Denn der Leser sucht in einem Dichter oder Philosophen naturgemäß das, was ihm selber ähnelt. Das gilt besonders für den politischen Leser: dieser scannt einen Text zumeist mehr, als daß er ihn wirklich liest.
Doch gerade Dichter und Philosophen wollen – vielleicht dringender als alle anderen Autoren – nicht bloß auf eine bestimmte Weltanschauung hin abgesucht, sondern gründlich und gut gelesen werden, »das heißt langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen lesen«, wie Nietzsche in der Morgenröte sagt.
Gewöhnlich sind es die gemeinsamen Gegner, die den politischen und den philosophischen Menschen zusammenbringen. Dabei übersieht aber gerade der politische Mensch gern die Komplexität des Denkens eines Dichters oder Philosophen, um ihn leichter kategorisieren und somit leichter vereinnahmen oder verurteilen zu können. So ordnet die politische Rechte Spengler und sogar Nietzsche oder George dem eigenen Spektrum zu, etwa dem der »Konservativen Revolution«, während die politische Linke in diesen Dichtern und Philosophen lange »geistige Vorbereiter des Nationalsozialismus« sehen wollte und, im Fall Spenglers, bis heute immer noch sehen will. Doch hätte keiner der drei sich selbst je einem Lager zugerechnet oder sich gar von irgendeiner politischen Richtung oder Partei verpflichten lassen. Als Spengler 1934 hörte, es solle in seinem Namen eine Vereinigung gegründet werden, reagierte er äußerst ablehnend: »Ich würde es nicht ertragen, in dieser Weise der Mittelpunkt einer Gesellschaft zu sein. … Alle diese halbdemokratischen Organisationen kompromittieren nur den Namen, mit dem sie sich verzieren.« Und als er bemerkte, daß die Philosophie Nietzsches für politische Zwecke verfälscht und umgedeutet wurde, schied er im Oktober 1935 aus dem Vorstand des Nietzschearchivs aus: »Entweder man pflegt die Philosophie Nietzsches, oder die des Nietzschearchivs, und wenn beide sich in dem Grade widersprechen, wie es der Fall ist, muß man sich entscheiden.«
Die Komplexität eines Dichters oder Philosophen zeigt sich in seiner Fragestellung und in der Weite der Themen, die er bearbeitet. Nicht selten führt das zu inneren Widersprüchen. Denn die philosophische, wie überhaupt alle Kreativität, ergibt sich erst aus dem Umstand, gegensätzliche Leidenschaften und Neigungen in sich zu vereinen. Manfred Schröter, neben Anton Mirko Koktanek der beste Kenner Spenglers, weist in seinem Buch Metaphysik des Untergangs auf die »vier verschiedenen Seiten« im Werk und in der Begabung Spenglers hin, die zum Teil miteinander unvereinbar scheinen und dadurch den Zugang zum Werk erschweren: »Seine Metaphysik, d. h. sein Suchen nach einem letzten metaphysischen Erklärungsgrund des rätselhaften Kulturphänomens an sich, das als das Urgeheimnis hinter seinem ganzen Denken stand – seine Kulturmorphologie, d. h. seine Anordnung und Erscheinungslehre dieser unermesslichen Gestaltenfülle der verschiedenen Kulturen unserer Erde, die sein Geist mit unvergleichlicher Anschauungskraft umspannte – seine Geschichtsphilosophie, d. h. seine Deutung und Vorausschau auf Gegenwart und Zukunft des ablaufenden Prozesses … – und zuletzt sein politisches Schrifttum, d. h. sein Versuch, auf diese Gegenwart unmittelbar, warnend und mahnend, einzuwirken.« – Nicht zufällig rangiert das Politische erst an letzter Stelle. Tatsächlich fühlte sich Spengler zu politischen Stellungnahmen mehr gedrängt als hingezogen, während er Metaphysik, Kulturmorphologie und Geschichtsphilosophie wirklich aus Leidenschaft betrieb. Im Juli 1933 gestand er seiner Schwester: »Alle meine politischen Sachen haben mir keinen Spaß gemacht. Das Philosophische, das ist mein Feld.«
Deshalb äußerte sich Spengler nur dann politisch, wenn es ihm aus geschichtsphilosophischer Sicht notwendig erschien, also in den Augenblicken nationaler Umbrüche und Krisen: 1918/1919 (Preußentum und Sozialismus), als die »Novemberrevolution« den Aristokraten und politischen Ästheten schockierte; 1923/1924 (Politische Pflichten der deutschen Jugend, Neubau des Deutschen Reiches), als Inflation, Ruhrkampf und Hitlers Putschversuch in München den an Wirtschaftsfragen sehr interessierten Gegner der Weimarer Republik zur Stellungnahme zwangen; 1932/1933 (Jahre der Entscheidung), als sich das Ende der Republik abzeichnete. Und obwohl Spengler nachdrücklich dazu aufforderte, nüchtern und realistisch in die Welt zu sehen, sind alle seine politischen Schriften von einem unterdrückten romantischen Idealismus durchzogen und geprägt, der diese mit viel Verve verfaßten Bücher zwar kraftvoll schillern läßt, sie aber bei genauerer Betrachtung für die politische Praxis unbrauchbar macht.
Denn insgesamt waren Spenglers politische Ansichten erstaunlich naiv, und seine Pläne, auf die Wirtschaft oder auf das Zeitungswesen einzuwirken, schlechterdings weltfremd. Es sind die Ansichten eines kalt-verschwärmten Theoretikers, eines verhinderten Tatmenschen und Stubengelehrten, den es an allen möglichen Erfahrungen fehlte, um zu einem realen politischen und sozialen Verständnis zu gelangen: weder war Spengler länger berufstätig, noch jemals verheiratet, noch Kriegsteilnehmer oder sonst wie vom Leben in die Pflicht genommen, kurz: er stand nicht im Leben, sondern darüber. Das zeigt sich auch in seiner Verklärung des italienischen Faschismus und der Person Mussolinis, wenn er sich in der für ihn geradezu typischen Mischung aus Überlegenheit und Naivität in einem Brief vom 27. Oktober 1935 zum Abessinienkrieg äußert: »Mir scheint, daß Mussolini die ruhige staatsmännische Überlegenheit seiner ersten Jahre verloren hat, sonst wäre er nicht in ein so übles und für Italien unter allen Umständen verhängnisvolles Abenteuer hineingeraten.« Ferner bewies Spengler wenig Sinn für das Tatsächliche des Weltgeschehens, als er, wie mancher seiner verträumten Zeitgenossen, sich von Rußland her eine »Kulturerneuerung« erhoffte, und zugleich die Bedeutung der aufsteigenden Weltmacht USA völlig unterschätzte. Entsprechend kühl kam Georg Escherich, Forstrat, Politiker und guter Bekannter Spenglers, bereits 1922 zu dem Urteil: »Oswald Spengler glaubt gut orientiert zu sein, ist es aber nicht.«
Wo Spengler politisch wurde, dachte er immer mehr metapolitisch als konkret. Er war kein Taktierer. Vielmehr wollte er die großen Zusammenhänge, das Wesen der Geschichte erschauen. Politik bedeutete für ihn letztlich praktische Anthropologie, was am deutlichsten in seiner biopolitisch schlichten Ausgangsposition erkennbar wird, wonach der Umstand, »daß er ein Raubtier« sei,»dem Typus Mensch einen hohen Rang« gebe.
Treffend hat Detlev Felken beschrieben, worauf es Spengler in seinem politischen Denken eigentlich ankam, nämlich auf die Desillusionierung der Zeitgenossen, die in der unaufhaltsamen Demokratisierung der Welt einen echten Fortschritt für die Freiheit des Menschen erkennen wollten: »Spenglers sehr moderne Kritik an einer pseudopluralistischen Meinungsfreiheit, die selbst Adornos Beifall fand, basierte wie so viele seiner politischen Argumente auf der grundlegenden Überzeugung, daß die Demokratie unfähig sei, sich vor dem Mißbrauch ihrer Freiheiten zu schützen. Das parlamentarische System degeneriere zu einer nützlichen Fassade, hinter deren Rücken sich in Wahrheit diktatorische Machtkämpfe abspielten.«
Als Geistesaristokrat verabscheute Spengler natürlich sämtliche Nivellierungsbestrebungen; echte Tagespolitik aber lag ihm fern. Denn er interessierte sich kaum für seine Mitmenschen. Auch wenn Spengler die Politik genauer wahrnahm als die Kunst, Philosophie oder Literatur, blieb ihm die Gegenwart doch fremd. »Meine Zeit ist das Rokoko; da bin ich zuhause.« Er schätze ein paar Gelehrte, vor allem Althistoriker wie Hans Erich Stier oder Franz Altheim, bewunderte aber nur einen einzigen Zeitgenossen wirklich: Eduard Meyer. Als dieser 1930 starb, fühlte sich Spengler mehr denn je allein unter lauter »Larven«.
Daher überrascht es nicht, daß Spengler nie Kontakt zu den großen politischen Denkern oder Staatsrechtlern seiner Zeit, wie etwa zu Carl Schmitt, oder auch nur zu irgendeiner anderen Persönlichkeit aus dem Umfeld der »Konservativen Revolution« suchte. Zwar traf er in Berlin einmal auf Moeller van den Bruck, mit dem es zu einer längeren Diskussion gekommen sein soll, auch Edgar Julius Jung suchte Kontakt, aber so gut wie nie ging der Impuls von Spengler aus. Allein Ernst Jünger gegenüber wurde er selber initiativ, wünschte bei Gelegenheit ein Gespräch. Doch die vereinzelten, kurzen Briefe zeigen, wie verschieden man dachte.
Dennoch überlagert bis heute der politische Schriftsteller den Philosophen, da sogar der Untergang des Abendlandes zum politischen Schlagwort wurde. Das hatte zur Folge, daß der umfangreiche Nachlaß Spenglers, aus dem vor allem der Psychologe, Metaphysiker, Paläontologe und Anthropologe spricht, fast gänzlich unbeachtet blieb. Dabei enthalten die beiden von Koktanek 1965/1966 sorgfältig herausgegebenen Werke Urfragen und Frühzeit der Weltgeschichte das philosophische Vermächtnis Spenglers und die Grundlagen zu seinem eigentlichen Haupt- und Lebenswerk, das nicht mehr zustande kam. Spengler allein nach seinen politischen Schriften (oder den darin enthaltenen Apercus bzw. polemischen Kraftausdrücken) und dem bis heute notorisch mißverstandenen Schlagwort vom Untergang des Abendlandes zu beurteilen, heißt, ihn auf Unfertiges, Unreifes, ja sogar auf Nebensächliches zu reduzieren. Denn der sich entwickelnde, an sich wachsende, noch einmal deutlich tiefer schürfende Kulturphilosoph von erstaunlicher Originalität und geistiger Eigenständigkeit zeigt sich in den Nachlaßbänden, in denen manche frühere Aussagen revidiert werden. So nahm Spengler bereits Ende der 1920er Jahre Abstand von den Begriffen und den damit einhergehenden Auffassungen der »Kulturmorphologie« und »Kulturkreislehre«, denen er einstmals in Übereinstimmung mit Leo Frobenius anhing. Am 5. April 1936 schrieb er an Spranger: »Ich habe mein Buch eine Morphologie der Weltgeschichte genannt, weil es mir auf lebendige Abläufe und nicht auf Schichten zufällig erhaltener Dinge ankommt. Kultur ist für mich eine innere Form geschichtlichen Werdens und nicht eine Summe von ähnlichen Gegenständen. Wenn man das biologisch nennt, so gilt das doch auch von der Anschauung Goethes. Es ist aber nicht die materialistische Biologie des Zeitalters Darwins, von der die Kulturkreislehre ursprünglich ausgegangen ist, sondern eine Metaphysik des Lebens, die der materiellen Außenseite sehr skeptisch gegenübersteht.«
Konsequenterweise läßt er auch seine Theorie von den Kulturen als »fensterlose Monaden« fallen und betont stattdessen den Prozeß des Werdens im Zufälligen, das »Seelische« geschichtlicher Vorgänge. Koktanek: »Innerhalb der Wissenschaft wirkt Spengler aber nicht nur als poetischer Gegentyp herausfordernd. Er liebt es zu widersprechen. Bewundernswert ist seine Kraft, nachdenklich zu machen. Er fordert auf, scheinbar Festes, weil Überliefertes zu überprüfen, Augen und Ohren zu gebrauchen.«
Tatsächlich läßt sich Spengler mehr von seiner Intuition leiten als von den gängigen Überzeugungen: »Was und wie ein Denker denkt – das ist die eine Frage. Aber warum gerade er so denkt, ist wichtiger.« Oder: »Religion ist ursprünglich Handlung, nicht Glaube. Erst aus der Technik entwickelt sich die Theorie.« Oder: »Ein Volk ist immer die Einheit einer Idee.«
Die Eigenschaft des »Wachseins«, die nun ins Zentrum seines Denkens rückt, öffnet weitreichende philosophische Perspektiven innerhalb seiner Universalpoesie geschichtlicher Vorgänge. Dem Logos, dem logischen Denken, ging das Symbol, das analogische Denken voraus. Die Welt wird bildhaft erdacht und also erschaut. Das »Auge« ist das Zentralorgan des Denkens, auch für Spengler selbst: »Ich sehe weiter als andere«, betont er. Und: »Ich habe als Mitgift für das Leben den Blick bekommen. Das – wenn ich das Wort gebrauchen darf – geniale Schauen, Zuschauen; Tätigkeit verengt den Blick. Auch Napoleon war zuletzt Fachmann geworden. Dieser Blick ist die eigentlich philosophische Gabe. Philosophische Fachwissenschaft ist philosophischer Unsinn.«
Die große Geschichtswissenschaft sei überhaupt keine Wissenschaft, »sondern eine Kunst, schöpferische Dichtung, Verschmelzung der Seele des Schauenden mit der Seele der Welt«, wie es in dem Fragment Zur Weltgeschichte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends von 1935 heißt.
Die Statik des alten Modells – für die noch heute sein Name steht – gilt nicht mehr, alles gerät in Bewegung, wird in viel größeren, offeneren Zusammenhängen gesehen. Die metaphysische Anthropologie, die Spengler in Urfragen und Frühzeit der Weltgeschichte entwirft, geht weit über das starr konstruierte Geschichtsbild des frühen Hauptwerks hinaus. Die acht »Kulturen« verlieren ihre Exklusivität und werden nun als Hochkulturen den Vor- und Frühkulturen gegenübergestellt. Folglich konnte, wie Koktanek bemerkt, »Spengler in der Konsequenz dieses Denkens die im »Untergang« so schroff behauptete Diskontinuität der Kulturen, die Voraussetzung ihrer morphologischen Vergleichbarkeit und der Prognostik, nicht aufrechterhalten: Renaissancen, Rezeptionen, Einflüssen, Zusammenhänge zwischen den Hochkulturen wie zwischen den früheren und späteren Stadien werden zugegeben.« – Damit hat Spengler die zentrale These seines frühen Hauptwerks selbst widerlegt, fand aber keine Gelegenheit mehr, seine veränderte Sicht auf die Dinge zu verbreiten. Wäre er nur zehn Jahre älter geworden und vielleicht doch noch ins Exil gegangen, womöglich ließe er sich heute nicht so leicht kategorisieren und auf wenige Begriffe bringen. Zwar besteht immer die Möglichkeit, genauer hinzusehen und auch Denker wie Oswald Spengler jenseits der ihn umfangenden Klischees zu entdecken – aber welcher – zumal politische – Mensch ist schon dazu bereit, einmal gefaßte, allzu bequeme und das eigene Weltbild stabilisierende Urteile zu überprüfen und gegebenenfalls zu revidieren?