Der Erfolg von Patrick Bahners Buch Die Panikmacher spricht nicht dagegen, eher dafür. Was bleibt, ist der erstaunliche Sachverhalt, daß der Feuilletonchef der einflußreichsten bürgerlichen Zeitung ein ausgesprochen konventionelles Weltbild hat und sich seine politischen Urteile – abgesehen vom grundsätzlichen Wohlwollen für die Religion – im Bereich des linksliberalen mainstream bewegen.
Bahners pflegt zwar eine kritische Attitüde angesichts der »homogenisierten nationalen Öffentlichkeit« und dem Popularitätsdiktat des Fernsehens, kultiviert weiter seine Neigung zum Verqueren und Gesuchten in der Argumentation, aber trotzdem ist das, was er vorträgt, stereotyp: erwartbar, politisch-korrekt, darauf aus, zu gefallen, nicht jedermann, gerade nicht dem Abonnenten seines Blattes, aber seiner peer group. Das heißt er folgt dem Bedürfnis des Intellektuellen nach Anerkennung durch seinesgleichen.
Besonders deutlich wird das an dem Interview, das Bahners Mitte Februar der Zeit gegeben hat. Angesprochen auf seine Kontrahenten – insbesondere Thilo Sarrazin –, äußerte er da, daß es heute »tatsächlich seriöse Anschlussmöglichkeiten für einen nationalistischen Diskurs« gebe, und: »… was man in den neunziger Jahren ›Extremismus der Mitte‹ nannte, das beschreibt die bürgerliche Begeisterung für Sarrazin sehr genau. Zwar gab es damals Ausländerfeindlichkeit – mit vielen Todesopfern –, aber es fehlte die intellektuelle Anschlussfähigkeit. Das ist heute anders. Es gibt wieder ein starkes Interesse an ›Wir-hier-die-da-Unterscheidungen‹. Wir Deutschen hier, die Fremden da.«
Bahners deutet die aktuelle Auseinandersetzung über Islam und Integrationsfehlschlag als Etappe im ewigen Kampf zwischen Aufklärung und Obskurantismus, meint, daß gegen die Dunkelmänner und ‑frauen die Vernunft zu Gehör gebracht werden muß, Humanität gegen Vorurteil, Wohlwollen gegen Angst, Besonnenheit gegen »Panikmache«. Bemerkenswert daran ist eigentlich nur der Hinweis auf die innere Heterogenität und Geschlossenheit der Phalanx der Islamkritiker. Tatsächlich muß man die Frage stellen, was ein Arnulf Baring mit Alice Schwarzer zu tun hat, was ein Udo Ulfkotte mit Henryk M. Broder, was eine Necla Kelek mit Peter Sloterdijk?
Zwar gibt es je individuelle Motive, von später Einsicht bis zu persönlicher Betroffenheit, aber wichtiger als das ist die Tatsache, daß eine jener Generaldebatten stattfindet, die immer auch dazu führen, daß die Grenzen der Meinungslager in Auflösung geraten, alte Loyalitäten zerfallen und sich neue Allianzen bilden. Heute führt das dazu, daß linke Feministinnen mit Bürgerlichen, rechte Sozialdemokraten mit politischen Freischärlern, Christen mit säkularen Juden und Moslems eine Front bilden, weil sie einen gemeinsamen Feind sehen – in diesem Fall den Islamismus, oder eigentlich schon: den Islam, der ein politisches Mitspracherecht verlangt.
Das klassische Modell einer solchen Umgruppierung war die Dreyfus-Affäre im Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts. Dabei ging es nur oberflächlich um die Schuld eines Offiziers jüdischer Herkunft, im Grunde um die Frage, ob diejenigen siegen würden, die sich als Antipatrioten, Universalisten und Republikaner betrachteten, oder diejenigen, die sich als Patrioten, Identitäre und Franzosen verstanden. Die Tatsache, daß in den Reihen der zweiten – vereinfacht: der rechten – Partei viele französische Intellektuelle versammelt waren, hat in der ersten – vereinfacht: der linken – für große Unruhe gesorgt. Denn solange man hoffen konnte, es nur mit einer ignoranten Masse zu tun zu haben, durfte man sich seiner Sache sicher sein. Unter den gegebenen Umständen aber stand man vor dem Dilemma, daß die Rationalität und die europäische Geistestradition, sogar die Berufung auf Revolution und Nation auch von der Gegenseite in Anspruch genommen werden konnte.
Der Konflikt kam in der Zeit des Ersten Weltkriegs zum Schweigen, flammte dann aber wieder auf, verschärft durch die globalen ideologischen Auseinandersetzungen der zwanziger und dreißiger Jahre. Die Irritation der Linken und des juste milieu darüber, daß die historische Entwicklung nicht einfach in ihre Richtung ging, zeigte deutlich Julien Bendas 1927 erschienenes Buch La trahison des clercs – zu deutsch: »Der Verrat der Intellektuellen«. Benda war zu dem Zeitpunkt schon ein älterer Herr mit einem gewissen Renommee in der Philosophie, aber auch ein typisches Produkt der Dritten Republik, das heißt ein Doktrinär, dem es um den Nachweis ging, daß es für den Intellektuellen die Sünde wider den Geist sei, wenn er sich von der aufklärerischen Tradition abwende. Er kritisierte mit Nachdruck jene Autoren der Rechten, die der Überzeugung waren, daß es so etwas wie eine Legitimität des Partikularen gebe, daß das Volk mit gutem Grund verlange, daß man seine Überlieferung und sein Herkommen achte, daß man sich für sein So-Sein als Franzose in Frankreich nicht rechtfertigen müsse. Für Benda war das nichts anderes als »Irrationalismus«.
Bahners ist an diesem Punkt etwas zurückhaltender. Er teilt nicht Bendas Glaubensfeindlichkeit. Aber ansonsten folgt er dessen Muster, wenn er die Warnungen vor Landnahme und taqiyya (der religiös erlaubten Verstellung) für alarmistisch hält, und den Islamkritikern vorwirft, daß sie die Deutschen verhetzten, indem sie ihnen Argumente zur Verfügung stellten, um auf eine »anschlußfähige« Art, ihre Identität zu verteidigen. Denn Bahners überträgt seine Sympathie für die Muslime als solche und deren »etwas trotzigen Willen, auf einem Leben nach den eigenen Regeln zu beharren«, ausdrücklich nicht auf seine Landsleute. Sie ist nur im formalen Sinn konservativ, tatsächlich geht es um die Haltung desjenigen, der das Fremde als ein exotisches genießen möchte, während er Modernitätsverweigerung im eigenen Haus als bedenklichen Mangel betrachtet.
Zu erklären ist das mit der typischen intellektuellen Gönnerhaftigkeit, typisch vor allem für den Linksintellektuellen, der insgeheim darauf wartet, daß die Massen endlich zu sich selbst kommen – das heißt seine Erkenntnis annehmen – und bis dahin notgedrungen oder lustvoll Erzieherfunktionen ausübt. Der Rechtsintellektuelle empfindet dagegen einen ausgeprägten Widerwillen. Denn er weiß um den nihilistischen Zug jeder massenhaften Aufklärung. Das feit ihn gegen die Annahme, daß unsere Gattung oder auch nur größere Teile dahin gebracht werden können, sich durchgängig vernünftig zu verhalten. Er wittert außerdem den Machtanspruch des Aufklärers, seine »bösartige Menschenliebe« (Edmund Burke) und erinnert an all die Fälle, in denen der »Freund der Menschheit mit seinen unzuverlässigen Moralgrundsätzen der Verschlinger der Menschheit« (Fjodor M. Dostojewski) wurde.
Es mag sein, daß der Konservative zuerst von einer Stimmung geleitet wird, dem Wunsch, die Vergangenheit zu rächen, aber seine Wertschätzung für das Gewachsene, die Tradition, das Konkrete erklärt sich doch wesentlich daraus, daß er sie als Widerlager gegen die zerstörerische Kraft des Wandels betrachtet. Er leugnet diesen Wandel nicht und auch nicht dessen Notwendigkeit, sorgt sich aber darum, den Menschen ihre Bindung zu erhalten. Nicht irgendeine »Ligatur« (Ralf Dahrendorf), sondern die an eine konkrete Ordnung, Teil jenes Ganzen, das unwandelbar bleibt.
Der Rechtsintellektuelle beansprucht damit kein Wissen vom Ziel der Menschheitsentwicklung und verwirft die Utopie, seine systematischen Neigungen sind immer schwächer als die des Linksintellektuellen, aber selbstverständlich hat er eine Theorie, verstanden im Sinne des griechischen theoria, was soviel wie »Anschauung« heißt, und seine Überzeugungen sind sicher die Konsequenz eines intellektuellen Aktes. Trotzdem gibt es auf dieser Seite des politischen Spektrums einen spezifischen »Antiintellektualismus«, einen Widerwillen gegen die »Priesterherrschaft« der »Sinnvermittler«, von der Helmut Schelsky sprach, gegen die »Mundwerksburschen«, wie sie Arnold Gehlen bezeichnete, oder Josef Schumpeter, der das Kernproblem so zusammenfaßte, daß Intellektuelle Menschen sind, »die die Macht des gesprochenen und des geschriebenen Wortes handhaben; und eine Eigentümlichkeit, die sie von anderen Leuten, die das gleich tun, unterscheidet, ist das Fehlen einer direkten Verantwortlichkeit für praktische Dinge«.
Treffender als Sarrazin kann man die Schwäche von Bahners Position kaum charakterisieren. Er sprach in einer das Grundsätzliche berührenden Besprechung der Panikmacher von Bahners als einem, »der in der ausländer- und gewerbefreien Bonner Südstadt im Einfamilienhaus aufwuchs, im fußläufig entfernten Bonner Beethovengymnasium zur Schule ging, sodann in Bonn und Oxford studierte und anschließend, im Alter von 22 Jahren, der Redaktion der F.A.Z. beitrat. Von den Stürmen des Lebens ist Bahners wahrlich verschont geblieben«.
Daher rührt die Abstraktheit seines Liberalismus, dessen »Religionsfreundlichkeit« auch nichts damit zu tun hat, die faktische Pluralität der Lebensformen gegenüber der Regelungswut des Staates zu verteidigen, sondern zurückgeht auf das Absehen von der konkreten Lage. Daß die sich zuspitzt, hat Bahners wohl begriffen, aber er fürchtet nicht den »molekularen Bürgerkrieg« (Hans Magnus Enzensberger), sondern die Widerlegung seiner intellektuellen Position. Die »Entzivilisierung«, die ihm schwant, hat nichts zu tun mit dem Angriff des Morgen- auf das Abendland, verfehlter Einwanderungspolitik, demographischem Kollaps, Umkippen von Stadtvierteln, Inländerfeindlichkeit und Analphabetisierung der Unterschicht, sondern mit der mangelnden Bereitschaft zur deutschen Selbstaufgabe und dem Willen einiger, sich der Auflösung entgegenzustemmen.
Daß er diese Auflösung faktisch befürwortet und jetzt schon auf die Seite der künftigen Sieger treten möchte, würde Bahners bestreiten. Aber das ist nicht von Belang. Er folgt nur seinen vielen Vorläufern, die sich auch nicht halten konnten auf dem schmalen Grad zwischen den Alternativen. Die »Wir-hier-die-da-Unterscheidungen«, von denen Bahners spricht und die ihm so widerwärtig sind, erklären sich eben nicht aus einem mehr oder minder pathologischen »Interesse«, sondern aus einer politischen Lage. Wenn die sich zuspitzt – und die Intensität der Debatte, die Sarrazin angestoßen hat, spricht dafür –, dann kommt man um eine Parteinahme nicht herum. Dann geht es zuletzt und im ernst nicht mehr um intellektuelle Spiegelfechtereien. Julien Benda, der Mahner und Aufklärer, der Verfechter der Rationalität und des Diskurses, ist ein gutes Beispiel für das Gemeinte. Der glühende Antifaschist und Kritiker der Rechten endete als Anhänger des Kommunismus und Verehrer Stalins.