wird Europa im späten 8. Jahrhundert, in der karolingischen Wiedergeburt des Römischen Reiches, hervorgebracht. Freilich ist das in der Folge gebildete »Heilige Römische Reich« nie identisch mit dem Raum des lateinischen Christentums. Der so aufgefaßte Okzident-Begriff war auch nie der einzige: als Teil eines größeren Ganzen konnte Europa mit der islamischen Welt zusammen als Westen des Fernen Ostens firmieren, oder es konnte, wie insbesondere angesichts islamischer Bedrohung, als identisch mit der Christenheit überhaupt verstanden werden. Immer verstand sich das Byzantinische Reich zwar in religiöser Hinsicht als christlich, in politischer Hinsicht als römisch und kulturell sprachlich als griechisch. Es sah sich dabei aber nie als »Europa« an, sondern als Brücke zwischen Morgenland und Abendland, die nach dem Fall Konstantinopels 1453 abgebrochen ist.
Das lateinische Europa war immer der nehmende Teil. Sein Unterlegenheitsbewußtsein zeigt sich seither ungeschützt, und es spricht manches dafür, mit Rémi Brague die kulturelle Identität des Abendlandes »römisch« zu nennen. Sie entstand im Zuge einer Enkulturation, die Fortschritt »als Übernahme von Errungenschaften« versteht, »die deutlich als fremde bewußt waren«, ganz so wie Rom griechische Philosophie und Kunst aufgenommen hatte. Das mittelalterliche Europa, das sich – zu Recht – von Griechenland entfremdet sah, mußte wissen, daß es seine Identität außerhalb der eigenen Grenzen zu suchen hatte – sehr im Unterschied übrigens zu Byzanz, wohin die Humanisten-Philologen zwischen Cusanus und Melanchthon immer wieder ihre Fühler ausstrecken.
All dies lehrt: Okzident und Orient sind Relationsbegriffe. Sie sind aus Reallagen und ihrer geistigen Definition zu verstehen, keinesfalls als bloße »Konstruktionen« ohne fundamentum in re zu klassifizieren.
2.
Es ist in den letzten Jahren geradezu ein Topos geworden, daß die europäische Identität wesentlich aus asiatisch-orientalischen Quellen hervorgegangen sei. Die Genealogien setzten dabei tief an. Die Ausgrabungen um Troja durch den Tübinger Archäologen Manfred Korfmann begründeten einen neuen Mythos von Troja, das mit der hethitischen Metropole Wilusa identisch sein sollte. Politisch erwünscht war der Kurzschluß, die heutige Türkei sei Wiege der Menschheit. Der österreichische Dichter Raoul Schrott hat diese Vorstellung jüngst wieder in kühnen Fantasiekonstruktionen bekräftigt. Das alles ist in hohem Maß politisch korrekt. Solchen Theoremen ist indes mit guten Gründen widersprochen worden, unter anderem von dem Tübinger Althistoriker Frank Kolb.
Ein weiteres Beispiel: Vor wenigen Jahren publizierte Kurt Flasch eine Studie über Meister Eckhart, die zeigen sollte, daß das, was »deutsche Mystik« genannt wurde, tatsächlich aus dem Geist der »arabischen Philosophie« hervorgegangen ist. Zu solchen Deutungstendenzen ist grundsätzlich festzuhalten, daß der Rückgriff auf die islamische Verbindungslinie zu dem originären Aristotelischen Corpus auch bedeutete, daß Europa mit aller Kraft nach Quellen suchte, die es selbst nicht hervorgebracht hatte, daß es aber zunächst mit allen Kräften seine eigenen Ressourcen anspannte.
Es ist keineswegs wahr, daß Europa ohne die Transformation durch die Mutaziliten, jene Denker, die eine Verbindung von Koran und Weltvernunft vorsahen, von seinem antiken philosophischen Erbe abgeschnitten gewesen wäre. Mit den Mutaziliten ist jene Tendenz islamischen Denkens im Hochmittelalter bezeichnet, die zwischen Al-Ghazali und Ibn-Rush, auf Platonischen beziehungsweise Aristotelischen Wegen, eine Komplementarität und Kongenialität zwischen Koran und philosophischer Logik zu finden suchte. Diese Linie islamischer Exegese sollte freilich nie zu einem Königsweg werden. Zudem diente sie gerade nicht, wie die Legende von der hochmittelalterlichen islamischen »Aufklärung« will, einer freien Koran-Kritik, sondern dem Versuch rationaler Orthodoxiebegründung. Eine stabile Bezugnahme und zugleich Unterscheidung von »fides« und »ratio« prägte sich vielmehr in der abendländischen Scholastik aus. Dazu gehört auch, daß die Lingua franca von Theologie und Religion im Westen die Philosophie war, während in der islamischen Welt Rechtssätze und ihre Anwendung diese Rolle spielten.
Sylvain Gouguenheim hat in einer tiefschürfenden Untersuchung gezeigt, daß die Mönche vom Mont St. Michel lange vor der islamischen Rezeption das Aristotelische Corpus übersetzten und transponierten. Der Weg zu einer Wiederfreilegung eigenständiger philosophischer (und naturwissenschaftlicher) Forschung in Europa verlief also keineswegs zwingend und linear über den Islam.
3.
Der Orient ist für Europa seit jeher beides gewesen: Faszination – und Schreckbild. Die griechische Polis, vor allem Athen, bedeutet deshalb einen »Neubeginn der Weltgeschichte« (Christian Meier), weil sie die Idee eines auf wechselseitige Rechenschaft und Vernünftigkeit bezogenen politischen Gemeinwesens etabliert. Die griechische Tragödie, Darstellung menschlicher Existenz zwischen Göttern und Schicksal (Moira) ist dabei ein wesentlicher Leitfaden dieser Einsicht gewesen. In Unterscheidung von den vorderasiatischen Großreichen formt sich weiter die Differenzierung zwischen Mythos und begründungspflichtigem Logos aus. Auch wenn die reale Polisdemokratie kaum Stabilität zeigte, so wahrte doch der innere Staat der Philosophen dieses gegen den Osten gerichtete Ideal. Sokrates und Platon zeigen überdies, daß jene Rechenschaftsfähigkeit nicht, wie bei den Sophisten, zu einer Auflösung von Tugenden und Verbindlichkeiten führen muß. Sie können gegenüber der Hybris des Protagoras, wonach der Mensch das Maß aller Dinge sei, die Frage nach Wesen und Maß von Tugend, insbesondere der Gerechtigkeit, wiedergewinnen: Äußere Handlung und innere Handlung, kleine Schrift der Polis und große der Seele spiegeln sich ineinander.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und schon im Blick auf die nachfolgenden Verwirrungen werden Edmund Husserl und Paul Valéry, ohne voneinander zu wissen, an das klassische Zeitalter der Griechen erinnern und darauf hinweisen, daß Europa »Einsicht« ist und, wenn es ohne dieses geistige Ferment definiert würde, nur ein »kleines Kap« an der überdimensionierten Halbinsel Asien ausmachte. Die Perserkriege zeigten allerdings auch die Schwäche der Poleis und ihrer Freiheiten. Eine Schwäche, die Nietzsche im Anschluß an die griechischen Geschichtsschreiber wie Thukydides auf die Unfähigkeit zu gemeinsamem Leben zurückführte; alles hätten die Götter den Menschen gegeben, die Fähigkeit, Feuer zu erzeugen und Waffen, aber nicht jene zur politischen Gemeinschaft. Im Zweifelsfall würden sie eher sich selbst zerstören, als zum Frieden zu gelangen. Durch die makedonischen Könige Philipp und Alexander kam die Einung der Griechenstädte von außen zustande.
Die Perserkriege des 5. vorchristlichen Jahrhunderts waren für diese Entwicklung von entscheidender Bedeutung. Seither zieht sich wie ein roter Faden die Differenz zwischen Gleichgewicht, Gliederung, Vernunftfähigkeit hier, Übermaß, Despotie, blinder Verehrung dort durch die europäische Geschichte. Die Leitdifferenz wurde zunächst als Hiat zwischen Hellenen und Barbaren formuliert, dann als Gegensatz zwischen christlichem Abendland und herandrängenden Osmanen.
Erst angesichts dieser Bedrohung scheint das Schisma zwischen Ostund Westkirche überwindbar, spricht 1453, als Konstantinopel an die Osmanen fällt, Enea Silvia Piccolomini, der spätere Papst Pius III., davon, daß nun die Brüder im gemeinsamen christlichen Haus angegriffen worden seien. Sein enger Freund Nicolaus Cusanus antwortete darauf zunächst mit einem großen christozentrisch formierten Konzil der Religionen: De pace fidei.
4.
Nur auf eine spätere Figuration des einen großen Themas kann noch hingewiesen werden: Was Europa sein konnte, leitete sich im 19. Jahrhundert weitgehend aus der Orientalischen Frage ab, deren Frontlinien wie ein Palimpsest nach 1989 wieder sichtbar werden sollten. Auch der Balkankonflikt verlief erneut auf der Haarlinie zwischen West- und Ostrom. Die Orientalische Frage bezeichnet dabei das komplexe Geflecht zwischen Rußland, das, verbunden mit Expansionstendenzen in den Westen, den Anspruch erhebt, Drittes Rom, und damit: Erbe von Byzanz, sowie Schutzmacht der universalen Christenheit zu sein. Dies implizierte die Auflösung des Osmanischen Reiches als politische Zielsetzung.
Die Eckdaten jener Orientalischen Frage werden einerseits markiert durch das Jahr 1774 mit den Gebietsverlusten des Osmanischen Reiches, das im Frieden von Kütchük Karnaiijdcha erstmals muslimisch besiedeltes Territorium am Schwarzen Meer preisgeben mußte, und andrerseits durch das Jahr 1923 mit dem Frieden von Lausanne, der in der Beendigung des türkisch-griechischen Kriegs das Nationalitätenprinzip durchsetzte.
Seit dem osmanisch-russischen Krieg 1768/69, aber auch mit dem »Griechischen Projekt« von Katharina der Großen, dem Versuch der Wiederherstellung Griechenlands mit der Hauptstadt Konstantinopel, war die russisch-osmanische Konfrontation unumkehrbar geworden. Dies bedeutete einen zweiten Orient-Okzident-Konflikt, ausgelöst durch die zunehmende Entfremdung Rußlands vom Westen. Nikolai Danilewski hat in seiner Schrift Rußland und Europa (1869) unter dem Eindruck des Krimkriegs dieser anti-westlichen Tendenz ein fulminantes Manifest gewidmet. Rußland verliere sich selbst, so die These, wenn es länger Legitimitätsgarant der Wiener Ordnung bleibe. Dostojewski stimmt wortmächtig ein: zwischen dem lateinischen Katholizismus und der Französischen Revolution sieht er eine unheilige okzidentale Verbindung: Das eine wie das andere sei Ausgeburt des Antichrist.
Der Kurs Peters des Großen hatte, so mußte man auch im Westen erkennen, nur sehr begrenzte Tiefenwirkungen entfaltet. Umgekehrt reicht die slawophobe Ablehnung von Donoso Cortes bis Heine und Marx. Seitens der Linken, die die Verhältnisse durch die Optik der polnischen Emigranten sahen, wurde Rußland als »asiatische« Barbarei und eigentliche östliche Bedrohung qualifiziert, als Ort der Unfreiheit. Konservative oder Reaktionäre sahen hingegen die Konfrontation zweier Heiliger Stühle: des päpstlichen in Rom, nach einem Wort des Ethnologen Jakob Philipp Fallmerayer Ort des »selbstgovernmentalen Occident« einerseits, und Rußland in der Nachfolge von Byzanz als Ort des freiheitsverschlingenden Orient.
5.
Der andersartige Osten bleibt für das westliche Europa der Zwischenkriegszeit ein Spiegel eigener Identität. Daß das Sowjetreich sich mit dem Erbe des Zarenreiches und den Herrschaftsformen orientalischer Despotie verband, faszinierte westliche Linksintellektuelle wie Heinrich Mann oder André Gide. Letzterer pilgerte selbst im Jahr der Säuberungen 1936 nach Moskau, er verfaßte danach allerdings einen vorsichtig kritischen Reisebericht.
Daß der Begriff des Abendlandes noch einmal, bis in die fünfziger Jahre hinein, eine Leuchtkraft gewann, auch als christliches Ordnungsprinzip, daß die nach Carl Schmitt einzig legitime Form, christlich Geschichte zu denken, das Modell des Katechonten, in diesen Zusammenhang eintrat, hatte indes mit dem Topos von der »asiatischen Despotie« zu tun, die unter dem Roten Stern strahlte.
Hanno Kesting, der ähnlich wie Mr. X – der amerikanische Diplomat George F. Kennan – früh durch die Vordergrundansichten hindurchblickte, konstatierte klarsichtig manche Parallelen zwischen dem expandierenden, Welt beglückenden System des Ostens und dem amerikanischen Kapitalismus. Hatten sie nicht beide eine Tendenz zur Kreierung eines neuen Menschen, zur Einlösung des Eschatons in die Diesseitigkeit? Der »Weltstaatsbegriff «, wie ihn Ernst Jünger in dieser Zeit formulierte, nahm diese Unifizierung auf und fokussierte das große Anihilement, das eine wirkliche geistespolitische Differenz zwischen Westen und Osten nicht mehr erkennen ließ.
6.
Heutiger Islamismus macht den Furor orientalis ein vorläufig letztes Mal sichtbar. Doch im »Weltinnenraum des Kapitals« (Sloterdijk), in der ONE WORLD, mit ihren Zerrissenheiten in ihrer Ununterscheidbarkeit sind die Träger der neuen Kriege keinesfalls Derwische aus dem Nirgendwo. Sie sind mitten in der westlichen Welt verankert, haben blonde Freundinnen und nutzen frei flottierende High Tech. Hinzu kommt, daß der Westen oder Europa kaum mehr einen Begriff von sich selbst hat. Man beruft sich allenfalls auf eigene »Werte«, die mit »der Aufklärung« gleichgesetzt werden. Wenn aber Rechenschaft eingefordert wird, worin sie denn bestehen würden, wird es sehr dünn. Jüngst ist von der jüdischchristlichen Wurzel Deutschlands und Europas die Rede, wohl um der »Leitkultur« etwas Leben einzuhauchen.
Das Wort vom »Licht aus dem Osten« (Ex Oriente Lux) hat den abendländischen Geist immer angezogen. Und es war – immer wieder – gerade die orientalisch-islamische Welt, die dabei das Augenmerk auf sich zog; dies um so mehr, je mehr sich der europäische Weltgeist bewußt wurde, daß er nach Abend zog und müde geworden sei. Friedrich Schlegel sprach von der Erneuerung europäischen Geistes und seiner Dichtung aus den Quellen des Ostens. Goethe adaptierte im West-östlichen Divan den Dichter Hafis, mit der krönenden Evokation: »Gottes ist der Okzident / Gottes ist der Orient / Nord und südliches Gelände / Ruht im Frieden seiner Hände«. Doch dahinter wußte er noch um den keineswegs harmlosen theokratisch-universalen Führungsanspruch. Rückert und philologisch versierte Nachdichter folgten. Im postkolonialen Zeitalter wurden diese Annäherungsversuche auf das Stichwort eines – kolonialisierenden – orientalism reduziert (Edward Said). War die Liebe nur Täuschung gewesen?
Die Frage jedenfalls, wie sich Orient und Okzident in jeweiligen Real-Lagen ausprägten, wie sie geo- und ideenpolitisch zu formierenden Prinzipien geworden sind, ist zugleich die Frage nach Grenze und Gestalt Europas. Sie ist bis heute unbeantwortet.