Stefan Scheil: Präventivkrieg Barbarossa

Der Historiker Stefan Scheil hat in seinem kaplaken-Bändchen „Präventivkrieg Barbarossa. Fragen, Fakten, Antworten“ mit allen möglichen Legenden...

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

über den deut­schen Angriff auf Sowjet­ruß­land im Som­mer 1941 auf­ge­räumt und außer­dem grund­le­gend defi­niert, was ein „Prä­ven­tiv­krieg“ ist. In einem kur­zen Gespräch gibt Scheil Aus­kunft über sei­ne Forschung:

SEZESSION: War­um, Herr Scheil, beschäf­ti­gen Sie sich aus­ge­rech­net mit die­sem heik­len The­ma? War­um „Prä­ven­tiv­krieg Barbarossa“?

SCHEIL: Zwi­schen 1999 und 2005 habe ich ein For­schungs­pro­jekt zu Aus­bruch und Eska­la­ti­on des Zwei­ten Welt­kriegs und des­sen „his­to­ri­schem Ort“ durch­ge­führt, des­sen Ergeb­nis­se schließ­lich in drei Bän­den publi­ziert wor­den sind. Am Ende die­ser Eska­la­ti­on steht natür­lich das Jahr 1941, das erst den Welt­krieg als sol­chen gebracht hat, und dabei spielt die Fra­ge nach den Grün­den des deut­schen Angriffs auf die UdSSR eine ent­schei­den­de Rol­le. Die­ser For­schungs­an­satz beinhal­tet kei­ne Kri­tik an ande­ren For­schungs­fel­dern und Ver­fol­gungs­ge­schich­ten, son­dern ergänzt sie. Die Zusam­men­hän­ge von Kriegs­füh­rung und poli­tisch-eth­ni­scher Ver­fol­gung gehö­ren zu den viel­dis­ku­tier­ten The­men der Zeit­ge­schich­te. Eine Erwei­te­rung des Erkennt­nis­stands über die Ursa­chen mili­tä­ri­scher Ent­schei­dun­gen ist ein not­wen­di­ger und selbst­ver­ständ­li­cher Bei­trag auch dazu.

Der jet­zi­ge kapla­ken-Band und die fast gleich­zei­tig erschie­ne­ne Neu­auf­la­ge mei­ner Stu­die über die all­ge­mei­ne Eska­la­ti­on des Krie­ges in den Jah­ren 1940/41 füh­ren die­se Debat­te fort und fügen neu erschlos­se­nes Quel­len­ma­te­ri­al und jün­ge­re Lite­ra­tur mit ein. Es war mir dabei wich­tig, den oft miß­ver­stan­de­nen Begriff „Prä­ven­tiv­krieg“ genau zu umrei­ßen und sei­ne Anwend­bar­keit auf das Unter­neh­men Bar­ba­ros­sa nach­zu­wei­sen, um eben die­se Miß­ver­ständ­nis­se auszuräumen.

SEZESSION: Wie konn­te es zu der Igno­ranz der For­schung gegen­über den von Ihnen beleg­ten Fak­ten kommen?

SCHEIL: Von „Igno­ranz der For­schung“ wür­de ich so all­ge­mein nicht spre­chen. Wenn Sie die Ent­wick­lung der letz­ten zwan­zig Jah­re sehen, dann gab es durch­aus Pha­sen, in denen die­se beleg­ten Fak­ten von der For­schung stär­ker auf­ge­nom­men wur­den als heu­te. Selbst in jenen Bän­den, in denen die Prä­ven­tiv­kriegs­the­se ins­ge­samt bestrit­ten wur­de, fin­den sich sehr weit­ge­hen­de Zuge­ständ­nis­se an die­se Fak­ten. Bei­spiels­wei­se wird des öfte­ren ein­ge­räumt, daß die Rote Armee im Som­mer angriffs­be­reit an der Gren­ze stand, so etwa vom Grün­dungs­di­rek­tor des Deut­schen His­to­ri­schen Insti­tuts in Mos­kau, Prof. Bernd Bonwetsch.

Aller­dings hat sich die­se Auf­fas­sung nicht zu einer all­ge­mein aner­kann­ten Inter­pre­ta­ti­on des Unter­neh­mens Bar­ba­ros­sa als Prä­ven­tiv­krieg ver­dich­tet. Hier spiel­te zum einen die wei­ter­hin leb­haf­te Tätig­keit von His­to­ri­kern eine Rol­le, die schon in den 1980ern alle Hebel bis hin zu juris­ti­schen Mit­teln in Bewe­gung setz­ten, um in der damals in Arbeit befind­li­chen Publi­ka­ti­on des Mili­tär­ge­schicht­li­chen For­schungs­amts (MGFA) über das „Deut­sche Reich und den Zwei­ten Welt­krieg“ jede Erwäh­nung sol­cher Fak­ten in Bezug auf Bar­ba­ros­sa zu ver­hin­dern. Das gelang teil­wei­se. Hier ging es nicht um For­schung, son­dern um Poli­tik, gele­gent­lich bis in die höchs­ten Ränge.
Vom dama­li­gen Bun­des­prä­si­den­ten Weiz­sä­cker etwa wird berich­tet, daß er die Unter­drü­ckung sol­cher Fak­ten im MGFA aus­drück­lich for­der­te. Unter die­sen Umstän­den ist es für den His­to­ri­ker nicht leicht, objek­ti­ve Geschichts­schrei­bung zu betrei­ben und deren Ergeb­nis­se zu ver­öf­fent­li­chen. Seit der zwei­ten Hälf­te der 90er Jah­re kam dazu noch eine all­ge­mei­ne Nei­gung, die Geschich­te der Kriegs­zeit unter dem Aspekt einer deut­schen Ver­bre­chens­ge­schich­te abzu­han­deln und mili­tä­risch-poli­ti­sche Fra­gen oder Absich­ten deut­scher Kriegs­geg­ner noch weni­ger zu beach­ten als zuvor.

SEZESSION: Ein Stan­dard-Argu­ment gegen die Prä­ven­tiv­kriegs­the­se lau­tet, Hit­ler habe bereits in Mein Kampf sei­ne impe­ria­lis­ti­schen Phan­ta­sien für „Lebens­raum im Osten“ aus­buch­sta­biert. Was erwi­dern Sie auf die­ses Argument?

SCHEIL: Das Argu­ment geht an der Sache vor­bei. Zunächst ein­mal ist die Situa­ti­on, die Hit­ler in Mein Kampf beschrie­ben hat, nie ein­ge­tre­ten. Damals phan­ta­sier­te er vom angeb­lich zwangs­läu­fi­gen inne­ren Zusam­men­bruch der UdSSR und von den Impe­ria­lis­ten, die dann die­se Gele­gen­heit für sich nut­zen wür­den, dar­un­ter auch Deutsch­land die Chan­ce zur Lebens­raum­ge­win­nung. Die UdSSR brach aber nicht zusam­men, sie ent­wi­ckel­te sich zur bedroh­li­chen Super­macht und als sol­che wird sie in den inter­nen Äuße­run­gen und über­lie­fer­ten Denk­schrif­ten Hit­lers als Dik­ta­tor auch durch­ge­hend aufgefaßt.

Des wei­te­ren kann das „Lebens­raum im Osten“-Klischee prin­zi­pi­ell kei­ne Ant­wort dar­auf geben, war­um das Unter­neh­men Bar­ba­ros­sa 1941 statt­ge­fun­den hat und nicht frü­her oder spä­ter. Erobe­run­gen lie­ßen sich in der UdSSR theo­re­tisch auch 1939 machen oder 1944, oder zu jedem ande­ren Zeit­punkt. Tat­säch­lich läßt sich im Detail nach­wei­sen, daß erst die andau­ern­de Kriegs­si­tua­ti­on mit Eng­land, die sowje­ti­schen Ver­let­zun­gen des 1939 geschlos­se­nen Nicht­an­griffs­pakts und Inter­es­sen­aus­gleichs, die seit Som­mer 1940 beob­ach­te­ten mili­tä­ri­schen Dro­hun­gen der UdSSR und der schließ­lich umfas­sen­de Auf­marsch der Roten Armee den Ent­schluß zum deut­schen Angriff ver­ur­sach­ten. Eben des­halb ist das Unter­neh­men Bar­ba­ros­sa als Prä­ven­tiv­krieg zu bezeich­nen, da es sich gegen eine zutref­fend erkann­te mili­tä­ri­sche Dro­hung richtete.

Damit ist die Fra­ge nach Ver­bre­chen oder erneu­ten Lebens­raum­plä­nen im Rah­men die­ses Prä­ven­tiv­kriegs nicht auto­ma­tisch mit­be­ant­wor­tet, auch die­ser Punkt wird häu­fig durch­ein­an­der­ge­wor­fen und trägt zur all­ge­mei­nen Pole­mik bei. Zwei­fel­los ziel­te der deut­sche Angriff auf die Zer­schla­gung des sowje­ti­schen Staats­ver­bands und auf die Eta­blie­rung eines deutsch kon­trol­lier­ten Vor­felds in Ost­eu­ro­pa, das den „Kern“ gegen wei­te­re Bedro­hun­gen von dort schüt­zen soll­te, wie Hit­ler sich aus­drück­te. Wie gesagt, wer­den die Zusam­men­hän­ge von Kriegs­füh­rung und poli­tisch-eth­ni­scher Ver­fol­gung auch wei­ter­hin zu den viel­dis­ku­tier­ten The­men der Zeit­ge­schich­te gehö­ren, selbst wenn das Unter­neh­men Bar­ba­ros­sa all­ge­mein als Prä­ven­tiv­krieg auf­ge­faßt wer­den sollte.

 

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

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