Orient und Okzident – sechs Gedanken

pdf der Druckfassung aus Sezession 40 / Febraur 2011

von Harald Seubert

1.
Die Unterscheidung zwischen Orient und Okzident ist nicht so eindeutig, wie es zunächst scheinen könnte. Als Einheit der lateinischen Christenheit...

wird Euro­pa im spä­ten 8. Jahr­hun­dert, in der karo­lin­gi­schen Wie­der­ge­burt des Römi­schen Rei­ches, her­vor­ge­bracht. Frei­lich ist das in der Fol­ge gebil­de­te »Hei­li­ge Römi­sche Reich« nie iden­tisch mit dem Raum des latei­ni­schen Chris­ten­tums. Der so auf­ge­faß­te Okzi­dent-Begriff war auch nie der ein­zi­ge: als Teil eines grö­ße­ren Gan­zen konn­te Euro­pa mit der isla­mi­schen Welt zusam­men als Wes­ten des Fer­nen Ostens fir­mie­ren, oder es konn­te, wie ins­be­son­de­re ange­sichts isla­mi­scher Bedro­hung, als iden­tisch mit der Chris­ten­heit über­haupt ver­stan­den wer­den. Immer ver­stand sich das Byzan­ti­ni­sche Reich zwar in reli­giö­ser Hin­sicht als christ­lich, in poli­ti­scher Hin­sicht als römisch und kul­tu­rell sprach­lich als grie­chisch. Es sah sich dabei aber nie als »Euro­pa« an, son­dern als Brü­cke zwi­schen Mor­gen­land und Abend­land, die nach dem Fall Kon­stan­ti­no­pels 1453 abge­bro­chen ist.

Das latei­ni­sche Euro­pa war immer der neh­men­de Teil. Sein Unter­le­gen­heits­be­wußt­sein zeigt sich seit­her unge­schützt, und es spricht man­ches dafür, mit Rémi Bra­gue die kul­tu­rel­le Iden­ti­tät des Abend­lan­des »römisch« zu nen­nen. Sie ent­stand im Zuge einer Enkul­tu­ra­ti­on, die Fort­schritt »als Über­nah­me von Errun­gen­schaf­ten« ver­steht, »die deut­lich als frem­de bewußt waren«, ganz so wie Rom grie­chi­sche Phi­lo­so­phie und Kunst auf­ge­nom­men hat­te. Das mit­tel­al­ter­li­che Euro­pa, das sich – zu Recht – von Grie­chen­land ent­frem­det sah, muß­te wis­sen, daß es sei­ne Iden­ti­tät außer­halb der eige­nen Gren­zen zu suchen hat­te – sehr im Unter­schied übri­gens zu Byzanz, wohin die Huma­nis­ten-Phi­lo­lo­gen zwi­schen Cusa­nus und Melan­chthon immer wie­der ihre Füh­ler ausstrecken.

All dies lehrt: Okzi­dent und Ori­ent sind Rela­ti­ons­be­grif­fe. Sie sind aus Real­la­gen und ihrer geis­ti­gen Defi­ni­ti­on zu ver­ste­hen, kei­nes­falls als blo­ße »Kon­struk­tio­nen« ohne fun­da­men­tum in re zu klas­si­fi­zie­ren.

2.
Es ist in den letz­ten Jah­ren gera­de­zu ein Topos gewor­den, daß die euro­päi­sche Iden­ti­tät wesent­lich aus asia­tisch-ori­en­ta­li­schen Quel­len her­vor­ge­gan­gen sei. Die Genea­lo­gien setz­ten dabei tief an. Die Aus­gra­bun­gen um Tro­ja durch den Tübin­ger Archäo­lo­gen Man­fred Korf­mann begrün­de­ten einen neu­en Mythos von Tro­ja, das mit der hethi­ti­schen Metro­po­le Wilusa iden­tisch sein soll­te. Poli­tisch erwünscht war der Kurz­schluß, die heu­ti­ge Tür­kei sei Wie­ge der Mensch­heit. Der öster­rei­chi­sche Dich­ter Raoul Schrott hat die­se Vor­stel­lung jüngst wie­der in küh­nen Fan­ta­sie­kon­struk­tio­nen bekräf­tigt. Das alles ist in hohem Maß poli­tisch kor­rekt. Sol­chen Theo­re­men ist indes mit guten Grün­den wider­spro­chen wor­den, unter ande­rem von dem Tübin­ger Alt­his­to­ri­ker Frank Kolb.

Ein wei­te­res Bei­spiel: Vor weni­gen Jah­ren publi­zier­te Kurt Flasch eine Stu­die über Meis­ter Eck­hart, die zei­gen soll­te, daß das, was »deut­sche Mys­tik« genannt wur­de, tat­säch­lich aus dem Geist der »ara­bi­schen Phi­lo­so­phie« her­vor­ge­gan­gen ist. Zu sol­chen Deu­tungs­ten­den­zen ist grund­sätz­lich fest­zu­hal­ten, daß der Rück­griff auf die isla­mi­sche Ver­bin­dungs­li­nie zu dem ori­gi­nä­ren Aris­to­te­li­schen Cor­pus auch bedeu­te­te, daß Euro­pa mit aller Kraft nach Quel­len such­te, die es selbst nicht her­vor­ge­bracht hat­te, daß es aber zunächst mit allen Kräf­ten sei­ne eige­nen Res­sour­cen anspannte.

Es ist kei­nes­wegs wahr, daß Euro­pa ohne die Trans­for­ma­ti­on durch die Muta­zi­li­ten, jene Den­ker, die eine Ver­bin­dung von Koran und Welt­ver­nunft vor­sa­hen, von sei­nem anti­ken phi­lo­so­phi­schen Erbe abge­schnit­ten gewe­sen wäre. Mit den Muta­zi­li­ten ist jene Ten­denz isla­mi­schen Den­kens im Hoch­mit­tel­al­ter bezeich­net, die zwi­schen Al-Ghaza­li und Ibn-Rush, auf Pla­to­ni­schen bezie­hungs­wei­se Aris­to­te­li­schen Wegen, eine Kom­ple­men­ta­ri­tät und Kon­ge­nia­li­tät zwi­schen Koran und phi­lo­so­phi­scher Logik zu fin­den such­te. Die­se Linie isla­mi­scher Exege­se soll­te frei­lich nie zu einem Königs­weg wer­den. Zudem dien­te sie gera­de nicht, wie die Legen­de von der hoch­mit­tel­al­ter­li­chen isla­mi­schen »Auf­klä­rung« will, einer frei­en Koran-Kri­tik, son­dern dem Ver­such ratio­na­ler Ortho­do­xie­be­grün­dung. Eine sta­bi­le Bezug­nah­me und zugleich Unter­schei­dung von »fides« und »ratio« präg­te sich viel­mehr in der abend­län­di­schen Scho­las­tik aus. Dazu gehört auch, daß die Lin­gua fran­ca von Theo­lo­gie und Reli­gi­on im Wes­ten die Phi­lo­so­phie war, wäh­rend in der isla­mi­schen Welt Rechts­sät­ze und ihre Anwen­dung die­se Rol­le spielten.

Syl­vain Gou­gu­en­heim hat in einer tief­schür­fen­den Unter­su­chung gezeigt, daß die Mön­che vom Mont St. Michel lan­ge vor der isla­mi­schen Rezep­ti­on das Aris­to­te­li­sche Cor­pus über­setz­ten und trans­po­nier­ten. Der Weg zu einer Wie­der­frei­le­gung eigen­stän­di­ger phi­lo­so­phi­scher (und natur­wis­sen­schaft­li­cher) For­schung in Euro­pa ver­lief also kei­nes­wegs zwin­gend und line­ar über den Islam.

3.
Der Ori­ent ist für Euro­pa seit jeher bei­des gewe­sen: Fas­zi­na­ti­on – und Schreck­bild. Die grie­chi­sche Polis, vor allem Athen, bedeu­tet des­halb einen »Neu­be­ginn der Welt­ge­schich­te« (Chris­ti­an Mei­er), weil sie die Idee eines auf wech­sel­sei­ti­ge Rechen­schaft und Ver­nünf­tig­keit bezo­ge­nen poli­ti­schen Gemein­we­sens eta­bliert. Die grie­chi­sche Tra­gö­die, Dar­stel­lung mensch­li­cher Exis­tenz zwi­schen Göt­tern und Schick­sal (Moira) ist dabei ein wesent­li­cher Leit­fa­den die­ser Ein­sicht gewe­sen. In Unter­schei­dung von den vor­der­asia­ti­schen Groß­rei­chen formt sich wei­ter die Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen Mythos und begrün­dungs­pflich­ti­gem Logos aus. Auch wenn die rea­le Polis­de­mo­kra­tie kaum Sta­bi­li­tät zeig­te, so wahr­te doch der inne­re Staat der Phi­lo­so­phen die­ses gegen den Osten gerich­te­te Ide­al. Sokra­tes und Pla­ton zei­gen über­dies, daß jene Rechen­schafts­fä­hig­keit nicht, wie bei den Sophis­ten, zu einer Auf­lö­sung von Tugen­den und Ver­bind­lich­kei­ten füh­ren muß. Sie kön­nen gegen­über der Hybris des Prot­agoras, wonach der Mensch das Maß aller Din­ge sei, die Fra­ge nach Wesen und Maß von Tugend, ins­be­son­de­re der Gerech­tig­keit, wie­der­ge­win­nen: Äuße­re Hand­lung und inne­re Hand­lung, klei­ne Schrift der Polis und gro­ße der See­le spie­geln sich ineinander.

Nach dem Ende des Ers­ten Welt­kriegs und schon im Blick auf die nach­fol­gen­den Ver­wir­run­gen wer­den Edmund Huss­erl und Paul Valé­ry, ohne von­ein­an­der zu wis­sen, an das klas­si­sche Zeit­al­ter der Grie­chen erin­nern und dar­auf hin­wei­sen, daß Euro­pa »Ein­sicht« ist und, wenn es ohne die­ses geis­ti­ge Fer­ment defi­niert wür­de, nur ein »klei­nes Kap« an der über­di­men­sio­nier­ten Halb­in­sel Asi­en aus­mach­te. Die Per­ser­krie­ge zeig­ten aller­dings auch die Schwä­che der Pol­eis und ihrer Frei­hei­ten. Eine Schwä­che, die Nietz­sche im Anschluß an die grie­chi­schen Geschichts­schrei­ber wie Thuky­di­des auf die Unfä­hig­keit zu gemein­sa­mem Leben zurück­führ­te; alles hät­ten die Göt­ter den Men­schen gege­ben, die Fähig­keit, Feu­er zu erzeu­gen und Waf­fen, aber nicht jene zur poli­ti­schen Gemein­schaft. Im Zwei­fels­fall wür­den sie eher sich selbst zer­stö­ren, als zum Frie­den zu gelan­gen. Durch die make­do­ni­schen Köni­ge Phil­ipp und Alex­an­der kam die Einung der Grie­chen­städ­te von außen zustande.

Die Per­ser­krie­ge des 5. vor­christ­li­chen Jahr­hun­derts waren für die­se Ent­wick­lung von ent­schei­den­der Bedeu­tung. Seit­her zieht sich wie ein roter Faden die Dif­fe­renz zwi­schen Gleich­ge­wicht, Glie­de­rung, Ver­nunft­fä­hig­keit hier, Über­maß, Des­po­tie, blin­der Ver­eh­rung dort durch die euro­päi­sche Geschich­te. Die Leit­dif­fe­renz wur­de zunächst als Hiat zwi­schen Hel­le­nen und Bar­ba­ren for­mu­liert, dann als Gegen­satz zwi­schen christ­li­chem Abend­land und her­an­drän­gen­den Osmanen.

Erst ange­sichts die­ser Bedro­hung scheint das Schis­ma zwi­schen Ostund West­kir­che über­wind­bar, spricht 1453, als Kon­stan­ti­no­pel an die Osma­nen fällt, Enea Sil­via Pic­co­lo­mi­ni, der spä­te­re Papst Pius III., davon, daß nun die Brü­der im gemein­sa­men christ­li­chen Haus ange­grif­fen wor­den sei­en. Sein enger Freund Nico­laus Cusa­nus ant­wor­te­te dar­auf zunächst mit einem gro­ßen chris­to­zen­trisch for­mier­ten Kon­zil der Reli­gio­nen: De pace fidei.

4.
Nur auf eine spä­te­re Figu­ra­ti­on des einen gro­ßen The­mas kann noch hin­ge­wie­sen wer­den: Was Euro­pa sein konn­te, lei­te­te sich im 19. Jahr­hun­dert weit­ge­hend aus der Ori­en­ta­li­schen Fra­ge ab, deren Front­li­ni­en wie ein Palim­psest nach 1989 wie­der sicht­bar wer­den soll­ten. Auch der Bal­kan­kon­flikt ver­lief erneut auf der Haar­li­nie zwi­schen West- und Ost­rom. Die Ori­en­ta­li­sche Fra­ge bezeich­net dabei das kom­ple­xe Geflecht zwi­schen Ruß­land, das, ver­bun­den mit Expan­si­ons­ten­den­zen in den Wes­ten, den Anspruch erhebt, Drit­tes Rom, und damit: Erbe von Byzanz, sowie Schutz­macht der uni­ver­sa­len Chris­ten­heit zu sein. Dies impli­zier­te die Auf­lö­sung des Osma­ni­schen Rei­ches als poli­ti­sche Zielsetzung.

Die Eck­da­ten jener Ori­en­ta­li­schen Fra­ge wer­den einer­seits mar­kiert durch das Jahr 1774 mit den Gebiets­ver­lus­ten des Osma­ni­schen Rei­ches, das im Frie­den von Kütchük Kar­naiijd­cha erst­mals mus­li­misch besie­del­tes Ter­ri­to­ri­um am Schwar­zen Meer preis­ge­ben muß­te, und and­rer­seits durch das Jahr 1923 mit dem Frie­den von Lau­sanne, der in der Been­di­gung des tür­kisch-grie­chi­schen Kriegs das Natio­na­li­tä­ten­prin­zip durchsetzte.

Seit dem osma­nisch-rus­si­schen Krieg 1768/69, aber auch mit dem »Grie­chi­schen Pro­jekt« von Katha­ri­na der Gro­ßen, dem Ver­such der Wie­der­her­stel­lung Grie­chen­lands mit der Haupt­stadt Kon­stan­ti­no­pel, war die rus­sisch-osma­ni­sche Kon­fron­ta­ti­on unum­kehr­bar gewor­den. Dies bedeu­te­te einen zwei­ten Ori­ent-Okzi­dent-Kon­flikt, aus­ge­löst durch die zuneh­men­de Ent­frem­dung Ruß­lands vom Wes­ten. Niko­lai Dani­lew­ski hat in sei­ner Schrift Ruß­land und Euro­pa (1869) unter dem Ein­druck des Krim­kriegs die­ser anti-west­li­chen Ten­denz ein ful­mi­nan­tes Mani­fest gewid­met. Ruß­land ver­lie­re sich selbst, so die The­se, wenn es län­ger Legi­ti­mi­täts­ga­rant der Wie­ner Ord­nung blei­be. Dos­to­jew­ski stimmt wort­mäch­tig ein: zwi­schen dem latei­ni­schen Katho­li­zis­mus und der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on sieht er eine unhei­li­ge okzi­den­ta­le Ver­bin­dung: Das eine wie das ande­re sei Aus­ge­burt des Antichrist.

Der Kurs Peters des Gro­ßen hat­te, so muß­te man auch im Wes­ten erken­nen, nur sehr begrenz­te Tie­fen­wir­kun­gen ent­fal­tet. Umge­kehrt reicht die sla­wo­pho­be Ableh­nung von Dono­so Cor­tes bis Hei­ne und Marx. Sei­tens der Lin­ken, die die Ver­hält­nis­se durch die Optik der pol­ni­schen Emi­gran­ten sahen, wur­de Ruß­land als »asia­ti­sche« Bar­ba­rei und eigent­li­che öst­li­che Bedro­hung qua­li­fi­ziert, als Ort der Unfrei­heit. Kon­ser­va­ti­ve oder Reak­tio­nä­re sahen hin­ge­gen die Kon­fron­ta­ti­on zwei­er Hei­li­ger Stüh­le: des päpst­li­chen in Rom, nach einem Wort des Eth­no­lo­gen Jakob Phil­ipp Fall­me­ray­er Ort des »selbst­go­vern­men­ta­len Occi­dent« einer­seits, und Ruß­land in der Nach­fol­ge von Byzanz als Ort des frei­heits­ver­schlin­gen­den Orient.

5.
Der anders­ar­ti­ge Osten bleibt für das west­li­che Euro­pa der Zwi­schen­kriegs­zeit ein Spie­gel eige­ner Iden­ti­tät. Daß das Sowjet­reich sich mit dem Erbe des Zaren­rei­ches und den Herr­schafts­for­men ori­en­ta­li­scher Des­po­tie ver­band, fas­zi­nier­te west­li­che Links­in­tel­lek­tu­el­le wie Hein­rich Mann oder André Gide. Letz­te­rer pil­ger­te selbst im Jahr der Säu­be­run­gen 1936 nach Mos­kau, er ver­faß­te danach aller­dings einen vor­sich­tig kri­ti­schen Reisebericht.

Daß der Begriff des Abend­lan­des noch ein­mal, bis in die fünf­zi­ger Jah­re hin­ein, eine Leucht­kraft gewann, auch als christ­li­ches Ord­nungs­prin­zip, daß die nach Carl Schmitt ein­zig legi­ti­me Form, christ­lich Geschich­te zu den­ken, das Modell des Kat­echon­ten, in die­sen Zusam­men­hang ein­trat, hat­te indes mit dem Topos von der »asia­ti­schen Des­po­tie« zu tun, die unter dem Roten Stern strahlte.

Han­no Kes­t­ing, der ähn­lich wie Mr. X – der ame­ri­ka­ni­sche Diplo­mat Geor­ge F. Kennan – früh durch die Vor­der­grund­an­sich­ten hin­durch­blick­te, kon­sta­tier­te klar­sich­tig man­che Par­al­le­len zwi­schen dem expan­die­ren­den, Welt beglü­cken­den Sys­tem des Ostens und dem ame­ri­ka­ni­schen Kapi­ta­lis­mus. Hat­ten sie nicht bei­de eine Ten­denz zur Kre­ierung eines neu­en Men­schen, zur Ein­lö­sung des Escha­tons in die Dies­sei­tig­keit? Der »Welt­staats­be­griff «, wie ihn Ernst Jün­ger in die­ser Zeit for­mu­lier­te, nahm die­se Uni­fi­zie­rung auf und fokus­sier­te das gro­ße Ani­hi­le­ment, das eine wirk­li­che geis­tes­po­li­ti­sche Dif­fe­renz zwi­schen Wes­ten und Osten nicht mehr erken­nen ließ.

6.
Heu­ti­ger Isla­mis­mus macht den Furor ori­en­ta­lis ein vor­läu­fig letz­tes Mal sicht­bar. Doch im »Welt­in­nen­raum des Kapi­tals« (Slo­ter­di­jk), in der ONE WORLD, mit ihren Zer­ris­sen­hei­ten in ihrer Unun­ter­scheid­bar­keit sind die Trä­ger der neu­en Krie­ge kei­nes­falls Der­wi­sche aus dem Nir­gend­wo. Sie sind mit­ten in der west­li­chen Welt ver­an­kert, haben blon­de Freun­din­nen und nut­zen frei flot­tie­ren­de High Tech. Hin­zu kommt, daß der Wes­ten oder Euro­pa kaum mehr einen Begriff von sich selbst hat. Man beruft sich allen­falls auf eige­ne »Wer­te«, die mit »der Auf­klä­rung« gleich­ge­setzt wer­den. Wenn aber Rechen­schaft ein­ge­for­dert wird, wor­in sie denn bestehen wür­den, wird es sehr dünn. Jüngst ist von der jüdisch­christ­li­chen Wur­zel Deutsch­lands und Euro­pas die Rede, wohl um der »Leit­kul­tur« etwas Leben einzuhauchen.

Das Wort vom »Licht aus dem Osten« (Ex Ori­en­te Lux) hat den abend­län­di­schen Geist immer ange­zo­gen. Und es war – immer wie­der – gera­de die ori­en­ta­lisch-isla­mi­sche Welt, die dabei das Augen­merk auf sich zog; dies um so mehr, je mehr sich der euro­päi­sche Welt­geist bewußt wur­de, daß er nach Abend zog und müde gewor­den sei. Fried­rich Schle­gel sprach von der Erneue­rung euro­päi­schen Geis­tes und sei­ner Dich­tung aus den Quel­len des Ostens. Goe­the adap­tier­te im West-öst­li­chen Divan den Dich­ter Hafis, mit der krö­nen­den Evo­ka­ti­on: »Got­tes ist der Okzi­dent / Got­tes ist der Ori­ent / Nord und süd­li­ches Gelän­de / Ruht im Frie­den sei­ner Hän­de«. Doch dahin­ter wuß­te er noch um den kei­nes­wegs harm­lo­sen theo­kra­tisch-uni­ver­sa­len Füh­rungs­an­spruch. Rück­ert und phi­lo­lo­gisch ver­sier­te Nach­dich­ter folg­ten. Im post­ko­lo­nia­len Zeit­al­ter wur­den die­se Annä­he­rungs­ver­su­che auf das Stich­wort eines – kolo­nia­li­sie­ren­den – ori­en­ta­lism redu­ziert (Edward Said). War die Lie­be nur Täu­schung gewesen?

Die Fra­ge jeden­falls, wie sich Ori­ent und Okzi­dent in jewei­li­gen Real-Lagen aus­präg­ten, wie sie geo- und ideen­po­li­tisch zu for­mie­ren­den Prin­zi­pi­en gewor­den sind, ist zugleich die Fra­ge nach Gren­ze und Gestalt Euro­pas. Sie ist bis heu­te unbeantwortet.

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