Die SPD und der Fall Sarrazin: eine Art Schadenabwicklung

von Manfred Kleine-Hartlage

Nun bleibt Thilo Sarrazin also doch in der SPD. Auch wenn einige Sozialdemokraten es nicht einsehen mögen:...

Für ihre Par­tei ist das eine gute Nach­richt. Die SPD befand sich in einer drei­fa­chen Zwangslage:

Zum einen hat­te sie juris­tisch nicht den Hauch einer Chan­ce, Thi­lo Sar­ra­zin aus­zu­schlie­ßen. Daß man aus dem Kreis der „Anstän­di­gen“ – also derer, die die herr­schen­de Ideo­lo­gie ver­tre­ten und des­halb im soge­nann­ten öffent­li­chen Dis­kurs wohl­ge­lit­ten sind – aus­ge­schlos­sen wird, wenn man bestimm­te Wahr­hei­ten aus­spricht und damit die bun­des­deut­schen Lebens­lü­gen als sol­che ent­larvt; daß man sich dadurch in den eta­blier­ten Par­tei­en um jede Wir­kungs­mög­lich­keit bringt – dar­über wird sich sicher­lich nie­mand Illu­sio­nen machen.

Nur funk­tio­niert die­se Art von ganz und gar nicht herr­schafts­frei­em Dis­kurs nur, solan­ge die Loya­li­tät gegen­über der herr­schen­den Metaideo­lo­gie infor­mell erzwun­gen wird und die Fik­ti­on von Demo­kra­tie und Mei­nungs­frei­heit auf­recht­erhal­ten bleibt. Par­tei­sta­tu­ten, die das Aus­spre­chen der Wahr­heit unter­sa­gen, wür­den selbst zu viel Wahr­heit ent­hal­ten und den tat­säch­li­chen Zustand unse­res poli­ti­schen Sys­tems offen­le­gen. Dem­ge­mäß exis­tie­ren sol­che Sta­tu­ten nicht.

Thi­lo Sar­ra­zin hat also nicht gegen die Sat­zung sei­ner Par­tei, erst recht nicht gegen irgend­ein Gesetz ver­sto­ßen. Hät­te er es auf das Ver­fah­ren ankom­men las­sen, so wäre sein Aus­schluß ent­we­der schon vor den par­tei­ei­ge­nen Schieds­kom­mis­sio­nen geschei­tert oder aber spä­tes­tens von einem ordent­li­chen Gericht kas­siert worden.

Zum zwei­ten stand die Par­tei unter dem Druck einer Öffent­lich­keit, die mehr­heit­lich Sar­ra­zins The­sen unter­stützt oder doch zumin­dest dis­ku­ta­bel fin­det, und der gegen­über bereits das Aus­schlußver­fah­ren einen ver­hee­ren­den Ein­druck machen muß­te – näm­lich daß die SPD, wie das gesam­te poli­ti­sche Estab­lish­ment, die von Thi­lo Sar­ra­zin benann­ten Pro­ble­me weder auf­zu­grei­fen noch zu lösen gedenkt. Ein über Mona­te sich hin­zie­hen­des Aus­schluß­ver­fah­ren hät­te die­sem Ein­druck täg­lich täg­lich neue Nah­rung gegeben.

Drit­tens aber steht die SPD, wie alle Par­tei­en, unter dem Zwang, sich nur ja nicht bei irgend­wel­chen Nach­läs­sig­kei­ten im „Kampf gegen Rechts“ erwi­schen zu las­sen. Ihre lin­ken Kon­kur­renz­par­tei­en, eine auf Hexen­jagd pro­gram­mier­te Jour­nail­le und nicht zuletzt ihre eige­nen Appa­rat­schiks woll­ten Sar­ra­zins Kopf und hät­ten auf kei­nen Fall tole­riert, wenn der Aus­schluß nicht wenigs­tens ver­sucht wor­den wäre.

Mit der nun gefun­de­nen Lösung hat die SPD sich so ele­gant aus der Affä­re gezo­gen, wie es bei die­ser Sach­la­ge nur eben mög­lich war: Die Bla­ma­ge, mit dem Aus­schluß­ver­fah­ren zu schei­tern, hat sie sich erspart. Dem Volk gegen­über, zu dem auch ein Gut­teil des eige­nen Fuß­volks gehört, kann sie dar­auf ver­wei­sen, daß Thi­lo Sar­ra­zin in der Par­tei blei­be, die­se Par­tei mit­hin sehr wohl auch unbe­que­me Mit­glie­der ertra­ge. Die Hexen­jä­ger wie­der­um kann sie damit beru­hi­gen, sie habe das Ver­fah­ren nur ein­ge­stellt, weil Sar­ra­zin sich ja von sei­nen The­sen distan­ziert habe.

Es fragt sich, ob dies der Fall ist. Sar­ra­zins Erklä­rung ist in der Tat so gedrech­selt, daß im Grun­de Jeder hin­ein­le­sen kann, was er her­aus­le­sen möch­te. Er hat sich von sei­nem Buch inhalt­lich nicht distan­ziert, nur klar­ge­stellt, was ohne­hin jeder wuß­te, der das Buch tat­säch­lich gele­sen hat­te: daß es kei­ne ras­sis­ti­schen oder sozi­al­dar­wi­nis­ti­schen The­sen ent­hält. Ganz am Ende dann der ver­mut­lich ent­schei­den­de Kniefall:

„Bei künf­ti­gen Ver­an­stal­tun­gen und Auf­trit­ten in der Öffent­lich­keit wer­de ich dar­auf ach­ten, durch Dis­kus­si­ons­bei­trä­ge nicht mein Bekennt­nis zu den sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Grund­sät­zen infra­ge zu stel­len oder stel­len zu lassen.“ 

Ein Satz, den man schwer­lich anders denn als Bekennt­nis zu sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Lini­en­treue und zur Rück­kehr in den Main­stream ver­ste­hen kann. Sich so zu äußern, daß man dadurch nicht sein eige­nes sozi­al­de­mo­kra­ti­sches Pro­fil in Fra­ge stellt – gut. Sich aber so zu äußern, daß man es nicht in Fra­ge stel­len läßt: Damit begibt man sich der Deu­tungs­ho­heit über das eige­ne Wort.

Was „sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Grund­sät­ze“ sind, ent­schei­den die Par­tei­gran­den, und deren Poli­tik ist mit der von Thi­lo Sar­ra­zin bis­her ver­foch­te­nen Posi­ti­on schlicht unver­ein­bar. Sar­ra­zins Erklä­rung bedeu­tet min­des­tens die Ankün­di­gung der Selbstzensur.

Daß die SPD einen fähi­gen und ver­dien­ten Poli­ti­ker im Stil der chi­ne­si­schen KP zur „Selbst­kri­tik“ nötigt und ernied­rigt, wird bei die­ser Par­tei kaum einen erschüt­tern. Ent­täu­schend ist, daß er sich ernied­ri­gen läßt; schließ­lich sind die Macht­mit­tel deut­scher Sozi­al­de­mo­kra­ten ungleich gerin­ger als die chi­ne­si­scher Kom­mu­nis­ten. Das Schlimms­te, was sie ihm andro­hen konn­ten, war der Par­tei­aus­schluß, und selbst die­se Dro­hung war noch zahnlos.

Thi­lo Sar­ra­zin hät­te um den Ver­bleib in sei­ner Par­tei kämp­fen kön­nen – die­sen Kampf hät­te er gewon­nen. Oder er hät­te gehen und laut die Tür hin­ter sich zuknal­len kön­nen; auch dann wäre er als Sie­ger vom Platz gegan­gen. Sei­ne Par­tei hät­te dann als genau das dage­stan­den, was sie ist: als Ver­ei­ni­gung von wirk­lich­keits­blin­den Ideo­lo­gen und ver­ant­wor­tungs­lo­sen Pöst­chen­jä­gern, die sehen­den Auges das eige­ne Land unter­ge­hen las­sen und Kri­ti­kern die­ser Poli­tik nicht mit Argu­men­ten, son­dern mit Zwangs­maß­nah­men begeg­nen. War­um nur hat er sich auf den fau­len Kom­pro­miss ein­ge­las­sen, der ihn zum Ver­lie­rer stempelt?

Nein, ich glau­be nicht, „dass sich hier ein gel­tungs­süch­ti­ger, cha­rak­ter­lo­ser Mann ledig­lich mate­ri­ell berei­chern und ins Ram­pen­licht spie­len woll­te“. Ein gel­tungs­süch­ti­ger Mann hät­te wei­ter­ge­macht, und sei es, um sich als Enfant ter­ri­ble der Repu­blik zu insze­nie­ren; und was die mate­ri­el­le Berei­che­rung angeht, so konn­te er wohl kaum ahnen, was für einen Voll­tref­fer er mit „Deutsch­land schafft sich ab“ lan­den würde.

Nein, ich glau­be, wir haben es ein­fach mit einem Fall von Feig­heit und Schwä­che zu tun: Die­ser Mann ist es leid zu kämp­fen. Wer so lan­ge zum Estab­lish­ment gehört hat, wird auf sei­ne alten Tage nicht mehr zum Rebel­len. Er will wei­ter­hin dazu­ge­hö­ren; des­halb hat er nach der halb aus­ge­streck­ten Ver­söh­nungs­hand der SPD gegrif­fen und spielt nun in dem mie­sen Stück mit, zu dem die Regis­seu­re unse­res Polit­thea­ters jetzt umschrei­ben, was ein­mal als packen­des Dra­ma begon­nen hat:

Die Debat­te um sein Buch hat­te blitz­ar­tig deut­lich gemacht, wie wenig die herr­schen­de Ideo­lo­gie der „kul­tu­rel­len Berei­che­rung“ mit der Lebens­wirk­lich­keit der Deut­schen zu tun hat­te, und wie weit das Gespür ver­brei­tet ist, daß unser Volk von sei­nen eige­nen Eli­ten sys­te­ma­tisch in den Unter­gang getrie­ben wird. Für einen Moment wank­te das Ideo­lo­gie­kar­tell, und wenn sich ein Poli­ti­ker gefun­den hät­te, der die Gele­gen­heit beim Schopf gepackt hät­te, dem Estab­lish­ment den Kampf anzu­sa­gen, dann sähe die Repu­blik schon heu­te anders aus. Einen sol­chen Poli­ti­ker gab es nicht. Das ver­un­si­cher­te Estab­lish­ment, das einen Sar­ra­zin mit Argu­men­ten nicht wider­le­gen konn­te, zog sich als­bald aus der nicht zu gewin­nen­den offe­nen Feld­schlacht zurück, jag­te mit Sutt­gart 21 eine neue Sau durchs Dorf und ließ ihre publi­zis­ti­schen und uni­ver­si­tä­ren Ideo­lo­gie­pro­du­zen­ten die fäl­li­ge Drecks­ar­beit ver­rich­ten. Nun ver­geht kaum ein Tag, an dem nicht auf irgend­ei­nem Sen­der oder in irgend­ei­nem Blatt Sar­ra­zins The­sen als „ras­sis­tisch“ „popu­lis­tisch“ und „unwis­sen­schaft­lich“ ver­un­glimpft wür­den – so, als sei dies jemals über­zeu­gend dar­ge­legt wor­den, und als habe nicht gera­de Sar­ra­zins Buch die völ­li­ge Irrele­vanz des­sen bewie­sen, was hier­zu­lan­de immer noch die Stirn hat, sich „Wis­sen­schaft“ zu nen­nen. Und Thi­lo Sar­ra­zin selbst räumt das Feld.

Was eine Chan­ce zum poli­ti­schen Neu­an­fang hät­te sein kön­nen, ist vom herr­schen­den Kar­tell aus­ma­nö­vriert wor­den. Die Sar­ra­zin-Debat­te mutet im Rück­blick an wie eine typi­sche Dis­kurs-Insze­nie­rung Mar­ke BRD: ein paar Wochen Geplap­per, hek­tisch, hys­te­risch und folgenlos.

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Kommentare (9)

Andreas Vonderach

2. Mai 2011 13:13

Auch mein Eindruck ist, daß die Sarrazin-Gegner in den letzten Monaten wieder stark an Boden gewonnen haben. Einfach durch ihre ständige Präsenz in den Medien, während die Sarrazin-Anhänger dort gar nicht vertreten sind. Es genügt eben nicht, die Schweigespirale einmal für kurze Zeit zu durchbrechen, man muß auch längefristige Wirkung erzielen können. Hier ist konzeptionelle Arbeit gefragt.

Hartmut Pilch

2. Mai 2011 14:47

Auch der letzte Satz ist im Effekt kein Kniefall, denn um ihre Deutungshoheit auszuspielen, müssten die SPD-Granden ein erneutes Verfahren anstrengen. Das heißt dass S. letztlich weiter als SPD-Mitglied im bisherigen Stil in Talkshows auftreten und Vorträge halten kann und jedes mal die Frage, ob das denn nun den "sozialdemokratischen Grundsätzen" entspricht, weiter zum Aufmerksamkeitswert der Veranstaltung beiträgt, ohne dass die SPD irgendwelche Karten ausspielen könnte. S. auch https://a2e.de/phm/11/04/23/sarrazin/.

Schon länger besorgt

2. Mai 2011 17:02

In den letzten Tagen dachte ich, die SPD hätte einen klugen Schachzug getan ("Schaut her, wir können mit so einem Mann umgehen, die CDU mit ihrer Kanzlerin kann es nicht"), aber heute ist zu lesen, daß die SPD nun erst recht kopflos in den Untergang springen will und Deutschland gar nicht schnell genug abschaffen kann: Sie möchte eine Migrantenquote in der Partei und möglichst auch in allen Ämtern Deutschlands. Daß dies all unseren Gesetzen hohnspricht, scheint die SPD nicht zu kümmern. Im FOCUS machten sich in den Kommentaren auch schon einige Leser völlig zu Recht lustig, daß dann auch eine Homosexuellen-, Rothaarigen- und andere Quoten kommen müßten. In der Tat: Müßte man dann nicht die "Migranten" noch einmal prozentual aufteilen? Ein Teil Türken, ein Teil Afghanen, ein Teil Franzosen, Vietnamesen, Chinesen, Polen, Russen etc.; von diesen wiederum ein Teil Frauen, das alles noch unterteilt in Katholiken, Protestanten, Sunniten, Aleviten, orthodoxe Christen, Atheisten, Buddhisten etc. In Wirklichkeit sind natürlich nur orientalische Moslems gemeint, denn daß sich ein moslemischer Türke von einem erzkatholischen Polen besser verstanden und behandelt fühlt als von einem Deutschen, das glauben wohl noch nicht einmal die Multikultifanatiker selbst. Nein, mit dieser Forderung zeigt die SPD endgültig, daß ihr Deutschland fast so egal ist wie der Linkspartei. Nach Sarrazin wird es nun nicht besser, sondern womöglich NOCH schlimmer, als es schon ist.

Julie

2. Mai 2011 18:16

Das Ganze war doch überhaupt nicht das, was alle dachten. Hinter der DVA, Sarrazins Verlag, steht die Bertelsmann-Stiftung. Wie interessant. Weiterhin ist es doch bezeichnend, dass Sarrazin, der ja angeblich so viel in Deutschland "verändern" wollte, elefantenartig in alle "Fettnäpfchen" hineingetrampelt ist, die sich im ns-neurotisierten Deutschland so bieten: Sarrazin will politisches Handeln mit Genetik rechtfertigen (jeder in Deutschland weiß, dass hier das größte deutsche Tabu überhaupt berührt wird) oder sprach von Juden, die ein gemeinsames Gen teilen würden (jeder weiß, dass man in Deutschland die Worte "Jude" und "Gen" nicht in einem Satz aussprechen darf, ohne sich gesellschaftlich und politisch unmöglich zu machen).

Weiterhin hatte er die einmalige Gelegenheit, den größten politischen Skandal der jüngsten BRD-Geschichte hinaufzubeschwören - er hätte nur nicht freiwillig von seinem Amt in der Bundesbank zurücktreten dürfen. - Diese Chance ließ er verstreichen.

Obwohl sich sehr früh abzeichnete, dass die Genossen mit seinen Thesen überhaupt nicht konform gingen (insbesondere jene an der Spitze) und diese trotz eines Zuspruches an der Basis oder von einzelnen geachteten SPD-Mitgliedern (z. B. Klaus von Dohnanyi, der Sarrazin bei seinem Ausschlussverfahren verteidigte) von der Partei niemals umgesetzt werden würden, trat Sarrazin nicht aus.

Ja, er unterschrieb zum guten Schluss sogar noch eine lächerliche, anbiedernde Erklärung, um auf jeden Fall in seiner geliebten SPD bleiben zu dürfen. - Letzteres führt natürlich nun dazu, dass Sarrazin in der Öffentlichkeit jedes Wort auf die Goldwaage legen muss, weil er unter peinlichster Beobachtung der Parteiführung und des linken SPD-Flügels steht (siehe auch die "Berliner Erklärung" bzw. Online-Petition bezüglich eines Partei-Ausschlusses von Sarrazin).

Und was tut die SPD? Sie will eine Migrantenquote einführen, damit Deutschland umso schneller als Deutschland abgeschafft wird. Andere Parteien, vor allem die Grünen, werden dem natürlich folgen (müssen - schließlich will man es sich ja nicht mit dem künftigen Wählerklientel verscherzen).

Fazit: Ich möchte hier keine Verschwörungstheorie konstruieren. So etwas ist immer problematisch. Aber die Sache scheint mir sehr sehr faul zu sein. Ich bin heute (vor einiger Zeit dachte ich noch ganz anders) der Ansicht, dass Sarrazin nie die Absicht hatte, etwas in Deutschland zugunsten einer positiveren Zukunft des Landes zu verändern. Hätte er dies gewollt, die "Abschaffung" Deutschlands wirklich verhindern wollen, hätte er sich ganz anders verhalten und auch sein Buch anders geschrieben. Hier gehen Dingen vor sich, die dem Normalbürger verborgen bleiben. "Politik" oder "öffentliche Debatten" sind nur noch Kulisse (irgendwo war dies sicherlich schon immer so) - die Fäden ziehen andere.

Auch die Migranten sind nur Mittel zum Zweck, überall in den westlichen Ländern. Sie sollen die nationalen Kulturen zerschlagen, um den Globalisten den Weg frei zu räumen. Die Linken helfen kräftig mit, weil sie ja die Nationalstaaten ebenfalls verabscheuen. Und die Islamisten möchten die Islamisierung des Westens vorantreiben. So hat jeder seine Ziele; die "unsichtbare Hand" lenkt die Ereignisse in eine bestimmte Richtung. Verlierer der Entwicklung sind die autochthonen Bevölkerungen in den westlichen Ländern. Sie haben keine Chance. Es ist egal, wen sie wählen, das Ergebnis wird letztlich nur herausgezögert oder beschleunigt.

Zadok Allen

2. Mai 2011 22:23

Ich war bereits skeptisch, als letzten Sommer die Sarrazin-Sau durchs Dorf getrieben wurde. In die Nesseln gesetzt haben sich die JF und auch die Sezessionisten mit ihren so enthusiastischen wie voreiligen Bewertungen. (Man denke an den "Wende"-Aufkleber mit dem Konterfei Sarrazins.) Das politisch-mediale System gehorcht nicht den intentionalen Impulsen Einzelner. Das war vielleicht im frühen 19. Jahrhundert noch so. "Die Sarrazin-Debatte mutet im Rückblick an wie eine typische Diskurs-Inszenierung Marke BRD: ein paar Wochen Geplapper, hektisch, hysterisch und folgenlos." Schöner kann man es nicht zusammenfassen.

Mir leuchtet Sarrazins persönliches Verhalten nicht mehr ein, seit er seiner Entfernung aus dem Bundesbank-Vorstand zugestimmt hat. Hätte er es ernst gemeint, so hätte er "die Republik erschüttern" müssen; so oder so ähnlich hatte er es ja selbst formuliert. Und dann das häßliche Detail, daß er für dieses Stillhalten nun 10000 statt 9000 EUR Pension pro Monat erhält - war das Gier? Aber wer kann solche Summen überhaupt verfressen, ob nun tausend Euro mehr oder weniger, und was hätte er zu verlieren gehabt?

Julies Andeutungen bezüglich einer Inszenierung der Gesamt-Causa finde ich plausibel; doch wird es sich nach meiner Befürchtung eher um ein emergentes (weder produziertes noch produzierbares) Resultat der gegenwärtigen Macht- und Diskursverhältnisse handeln.

Martin Lichtmesz

3. Mai 2011 10:17

In die Nesseln gesetzt haben sich die JF und auch die Sezessionisten mit ihren so enthusiastischen wie voreiligen Bewertungen. (Man denke an den „Wende“-Aufkleber mit dem Konterfei Sarrazins.)

Pah, damals sah die Sache noch ganz anders aus, und es war immer noch die bessere Entscheidung, die Sache nach Kräften anzuheizen helfen, statt ausgerechnet in so einem Moment die Bremse zu ziehen, griesgrämig die Arme zu verschränken, um am Ende die masochistische Befriedigung des "Ich habs ja gesagt" auszukosten. Auch kann man uns nicht vorwerfen, daß wir nur gejubelt hätten oder allzuviel erwartet (siehe das Sonderheft "Sarrazin lesen"). Dafür können wir jetzt sagen, daß wir unser Scherflein beigetragen haben, wie wir eben konnten. Daß eine wirkliche Wende (bisher) ausgeblieben ist, ist ja nicht unsere Schuld. Dafür müssen wir jetzt auch nicht in die große Enttäuschungsdepression verfallen.

Davon abgesehen muß man Manfreds Pessimismus nicht vollständig teilen. Grundsätzlich finde ich es sogar gut, daß Sarrazin in der SPD geblieben ist. Nun abwarten, wie sehr er sich in Zukunft wirklich zurücknehmen wird. Das Buch kann jedenfalls keiner mehr rückgängig machen, und wer weiß, wie seine Saat noch aufgehen wird.

Julie

3. Mai 2011 18:13

Ich finde es charakterlos, dass Sarrazin in der SPD geblieben ist. Was ist für Sarrazin die SPD? Vergöttert er vielleicht eine abstrakte "Idee SPD"? Hängt er aus Nostalgie (er war ja so lange Mitglied) an der Partei? Die jetzige SPD, welche sich in einem jämmerlichen Zustand befindet, gibt ja nun wenig Anlass zu einem derartigen Enthusiasmus. Zudem: Sarrazin hat seiner angeblich über alles geliebten Partei durch seinen Nicht-Austritt erheblich geschadet. Wäre er freiwillig ausgetreten, hätte er den Genossen einige Probleme erspart. So sehr kann er die SPD also doch nicht lieben - wohl eher sich selbst. Es ging ihm bei seinem Verbleiben nur darum, den "Club der Anständigen" nicht zu verlassen und ein deutlich sichtbares Schutzmäntelchen des "Linksseins" nicht aufzugeben. Sarrazins Handlungen sind von einem prinzipienlosen Opportunismus geprägt, der seinesgleichen sucht.

Dass jemand, der sich lange Zeit pausenlos ins Rampenlicht spielte, letztlich nicht einmal den Mut hat, zu seinen Überzeugungen zu stehen und die dementsprechenden Konsequenzen zu ziehen, ruft bei mir nur Verachtung hervor.

Gut, man könnte natürlich sagen, dass die Person Sarrazin ja gar nicht so wichtig sei und nur sein Buch zähle (das ist aber - besonders in Bezug auf die vorgeschlagenen "Lösungen" - das Werk eines Sozialdemokraten und deshalb für mich grundsätzlich auch nicht unproblematisch), aber:

Sein Verhalten zeigt einmal mehr sehr deutlich, wer sich in diesem Land (und vermutlich gilt dies generell) in der Politik tummelt. Weit und breit ist niemand zu sehen, der Respekt oder Achtung verdienen würde.

Ich denke auch nicht, dass Sarrazins Verbleib in der SPD irgendwelche positiven Folgen bezüglich einer gewandelten Integrationspolitik haben wird. In der Migrationsforschung gilt Sarrazin als Unperson. Medien und Politiker haben ihn zum Rassisten (zum Teil lächerlicherweise sogar zu einem Antisemiten) erklärt. Er hat jetzt einen Maulkorb umgehängt bekommen. Da er mittlerweile genug abkassiert hat, wird er - meiner Meinung nach - wenig Lust verspüren, weiterhin durch Theater mit der SPD aufzufallen. Er hat seinen großen Auftritt gehabt und ihn - was sein Bankkonto angeht - weidlich genutzt.

In Deutschland hingegen sind bereits so viele Migranten bzw. Menschen "mit Migrationshintergrund" (gerade auch Kinder, die einen Großteil des zukünftigen Wählerpotentials stellen werden; gerade auch Muslime), dass alle Politiker wissen, dass sie in erster Linie diese Menschen umwerben müssen, um sich in Zukunft die Macht zu sichern.
Der Anteil der "Urbevölkerung" hingegen schrumpft und überaltert.

In Großstädten wird - spätestens in wenigen Jahrzehnten, wenn nicht bereits viel früher - die Mehrzahl der Menschen ausländische Wurzeln haben. Da die deutsche Identität seit geraumer Zeit extrem schwach ausgeprägt ist, identifiziert sich ein Großteil dieser Menschen kein bisschen mit Deutschland (vereinzelt natürlich schon) oder fühlt sich sogar wirklich deutsch. Diese Menschen wurden nicht mehr erfolgreich - und das ist jetzt nicht ökonomisch gemeint, sondern kulturell bzw. psychisch - in Deutschland integriert.

Integration heißt für mich persönlich nicht (nur), dass jemand einen Job hat, nicht straffällig wird und Deutsch kann. Es heißt für mich auch nicht, dass sich jeder einen Gartenzwerg mit blauer Zipfelmütze aufstellen muss. Aber es heißt für mich, dass sich jemand irgendwann der Mehrheitsbevölkerung zurechnet und damit aufhört, die Partikularinteressen seiner Herkunftsgesellschaft gegen die Interessen der Mehrheitsbevölkerung zu vertreten. (Demnach sind Leute wie etwa die Autoren des unsäglichen "Manifests der Vielen" für mich eindeutig nicht integriert.) Irgendwann muss Schluss sein mit der Konstruktion des Antagonismus "ich, der arme kleine diskriminierte Migrant" und "die böse postkoloniale postfaschistische rassistische weiße deutsche Dominanzgesellschaft".

Für so eine Integration bestehen in Deutschland jedoch auch aus historischen Gründen keine sehr guten Voraussetzungen: Deutschland wurde als Nationalstaat für die deutsche Kulturnation konzipiert und nicht als Grundlage für ein multikulturelles Utopia; dem Land lag also ein objektivistisch geprägter Nationsgedanke zugrunde. Dieser führt(e) dazu, dass Deutschsein auf bestimmte Weise konnotiert ist. Jemand z. B. der eine dunkle Hautfarbe aufweist, wird reflexhaft (ich denke, immer noch bei sehr vielen Menschen) als Ausländer empfunden. Das macht(e) es auch integrationswilligen Menschen nicht leicht, in Deutschland wirklich anzukommen. (Result ist unter anderem die unsägliche Bezeichnung "Mensch mit Migrationshintergrund".) Die schwache Identität aufgrund der NS-Neurose tut ein Übriges:

Ich habe selbst erlebt, dass es für manche Zuwandererkinder die schlimmste Beleidigung überhaupt darstellt, als deutsch bezeichnet zu werden. Sie wollen alles sein, aber bitte nicht deutsch. Denn Deutschsein heißt, sich selbst zu hassen, sich selbst zu erniedrigen und sich vor allem Nicht-Deutschen in den Staub zu werfen. Wer will das mitmachen? Die Nicht-Identifizierung mit so einem pathologischen Masochismus ehrt die Menschen sogar.

Gabriel und Nahles bzw. die Genossen haben jedenfalls kalte Schweissausbrüche bekommen, als der linke Parteiflügel angesichts von Sarrazins Verbleib in der Partei lautstark zu meutern begann und auch Menschen "mit Migrationshintergrund" darunter waren. (Man beachte auch die "Berliner Erklärung".) Sie mussten handeln, und das schnell.

Wir sind jetzt bereits in einer Zeit angelangt, in der gewisse Entwicklungen unumkehrbar sind und eine Eigendynamik entfaltet haben. In einem multikulturellen Land (und das ist Deutschland mittlerweile) können die "Etablierten" nicht mehr auf ihren "Etabliertenstatus" pochen. Sie müssen jetzt die Spielregeln beachten, welche angesichts einer multikulturellen Bevölkerung gelten: politisch korrekt sein, deeskalieren, niemanden "diskriminieren", Identität beständig "dekonstruieren", etc.

Trotzdem finde ich nicht, dass das Verhalten der Sezession oder der Jungen Freiheit während der Sarrazin-Affäre falsch waren. Niemand konnte wissen, wie sich alles entwickeln würde. Es gab zum ersten Mal seit langem zumindest Hoffnung und es war, als würde ein frischer Wind durch dieses von heuchlerischer politischer Korrektheit und Tabus verpestete Land wehen.

Wenn Sarrazin in Sachen Bundesbank standhaft geblieben wäre und es auf einen langwierigen Prozess hätte ankommen lassen - das hätte die BRD und mit ihm den Polit-Filz an der Spitze so richtig erschüttert. Dann hätte so richtig Bewegung in dieses Land kommen können. Damals galt es also, das zarte Pflänzchen einer Wende (auch ich glaubte damals fest, dass eine solche noch möglich sein würde) zu pflegen und nicht gleich wieder zu zertreten. Leider kam es anders.

Mittlerweile ist dem Konzept der Identität (auf sämtlichen Ebenen und zudem nicht nur in Deutschland) der totale Krieg erklärt worden. Und totaler Krieg wird meistens bis zum bitteren Ende geführt.

Sympathieträger

5. Mai 2011 14:15

Th.Sarrazin wird sowohl von "Links" als auch von "Rechts"
derart überbewertet, daß man diesen Namen nicht mehr
hören kann, noch lesen möchte.
Es war von Anfang an ein Ding (Hype-!-) für Doofe.

Theosebeios

9. Mai 2011 13:13

Zu JULIE

Die "Sarrazin-Debatte" ist noch nicht zu Ende. Man verurteile ihn nicht vorschnell. "Unumkehrbar" ist eine Entwicklung erst, nachdem sie abgeschlossen ist. Darüber können wir zurzeit nichts wissen.

"Mittlerweile ist dem Konzept der Identität (auf sämtlichen Ebenen und zudem nicht nur in Deutschland) der totale Krieg erklärt worden. Und totaler Krieg wird meistens bis zum bitteren Ende geführt."
Das erscheint so. Die allgegenwärtige "Destruktion" von Identität könnte aber auch gar keine bewusste Handlung ("Kriegserklärung"), sondern ein historischer Prozess sein, der sich am Ende selbst destruiert. Dann könnte wieder die Stunde der "Identität" schlagen.

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