Für ihre Partei ist das eine gute Nachricht. Die SPD befand sich in einer dreifachen Zwangslage:
Zum einen hatte sie juristisch nicht den Hauch einer Chance, Thilo Sarrazin auszuschließen. Daß man aus dem Kreis der „Anständigen“ – also derer, die die herrschende Ideologie vertreten und deshalb im sogenannten öffentlichen Diskurs wohlgelitten sind – ausgeschlossen wird, wenn man bestimmte Wahrheiten ausspricht und damit die bundesdeutschen Lebenslügen als solche entlarvt; daß man sich dadurch in den etablierten Parteien um jede Wirkungsmöglichkeit bringt – darüber wird sich sicherlich niemand Illusionen machen.
Nur funktioniert diese Art von ganz und gar nicht herrschaftsfreiem Diskurs nur, solange die Loyalität gegenüber der herrschenden Metaideologie informell erzwungen wird und die Fiktion von Demokratie und Meinungsfreiheit aufrechterhalten bleibt. Parteistatuten, die das Aussprechen der Wahrheit untersagen, würden selbst zu viel Wahrheit enthalten und den tatsächlichen Zustand unseres politischen Systems offenlegen. Demgemäß existieren solche Statuten nicht.
Thilo Sarrazin hat also nicht gegen die Satzung seiner Partei, erst recht nicht gegen irgendein Gesetz verstoßen. Hätte er es auf das Verfahren ankommen lassen, so wäre sein Ausschluß entweder schon vor den parteieigenen Schiedskommissionen gescheitert oder aber spätestens von einem ordentlichen Gericht kassiert worden.
Zum zweiten stand die Partei unter dem Druck einer Öffentlichkeit, die mehrheitlich Sarrazins Thesen unterstützt oder doch zumindest diskutabel findet, und der gegenüber bereits das Ausschlußverfahren einen verheerenden Eindruck machen mußte – nämlich daß die SPD, wie das gesamte politische Establishment, die von Thilo Sarrazin benannten Probleme weder aufzugreifen noch zu lösen gedenkt. Ein über Monate sich hinziehendes Ausschlußverfahren hätte diesem Eindruck täglich täglich neue Nahrung gegeben.
Drittens aber steht die SPD, wie alle Parteien, unter dem Zwang, sich nur ja nicht bei irgendwelchen Nachlässigkeiten im „Kampf gegen Rechts“ erwischen zu lassen. Ihre linken Konkurrenzparteien, eine auf Hexenjagd programmierte Journaille und nicht zuletzt ihre eigenen Apparatschiks wollten Sarrazins Kopf und hätten auf keinen Fall toleriert, wenn der Ausschluß nicht wenigstens versucht worden wäre.
Mit der nun gefundenen Lösung hat die SPD sich so elegant aus der Affäre gezogen, wie es bei dieser Sachlage nur eben möglich war: Die Blamage, mit dem Ausschlußverfahren zu scheitern, hat sie sich erspart. Dem Volk gegenüber, zu dem auch ein Gutteil des eigenen Fußvolks gehört, kann sie darauf verweisen, daß Thilo Sarrazin in der Partei bleibe, diese Partei mithin sehr wohl auch unbequeme Mitglieder ertrage. Die Hexenjäger wiederum kann sie damit beruhigen, sie habe das Verfahren nur eingestellt, weil Sarrazin sich ja von seinen Thesen distanziert habe.
Es fragt sich, ob dies der Fall ist. Sarrazins Erklärung ist in der Tat so gedrechselt, daß im Grunde Jeder hineinlesen kann, was er herauslesen möchte. Er hat sich von seinem Buch inhaltlich nicht distanziert, nur klargestellt, was ohnehin jeder wußte, der das Buch tatsächlich gelesen hatte: daß es keine rassistischen oder sozialdarwinistischen Thesen enthält. Ganz am Ende dann der vermutlich entscheidende Kniefall:
„Bei künftigen Veranstaltungen und Auftritten in der Öffentlichkeit werde ich darauf achten, durch Diskussionsbeiträge nicht mein Bekenntnis zu den sozialdemokratischen Grundsätzen infrage zu stellen oder stellen zu lassen.“
Ein Satz, den man schwerlich anders denn als Bekenntnis zu sozialdemokratischer Linientreue und zur Rückkehr in den Mainstream verstehen kann. Sich so zu äußern, daß man dadurch nicht sein eigenes sozialdemokratisches Profil in Frage stellt – gut. Sich aber so zu äußern, daß man es nicht in Frage stellen läßt: Damit begibt man sich der Deutungshoheit über das eigene Wort.
Was „sozialdemokratische Grundsätze“ sind, entscheiden die Parteigranden, und deren Politik ist mit der von Thilo Sarrazin bisher verfochtenen Position schlicht unvereinbar. Sarrazins Erklärung bedeutet mindestens die Ankündigung der Selbstzensur.
Daß die SPD einen fähigen und verdienten Politiker im Stil der chinesischen KP zur „Selbstkritik“ nötigt und erniedrigt, wird bei dieser Partei kaum einen erschüttern. Enttäuschend ist, daß er sich erniedrigen läßt; schließlich sind die Machtmittel deutscher Sozialdemokraten ungleich geringer als die chinesischer Kommunisten. Das Schlimmste, was sie ihm androhen konnten, war der Parteiausschluß, und selbst diese Drohung war noch zahnlos.
Thilo Sarrazin hätte um den Verbleib in seiner Partei kämpfen können – diesen Kampf hätte er gewonnen. Oder er hätte gehen und laut die Tür hinter sich zuknallen können; auch dann wäre er als Sieger vom Platz gegangen. Seine Partei hätte dann als genau das dagestanden, was sie ist: als Vereinigung von wirklichkeitsblinden Ideologen und verantwortungslosen Pöstchenjägern, die sehenden Auges das eigene Land untergehen lassen und Kritikern dieser Politik nicht mit Argumenten, sondern mit Zwangsmaßnahmen begegnen. Warum nur hat er sich auf den faulen Kompromiss eingelassen, der ihn zum Verlierer stempelt?
Nein, ich glaube nicht, „dass sich hier ein geltungssüchtiger, charakterloser Mann lediglich materiell bereichern und ins Rampenlicht spielen wollte“. Ein geltungssüchtiger Mann hätte weitergemacht, und sei es, um sich als Enfant terrible der Republik zu inszenieren; und was die materielle Bereicherung angeht, so konnte er wohl kaum ahnen, was für einen Volltreffer er mit „Deutschland schafft sich ab“ landen würde.
Nein, ich glaube, wir haben es einfach mit einem Fall von Feigheit und Schwäche zu tun: Dieser Mann ist es leid zu kämpfen. Wer so lange zum Establishment gehört hat, wird auf seine alten Tage nicht mehr zum Rebellen. Er will weiterhin dazugehören; deshalb hat er nach der halb ausgestreckten Versöhnungshand der SPD gegriffen und spielt nun in dem miesen Stück mit, zu dem die Regisseure unseres Polittheaters jetzt umschreiben, was einmal als packendes Drama begonnen hat:
Die Debatte um sein Buch hatte blitzartig deutlich gemacht, wie wenig die herrschende Ideologie der „kulturellen Bereicherung“ mit der Lebenswirklichkeit der Deutschen zu tun hatte, und wie weit das Gespür verbreitet ist, daß unser Volk von seinen eigenen Eliten systematisch in den Untergang getrieben wird. Für einen Moment wankte das Ideologiekartell, und wenn sich ein Politiker gefunden hätte, der die Gelegenheit beim Schopf gepackt hätte, dem Establishment den Kampf anzusagen, dann sähe die Republik schon heute anders aus. Einen solchen Politiker gab es nicht. Das verunsicherte Establishment, das einen Sarrazin mit Argumenten nicht widerlegen konnte, zog sich alsbald aus der nicht zu gewinnenden offenen Feldschlacht zurück, jagte mit Suttgart 21 eine neue Sau durchs Dorf und ließ ihre publizistischen und universitären Ideologieproduzenten die fällige Drecksarbeit verrichten. Nun vergeht kaum ein Tag, an dem nicht auf irgendeinem Sender oder in irgendeinem Blatt Sarrazins Thesen als „rassistisch“ „populistisch“ und „unwissenschaftlich“ verunglimpft würden – so, als sei dies jemals überzeugend dargelegt worden, und als habe nicht gerade Sarrazins Buch die völlige Irrelevanz dessen bewiesen, was hierzulande immer noch die Stirn hat, sich „Wissenschaft“ zu nennen. Und Thilo Sarrazin selbst räumt das Feld.
Was eine Chance zum politischen Neuanfang hätte sein können, ist vom herrschenden Kartell ausmanövriert worden. Die Sarrazin-Debatte mutet im Rückblick an wie eine typische Diskurs-Inszenierung Marke BRD: ein paar Wochen Geplapper, hektisch, hysterisch und folgenlos.
Andreas Vonderach
Auch mein Eindruck ist, daß die Sarrazin-Gegner in den letzten Monaten wieder stark an Boden gewonnen haben. Einfach durch ihre ständige Präsenz in den Medien, während die Sarrazin-Anhänger dort gar nicht vertreten sind. Es genügt eben nicht, die Schweigespirale einmal für kurze Zeit zu durchbrechen, man muß auch längefristige Wirkung erzielen können. Hier ist konzeptionelle Arbeit gefragt.