zu kommen, muß man einige Zeit und Geduld mitbringen. Baustellen, enge Kurven und eine teils merkwürdige Beschilderung machen das ganze Unternehmen nicht einfach. Dabei entsteht im Mleeta gerade etwas Einzigartiges: eine Art Freizeitpark des Dschihad. Auf 60 000 Quadratmetern baut die libanesische Hisbollah dort seit einigen Monaten ein Zentrum, welches im Mai 2010 bereits eröffnet wurde. Allerdings sind die Bauarbeiten noch lange nicht abgeschlossen: Es sollen noch Hotels, ein Schwimmbad und eine Seilbahn aus dem Boden gestampft werden. »Tourist Landmark of Resistance« – »touristisches Wahrzeichen des Widerstands« – prangt auf den Schildern. Widerstand – damit ist der Kampf der schiitischen Hisbollah-Milizen gegen Israel gemeint.
Wer aus Europa anreist, muß sich zunächst einmal umgewöhnen. Denn in den dortigen Nachrichten taucht der Name »Hisbollah« fast ausschließlich mit den Zusätzen »terroristisch« oder zumindest »islamistisch« auf. Eine ganzer Geschäftszweig von »Sicherheitsexperten« warnt zudem ständig vor den Aktivitäten der Hisbollah in der Bundesrepublik Deutschland, sie rekrutiere dort »terroristische Kämpfer« und sammle Geld für den »Dschihad gegen Israel«. Im Libanon hingegen ist die Hisbollah eine geachtete Partei – sogar bei ihren Gegnern. Terroristisch? Das würde hier niemand in den Mund nehmen. Widerstand schon eher. Islamistisch? Die Hisbollah – übersetzt die »Partei Gottes« – gilt als verläßlicher Bündnispartner des christlichen Generals und Politikers Michel Aoun, einem Maroniten. Von angeblichen »Säuberungen« ganzer christlicher Landstriche durch die Milizen der Hisbollah, vom religiösen Krieg gegen die libanesischen Christen hat man bislang offensichtlich nur in Europa und Amerika gehört. Nur wenige Kilometer von Mleeta entfernt steht eine christlichmaronitische Kirche – in einem christlichen Dorf. Von ethnischen Säuberungen durch Schiiten hat man dort noch nie etwas bemerkt.
In Mleeta bemüht sich die Hisbollah indes um etwas, das sie bislang eher vernachlässigt hat: um die Außendarstellung. Künftig soll das gigantische Freigelände Gäste aus aller Welt anlocken, um sie dort »aufzuklären « – »Propagandaschau« nennt man das in den europäischen Medien. Zu einer solchen Bewertung mag beitragen, daß die Uhren im Nahen Osten etwas anders ticken als in Europa. Man ist stolz auf militärische Siege, Waffen sind grundsätzlich nichts Schlechtes, wenn sie zur Selbstverteidigung dienen, und Israel wird »Occupied Palestine« – »besetztes Palästina« genannt. Bei Reden greift man gerne tief in die triefende Symbolikkiste. Wenn Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah spricht, dann wackeln die Wände, und der Dachstuhl brennt. Dann wird nicht einfach über den »zionistischen Feind« gesiegt, sondern man schickt dessen Soldaten über »glühende Lava«, und der Libanon, das Vaterland, ist ein »explodierender Vulkan unter den Füßen des Feindes«. Dazu tönt arabische Marschmusik mit religiös-nationalistischen Texten. Alles Dinge, bei denen sich westliche Journalisten mit Grausen abwenden.
In Mleeta erwartet den Besucher eine Schau der Extraklasse, und das bereits jetzt, bevor alles fertiggestellt ist. Wer genügend Zeit mitbringt, kann in die Welt des Widerstandskampfes eintauchen – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Mleeta ist weit mehr als ein Museum. Die Macher der Ausstellung haben quasi eine ganze Hisbollah-Stellung im Gebirge originalgetreu begehbar gemacht – inklusive Höhlensystem. Doch bevor man sich zwischen Waffen, Schützengräben und Beobachtungsposten unter Tarnnetzen durch die Gänge schlängelt, kommt man direkt auf den Hauptplatz der Schau – genannt »Der Abgrund«. In einem abstrakten Rondell liegen die Überbleibsel israelischer Truppenverbände im Libanon. Der Star des Abgrunds: Ein israelischer Merkava-Panzer, der eigentlich einmal als unzerstörbar galt. Daneben liegen Massen an israelischen Helmen, Munition, schwerem Gerät. »Dies ist eine künstlerisch-szenische Darstellung, die die Niederlage des zionistischen Gebildes symbolisiert«, ist auf einem Schild als Erklärung zu lesen.
Überhaupt strotzt das gesamte Gelände nur so von Symbolismus und Geschichte. Ein Stück weiter, auf dem vorgezeichneten Weg, darf der Besucher sein Haupt senken. Ein gerahmtes Bild erinnert an Abbas al-Musawi, den Vorgänger Nasrallahs als Generalsekretär der Hisbollah. Al-Musawi wurde 1992 durch eine »gezielte Tötung« von israelischen Hubschraubern abgeschossen – inklusive seiner Frau, seines Sohnes und weiterer vier Zivilisten. Die Proteste aus dem Westen gegen diesen Anschlag fielen äußerst halbherzig und müde aus. Das Bild Musawis steht an dem Platz, an dem der schiitische Führer gebetet haben soll, daneben ein aufgeschlagener Koran.
Es sind Geschichten wie die über al-Musawi, die zeigen, wie schwer es ist, den Konflikt zwischen Israel und den Arabern moralisch zu bewerten. Oder wie einfach es sich diejenigen machen, die es trotzdem tagtäglich tun. Was ist Terrorismus? Was ist Freiheitskampf? Was ist Landesverteidigung? Was ist ein »gerechter« Krieg? Israel liegt mit seinen arabischen Nachbarn – außer Jordanien und Ägypten – immer noch offiziell im Krieg. Israel hält das Gebiet der sogenannten »Scheeba-Farmen«, einen schmalen Landstrich, den der Libanon für sich beansprucht, nach wie vor besetzt. Die Hisbollah läßt keine Gelegenheit verstreichen, auf die Besetzung dieses Teils »libanesischen Bodens« hinzuweisen. Völkerrechtlich ist die Zugehörigkeit der Scheeba-Farmen hingegen nach wie vor umstritten. Israel und die Vereinten Nationen zählen das Gebiet zu Syrien – Damaskus hingegen sagt, der Landstrich sei an den Libanon übergeben worden, ein Vertrag darüber existiere allerdings nicht. Solche diplomatische Spitzfindigkeiten lassen eine politische Lösung dieses Problems in weite Ferne rücken.
Überhaupt: Die Hisbollah hat in den vergangenen Jahren einen Imagewandel hingelegt, der geradezu atemberaubend wirkt. Das ganze Widerstandsmuseum Mleeta atmet dieses »neuen« Geist. War die schiitische Partei Anfang der 1980er Jahre vor allem als iranischer Brückenkopf bekannt, positioniert sie sich heute als eine Art libanesisch-nationale Widerstandsorganisation. Als Geburtsstunde der Hisbollah gilt der Juni 1982, als Israel im Libanon einmarschierte: Mit Unterstützung der Islamischen Republik Iran wurde die neue Miliz Hisbollah gegründet, die bei Baalbek in der Beqa-Ebene Ausbildungslager aufbaute und vom Iran über Syrien mit Waffen und Geld versorgt wurde. Die Geschichte dieser neuen, kleinen schiitischen Miliz beginnt mit einem Paukenschlag: Nicht einmal ein Jahr nach ihrer Gründung griffen Hisbollah-Selbstmordattentäter die USBotschaft in Beirut (16 Tote) und Monate später des Hauptquartier der US-Marines am Flughafen an – hierbei kamen 241 Amerikaner um. Daß sie einen »islamischen Gottesstaat nach dem Vorbild Teherans« errichten wolle, schreiben heute nur noch Journalisten in den USA und Westeuropa. Im Libanon sprechen selbst politische Gegner voller Respekt über die Hisbollah. Ein Grund hierfür ist der sogenannte »Sommerkrieg« im Jahr 2006.
Das Thema »Sommerkrieg«, der im Libanon als »Harb Tammuz«, als Juli-Krieg bekannt ist, ist nach wie vor dominierend in der Erinnerung und für das Selbstbewußtsein der Menschen vor allem im Südlibanon. Mit einer Mischung aus Abscheu vor den Zerstörungen durch die israelischen Luftangriffe und Stolz über den für die ganze Welt überraschenden Erfolg der Hisbollah-Milizen im Kampf gegen die bis dahin für unbezwingbar gehaltene israelische Armee erzählen alte Frauen, junge Mädchen, kleine Jungs und adrette Anzugträger von den Kampftagen des Sommers 2006. Vor allem die Hisbollah konnte enorm profitieren. 34 Tage lang organisierten hauptsächlich ihre Milizen den militärischen Widerstand, die libanesische Armee selbst verhielt sich weitestgehend passiv und beschränkte sich auf die Luftabwehr. Die Hisbollah ging aus diesem Konflikt als Sieger hervor. Das war auch nicht schwer. Ein israelischer Sieg hätte nur durch eine vollständige Auslöschung der Hisbollah erreicht werden können. Dies war bereits zu jenem Zeitpunkt ein Ding der Unmöglichkeit.
Dieser Konflikt war für die Hisbollah ein Meilenstein der eigenen Entwicklung: Von einer schiitischen Partei und Miliz wandelte sie sich zu einer national-libanesischen Widerstandsorganisation, der gelungen war, was alle anderen arabischen Armeen vor ihr nicht geschafft hatten: Israel auf dem Schlachtfeld empfindliche Schläge beizubringen. Die Geschichte des Sommerkrieges wird immer wieder aufs Neue erzählt – auch in Mleeta. Die Rede ist von einsamen Guerillagruppen, die tagelang auf Berggipfeln verharren, um den einen richtigen Moment abzupassen, in dem israelische Einheiten in die Falle tappen und beschossen werden können. Es ist die Rede von schiitischen Märtyrern, die, bis zur letzten Patrone kämpfend, südlibanesische Dörfer gegen israelische Eindringlinge verteidigen. Das ist der Stoff, aus dem die neuen nationalen Mythen geschaffen sind.
Das Milizsystem der Hisbollah gehört zu den bestgehüteten Geheimnissen der Organisation. Die Hisbollah ist derzeit die einzige Gruppierung im Libanon, die noch eine eigene bewaffnete Miliz unterhält – offiziell zumindest. Gemäß der UN-Resolution 1701 sollte sie eigentlich längst ihre Waffen abgegeben haben. Hisbollah-Chef Nasrallah: »Solange es militärische Operationen Israels gibt, solange die Israelis im Feld attackieren und solange israelische Soldaten Teile unseres Landes besetzt halten, ist es unser natürliches Recht, gegen sie vorzugehen, sie zu bekämpfen und die Heimat, unsere Häuser, uns selbst zu verteidigen.« Nasrallah kann im Libanon aus einer Position der Überlegenheit heraus argumentieren: Fast die Hälfte der 70 000 Soldaten der regulären libanesischen Armee sind Schiiten. Im August 2006 lehnten 84 Prozent der libanesischen Schiiten die Entwaffnung der Hisbollah ab. Der damalige Chef der libanesischen Streitkräfte und heutige Präsident, der christliche General Michel Suleiman, machte aus seiner Sympathie für Nasrallah nie ein Hehl. Nur die »andauernde gute Zusammenarbeit« von Hisbollah und Armee, erklärte er im Juli 2006, könne die Einheit des Landes sichern. Im Jahresbericht 2005 der libanesischen Armee war zu lesen, daß die Unterstützung der Hisbollah eine »nationale und moralische Verpflichtung« sei.
Niemand weiß genau, wieviele Kämpfer der Miliz bei Bedarf zur Verfügung stehen. Das militärische Kommando wird von zwölf religiösen Gelehrten geführt. 300 bis 400 aktive Kämpfer und etwa 3 000 »Reservisten« werden unterhalten. Andere Quellen sprechen von ca. 3 500 bis 5 000 aktiven Kämpfern oder gar von 20 000 Kämpfern sowie einigen tausend Reservisten. Die Hisbollah ist die einzige von den USA als »terroristische Gruppe« bezeichnete Organisation, die schwere konventionelle Waffen besitzt, wie zum Beispiel Katjuscha-Raketen, Fadschr-5-Raketen, Schützenpanzer und Kurzstreckenraketen. Die Schlagkraft dieser Spezialistentruppe wird von israelischen Soldaten, die am Sommerkrieg 2006 teilgenommen haben, bestätigt. Die Kämpfer der Hisbollah seien »trainiert und organisiert wie eine reguläre Armee«, so ein Zeuge in der New York Times. Sie seien hochspezialisiert und diszipliniert, könnten mit Nachtsichtgeräten ebenso umgehen wie mit modernen Kommunikationsmitteln. »Wir wurden alle überrascht«, so der israelische Armeeangehörige gegenüber der New York Times. Der israelische Brigadegeneral Yossi Kuperwasser »lobt« die Kampfkraft und die Disziplin der Hisbollah ebenfalls in höchsten Tönen. Die Kämpfer der Hisbollah verstünden es, virtuos mit ihren Waffen umzugehen. Sie nutzten Antipanzer-Waffen »wie eine richtige Artillerie«. Mit diesen Waffen würden sie problemlos auch israelische Gefechtsstände unter Feuer nehmen. Besonders beeindruckt ist Kuperwasser von der Planungsdisziplin der Hisbollah, denen er echte Militärgeheimdienst- Fähigkeiten attestiert. Sie planten ihre Militäraktionen monatelang, beobachteten sämtliche Feindbewegungen und werteten sie detailliert aus, um dann im richtigen Moment zuzuschlagen. Die Kampfkraft dieser Armee scheint unbestritten.
Unter Hassan Nasrallahs Führung fand die Hisbollah auch Akzeptanz bei der christlichen Bevölkerung des Libanons. So konnte er zeitweilig weite Teile der libanesischen Gesellschaft, unabhängig von Religion oder Konfession, im Kampf gegen die damalige israelische Besatzungsmacht im Süden des Landes hinter sich vereinen. Er gilt daher als jener Mann, unter dessen Führung die Hisbollah nach langem Guerillakrieg Israel zu der Entscheidung veranlaßte, die 18 Jahre andauernde Besatzung des Südlibanon durch die israelische Armee im Jahr 2000 zu beenden und sich aus dem Gebiet ganz zurückzuziehen. Ebenfalls unter seiner Initiative erfolgte im Januar 2004 die Übergabe von einem lebenden und drei toten Israelis, woraufhin Israel 23 libanesische und etwa 400 palästinensische Gefangene entließ.
Nasrallah ist heute ein Medienstar im Libanon. Seine Fernsehansprachen, die an einem geheimen Ort aufgezeichnet und von dort aus ausgestrahlt werden, sind wahre Straßenfeger. Ohne Zweifel gehört er zu den charismatischsten Figuren der arabischen Welt und besitzt eine Strahlkraft, die weit über den Libanon hinausgeht. Ohne Nasrallah ist die Hisbollah, wie sie heute ist, nicht vorstellbar. Und Nasrallah begegnet dem Besucher in Mleeta auf Schritt und Tritt – auf Großplakaten und auf den Bildschirmen der Ausstellung. Mleeta, so Nasrallah, sei »ein Ort, an dem wir die Geschichte des Widerstands bewahren und seine Tradition pflegen«. Er ist längst nicht mehr der Islamist auf der Gehaltsliste des Iran, sondern wird als einer der ganz wenigen wahrgenommen, die Israel – dem »zionistischen Gebilde«, wie er sagt – die Stirn bieten können.