über den deutschen Angriff auf Sowjetrußland im Sommer 1941 aufgeräumt und außerdem grundlegend definiert, was ein „Präventivkrieg“ ist. In einem kurzen Gespräch gibt Scheil Auskunft über seine Forschung:
SEZESSION: Warum, Herr Scheil, beschäftigen Sie sich ausgerechnet mit diesem heiklen Thema? Warum „Präventivkrieg Barbarossa“?
SCHEIL: Zwischen 1999 und 2005 habe ich ein Forschungsprojekt zu Ausbruch und Eskalation des Zweiten Weltkriegs und dessen „historischem Ort“ durchgeführt, dessen Ergebnisse schließlich in drei Bänden publiziert worden sind. Am Ende dieser Eskalation steht natürlich das Jahr 1941, das erst den Weltkrieg als solchen gebracht hat, und dabei spielt die Frage nach den Gründen des deutschen Angriffs auf die UdSSR eine entscheidende Rolle. Dieser Forschungsansatz beinhaltet keine Kritik an anderen Forschungsfeldern und Verfolgungsgeschichten, sondern ergänzt sie. Die Zusammenhänge von Kriegsführung und politisch-ethnischer Verfolgung gehören zu den vieldiskutierten Themen der Zeitgeschichte. Eine Erweiterung des Erkenntnisstands über die Ursachen militärischer Entscheidungen ist ein notwendiger und selbstverständlicher Beitrag auch dazu.
Der jetzige kaplaken-Band und die fast gleichzeitig erschienene Neuauflage meiner Studie über die allgemeine Eskalation des Krieges in den Jahren 1940/41 führen diese Debatte fort und fügen neu erschlossenes Quellenmaterial und jüngere Literatur mit ein. Es war mir dabei wichtig, den oft mißverstandenen Begriff „Präventivkrieg“ genau zu umreißen und seine Anwendbarkeit auf das Unternehmen Barbarossa nachzuweisen, um eben diese Mißverständnisse auszuräumen.
SEZESSION: Wie konnte es zu der Ignoranz der Forschung gegenüber den von Ihnen belegten Fakten kommen?
SCHEIL: Von „Ignoranz der Forschung“ würde ich so allgemein nicht sprechen. Wenn Sie die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre sehen, dann gab es durchaus Phasen, in denen diese belegten Fakten von der Forschung stärker aufgenommen wurden als heute. Selbst in jenen Bänden, in denen die Präventivkriegsthese insgesamt bestritten wurde, finden sich sehr weitgehende Zugeständnisse an diese Fakten. Beispielsweise wird des öfteren eingeräumt, daß die Rote Armee im Sommer angriffsbereit an der Grenze stand, so etwa vom Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Instituts in Moskau, Prof. Bernd Bonwetsch.
Allerdings hat sich diese Auffassung nicht zu einer allgemein anerkannten Interpretation des Unternehmens Barbarossa als Präventivkrieg verdichtet. Hier spielte zum einen die weiterhin lebhafte Tätigkeit von Historikern eine Rolle, die schon in den 1980ern alle Hebel bis hin zu juristischen Mitteln in Bewegung setzten, um in der damals in Arbeit befindlichen Publikation des Militärgeschichtlichen Forschungsamts (MGFA) über das „Deutsche Reich und den Zweiten Weltkrieg“ jede Erwähnung solcher Fakten in Bezug auf Barbarossa zu verhindern. Das gelang teilweise. Hier ging es nicht um Forschung, sondern um Politik, gelegentlich bis in die höchsten Ränge.
Vom damaligen Bundespräsidenten Weizsäcker etwa wird berichtet, daß er die Unterdrückung solcher Fakten im MGFA ausdrücklich forderte. Unter diesen Umständen ist es für den Historiker nicht leicht, objektive Geschichtsschreibung zu betreiben und deren Ergebnisse zu veröffentlichen. Seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre kam dazu noch eine allgemeine Neigung, die Geschichte der Kriegszeit unter dem Aspekt einer deutschen Verbrechensgeschichte abzuhandeln und militärisch-politische Fragen oder Absichten deutscher Kriegsgegner noch weniger zu beachten als zuvor.
SEZESSION: Ein Standard-Argument gegen die Präventivkriegsthese lautet, Hitler habe bereits in Mein Kampf seine imperialistischen Phantasien für „Lebensraum im Osten“ ausbuchstabiert. Was erwidern Sie auf dieses Argument?
SCHEIL: Das Argument geht an der Sache vorbei. Zunächst einmal ist die Situation, die Hitler in Mein Kampf beschrieben hat, nie eingetreten. Damals phantasierte er vom angeblich zwangsläufigen inneren Zusammenbruch der UdSSR und von den Imperialisten, die dann diese Gelegenheit für sich nutzen würden, darunter auch Deutschland die Chance zur Lebensraumgewinnung. Die UdSSR brach aber nicht zusammen, sie entwickelte sich zur bedrohlichen Supermacht und als solche wird sie in den internen Äußerungen und überlieferten Denkschriften Hitlers als Diktator auch durchgehend aufgefaßt.
Des weiteren kann das „Lebensraum im Osten“-Klischee prinzipiell keine Antwort darauf geben, warum das Unternehmen Barbarossa 1941 stattgefunden hat und nicht früher oder später. Eroberungen ließen sich in der UdSSR theoretisch auch 1939 machen oder 1944, oder zu jedem anderen Zeitpunkt. Tatsächlich läßt sich im Detail nachweisen, daß erst die andauernde Kriegssituation mit England, die sowjetischen Verletzungen des 1939 geschlossenen Nichtangriffspakts und Interessenausgleichs, die seit Sommer 1940 beobachteten militärischen Drohungen der UdSSR und der schließlich umfassende Aufmarsch der Roten Armee den Entschluß zum deutschen Angriff verursachten. Eben deshalb ist das Unternehmen Barbarossa als Präventivkrieg zu bezeichnen, da es sich gegen eine zutreffend erkannte militärische Drohung richtete.
Damit ist die Frage nach Verbrechen oder erneuten Lebensraumplänen im Rahmen dieses Präventivkriegs nicht automatisch mitbeantwortet, auch dieser Punkt wird häufig durcheinandergeworfen und trägt zur allgemeinen Polemik bei. Zweifellos zielte der deutsche Angriff auf die Zerschlagung des sowjetischen Staatsverbands und auf die Etablierung eines deutsch kontrollierten Vorfelds in Osteuropa, das den „Kern“ gegen weitere Bedrohungen von dort schützen sollte, wie Hitler sich ausdrückte. Wie gesagt, werden die Zusammenhänge von Kriegsführung und politisch-ethnischer Verfolgung auch weiterhin zu den vieldiskutierten Themen der Zeitgeschichte gehören, selbst wenn das Unternehmen Barbarossa allgemein als Präventivkrieg aufgefaßt werden sollte.