eine Ausnahme bildete im Grunde nur Italien, wo bereits 1946 der Movimento Sociale Italiano (MSI) – die „Italienische Sozialbewegung” entstand, die mit ihrem Namen an die Republik von Salò anknüpfte und hingenommen wurde, um die große Zahl ehemaliger Faschisten nicht in den Untergrund zu drängen. Der MSI blieb aber selbstverständlich ausgeschlossen vom „Verfassungsbogen”, der von den Kommunisten bis zu den Christdemokraten reichte, und schwankte immer zwischen Verbürgerlichung und Maximalismus. Seine Überführung in die „postfaschistische” Destra Nazionale Finis, zeigt, daß sich die erste Alternative durchgesetzt hat.
Die Lage in Frankreich, das in der Nachkriegszeit wahrscheinlich die größte Zahl „faschisierender” Bewegungen hervorbrachte, unterschied sich deutlich von der in Italien. Hier war der Nährboden günstig auf Grund der krisenhaften Entwicklung, die das Land zwischen 1944 und 1970 durchlief. Von den großen Säuberungen über den verlorenen Indochina- und Algerienkrieg bis zur besonderen Heftigkeit der linken Revolte gab es immer wieder Anlässe, die zur Entstehung eines radikalnationalistischen Untergrunds – etwa der OAS – oder entsprechend ausgerichteter Parteien führten. Die Regierungen der Vierten und der Fünften Republik gingen allerdings rasch und mit großer Härte vor.
Der Neofaschismus scheiterte zuletzt aber nicht an der Stärke seines Gegners, sondern an der Unfähigkeit des eigenen Führungspersonals. Hinzu kam die Schwächung durch das Bewußtsein, eine moralisch diskreditierte Sache zu vertreten. Abgesehen von wenigen Intransigenten versuchte die Mehrzahl der „Neos” eine unbeschädigte von der beschädigten Tradition, den „faschistischen Traum” (Maurice Bardèche) von der faschistischen Realität zu trennen. Überzeugt hat das die Öffentlichkeit nie, für die die Diskreditierung nicht nur mit den Verbrechen der faschistischen Regime, allen voran des nationalsozialistischen, zu tun hatte, sondern auch mit deren Bewertung. Die beruhte auf dem antifaschistischen Konsens der Sieger von 1945, der auch dem Zweck diente, eigene Untaten zu rechtfertigen, nicht einmal durch den „Kalten Krieg” ganz aufgehoben wurde und noch die Rede von der „Unvergleichbarkeit” der Judenvernichtung im Kontext der letzten großen geschichtspolitischen Auseinandersetzungen motivierte.
Denn daß der Verbündete des Westens im antifaschistischen Kampf, der Kommunismus, eine viel größere Zahl von Menschen aus ideologischen Motiven getötet hatte als der Faschismus, unterlag nie ernsthaftem Zweifel. In der von Gunnar Heinsohn aufgestellten Liste der „Megamörder” des 20. Jahrhunderts kommt Hitler nur an dritter Stelle und Mussolini tritt gar nicht auf; die erste beiden Ränge werden von Stalin und Mao Tse-Tung eingenommen, dann folgen bis zum zehnten Platz vier weitere Kommunisten (Lenin als fünfter, Pol Pot als siebenter, Mengistu Haile-Mariam als achter und Tito als zehnter), außerdem Dritte-Welt-Diktatoren (Tschiang Kai-Shek auf dem vierten Platz, Yahya Khan auf dem neunten) und der Ministerpräsident des kaiserlichen Japan zwischen 1941 und 1945 (an Nummer sechs). Nach Heinsohns Statistik haben marxistische Regime im 20. Jahrhundert 110 Millionen Menschen getötet, nichtmarxistische – zu denen auch die faschistischen gehören – etwa 28 Millionen. Eine Relation, die im Grunde bis heute nicht zur Kenntnis genommen wird und auch jeder „Historisierung” des Faschismus im Wege steht.
Die würde letztlich zu dem Schluß führen, daß die außerordentliche Stabilität, die die westliche Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg unter amerikanischem Schutz gewann, der Hauptgrund für die Aussichtslosigkeit jeder faschistischen Renaissance war. Der Wohlstand, den Wiederaufbau und Massenkonsum ermöglichten, hatte eine allgemeine Entpolitisierung zur Folge, die ‘68 nur kurz unterbrochen wurde, und einen Bedeutungsverlust jener Männlichkeitsideale, die für die faschistische Mentalität so wichtig waren. Die postheroische Gesellschaft entwickelte sich im Westen seit den achtziger Jahren zu einer Sozialform ohne Alternative.
Dafür war auch der Kollaps des sowjetischen Systems ein Indikator, dessen Untergang jenes „Ende der Geschichte” in greifbare Nähe zu rücken schien, das die allgemeine Anerkennung von Parlamentarismus, Marktwirtschaft und individueller Entfaltung bringen würde. Allerdings mischten sich in den Chor der Optimisten einige bedenkliche Stimmen, darunter Allan Bloom, der Francis Fukuyamas These vom End of History entgegnete: „Also der Liberalismus hat gesiegt, aber dies könnte sich letztlich als unbefriedigend erweisen. Der Kommunismus war ein verrückter Auswuchs des liberalen Rationalismus, und jeder hat inzwischen erkannt, daß das weder funktioniert noch wünschenswert ist. Der Faschismus wurde zwar auf dem Schlachtfeld besiegt, aber seine dunklen Möglichkeiten wurden nicht bis zum Ende ausgeschöpft. Sucht man nach einer Alternative, dann bleibt keine andere Möglichkeit, die man ins Auge fassen könnte. Wir sind der Auffassung, daß der Faschismus Zukunft hat, wenn er nicht gar die Zukunft ist.”
Bloom führte seine Position nicht weiter aus, betonte nur, daß Liberalismus, Kommunismus und Faschismus in erster Linie „Ideen” seien und Ideen die Eigenschaft haben, unter anderen Umständen in anderem Gewand aufzutreten. Man könnte deshalb an Strömungen denken, die ähnlich wie der historische Faschismus ihren Anfang als Widerstandsbewegungen nahmen, die sich gegen das wandten, was man schon vor dem Ersten Weltkrieg als Prozeß der „Amerikanisierung” bezeichnete. Die religiös motivierten Fundamentalismen kommen damit in den Blick, aber auch die Nationalismen des osteuropäischen und des asiatischen Raums. Deren relativer Bedeutungsverlust in den letzten zehn Jahren war eine Folge des großen Aufschwungs, was unter den Bedingungen der weltweiten Wirtschaftskrise geschehen wird, steht noch dahin. Sollte nach dem Ende seiner Gegner auch der Liberalismus scheitern, könnte das durchaus den Boden bereiten für eine neue Art von Faschismus.
Es besteht allerdings wenig Grund zu der Annahme, daß eine Wiederholung des Experiments zu neuen Ergebnissen führt. Schon der historische Faschismus ist daran gescheitert, vom Ausnahmezustand zur Normalität überzugehen. Wenn er nicht auf neue Konflikte hinarbeitete oder zum Zweck der Mobilisierung immer neue Gegner präsentierte, sah er sich gezwungen, Anleihen bei seinen Gegnern zu machen, um ein dauerhaftes Gesamtsystem zu stiften. Er gehört deshalb in die Kategorie der „politischen Pseudorenaissancen” (Hermann Heller). Sein Auftreten ist – anders als heute gemeinhin vorgegeben wird – sehr wohl verstehbar, aber das heißt nicht, daß er das Modell einer guten Ordnung abgeben könnte.
Abbildungen von oben nach unten: Abzeichen der Großsyrischen National-Sozialistischen Partei; Aufnahme von der Überführung der Gebeine José Antonio Primo de Riveras; Comic aus dem Umfeld des Groupe Union Défense, Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts.