Er setzt sich darin für eine Reflexion über die wackligen Grundbausteine der technischen Zivilisation ein. Mohr widmet sich der modernen Architektur, der Kunst sowie dem Funktionieren-Müssen des Menschen. Er bleibt jedoch nicht bei der Beschreibung stehen. Vielmehr beginnt bei ihm die Suche nach dem „Ort im eigenen Herzen“.
SEZESSION: „Flexibilität“ ist ein Zauberwort der Gegenwart. Es scheint so, als ob sich heutzutage eben jeder biegen und beugen muß, wenn er im Leben vorankommen möchte. Gibt es für den „normalen Bürger“ überhaupt noch eine Alternative zur „Flexibilität“?
MOHR: Für den „normalen Bürger“ wohl kaum. Die Flexibilität ist eine Folge der Beschleunigung des Lebens. Zudem scheint sie der Gegenpol zur Spezialisierung zu sein. Die statische Verengung, die die Spezialisierung innerhalb der Berufswelt mit sich brachte, verlangt auf der anderen Seite, damit das Gleichgewicht gehalten werden kann, Beweglichkeit. Natürlich ist die Flexibilität als Kompensation der Verengung genauso funktional wie die Spezialisierung selbst. Es handelt sich hier also um die beiden Seiten einer Münze, deren Wert beständig abnimmt.
Die wahre Alternative zur Flexibilität wäre im geistigen Sinn eine umfassende, humanistische Bildung, im manuellen oder künstlerischen Bereich ein Handwerk, das Originales hervorbringt und nicht einfach durch die Industrie reproduzierte Einzelteile nach vorgegebenen Schemata zusammensetzt. Davon sind wir aber weit entfernt.
Weil heute nicht mehr auf ein Werk hingearbeitet wird, sondern nur noch Funktionen ausgeübt werden, kann die entsprechende Arbeit überall verrichtet werden. Sie ist daher ortlos. Und genauso ortlos ist der Mensch, der diese Arbeit ausführt. Was aber ohne Ort ist, muß zwangsläufig flexibel sein. Wer andererseits einen Ort hat, ist nicht flexibel, sondern hat die Möglichkeit das „Ganze“ zu erfassen.
SEZESSION: In ihrem kaplaken-Bändchen Der Verlust des Ortes fordern Sie eine „Abkehr vom technisch-mechanistischen Weltbild“ und betonen zugleich, dies sei nicht mit einem „Rückwärtsblicken oder –schreiten“ zu erreichen. Was streben Sie statt dessen an?
MOHR: Ich fürchte, wir werden vom technisch-mechanistischen Weltbild abrücken müssen, ob wir wollen oder nicht, weil es sich auf Dauer gar nicht aufrechterhalten läßt. Die alles umfassende Technik, wie sie sich am Ende der Neuzeit darstellt, ist genauso ein Hilfskonstrukt wie das Soziale. Beide, die Technik wie auch das Soziale, kompensieren die verlorene Identität des Einzelnen wie auch der Staaten. Sie sind Titanenwerk. Deshalb wird jener am besten mit dem bevorstehenden Wandel zurechtkommen, der aus sich lebt, aus dem eigenen Empfinden. Für die anderen könnte es, je nachdem mit welcher Intensität der Wandel dereinst hereinbricht, zu drastischen Einschnitten kommen.
Der Blick zurück war noch nie eine wirkliche Alternative, das wird ja auch bereits in den Mythen thematisiert. Das heißt natürlich nicht, daß man sich nicht auf das Herkömmliche besinnen soll, auf die ewig gültigen Werte wie die eigene Sprache und Geschichte, die Religion, die Tradition und die Kunst. In manchen Bereichen müßte man bei der Renaissance anknüpfen. Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn man sich, etwa in der Sprache, über die letzten Reformen hinwegsetzte, oder in der Kunst auf das besänne – und zwar durchaus gegenständlich –, was von Dauer ist. Der Kulturphilosoph Max Picard hat dazu bereits kurz nach dem Krieg in seinem Buch Zerstörte und unzerstörbare Welt Wesentliches gesagt.
Es kann also nicht darum gehen, einmal mehr etwas Besonderes anzustreben, sondern einen Weg zu beschreiten, der unverwechselbar und echt ist. Vielleicht ist es der „Waldgänger-Weg“. Zudem sollte man sich bewußt sein, daß die Technik bestenfalls zu einem quantitativen Wohlstand führt. Für einen qualitativen Wohlstand reicht sie, wie die Geschichte zeigt, nicht hin.
SEZESSION: Einerseits sorgen die wirtschaftlichen Zwänge für den Einzelnen dazu, daß er sich kaum noch richtig verorten kann. Andererseits aber kann man in Deutschland in den letzten Jahren eine neue „Landlust“ sowie eine Wiederentdeckung des Regionalen beobachten. Wie erklären Sie sich das?
MOHR: Daß Sehnsucht nach einem Ort besteht, ist naheliegend. Der Mensch kann auf Dauer im Ortlosen nicht existieren. Aber die „Landlust“ allein schafft noch keine neuen Orte. Das sieht man deutlich bei den Neubauquartieren an den Dorfrändern. Hier herrscht sozusagen eine monotone Vielfalt. In und aus sich isolierte Einzelbauten stehen wie zufällig nebeneinander und weisen deutlich darauf hin, wie es um die Bewohner bestellt ist. Aber auch die alten Dorfkerne haben ihren Charakter verloren. Während die einen museal in Erscheinung treten, wirken andere wie aus der Zeit gefallen.
So, wie ein Tier einen Bau oder ein Nest mit zugehörigem Revier hat, hat auch der Mensch einen Ort. Einen Ort, der ihm entspricht, der wirklich Ort ist, hat er aber nur dann, wenn er ihn auch zuläßt, wenn er sich seiner „Bestimmung“ anheimstellt. Das Tier kann nicht anders, als seiner Bestimmung zu folgen; der Mensch hingegen, kann, wie in der Neuzeit geschehen, aus sich selbst vertrieben werden. Dann werden die Orte zwangsläufig zu Unorten – Siedlungen werden zu Barackenstädten.
Eine Aufwertung des Regionalen ist zwar zu begrüßen, aber sie muß aus sich wachsen. Agglomerationsprogramme und dergleichen sind technische Maßnahmen, die die Dinge nur regeln. Dadurch entstehen neue Abhängigkeiten, während die Orte weiterhin an Substanz verlieren.
Mehr Informationen zu Volker Mohrs Buch Der Verlust des Ortes gibt es hier.