und ewiggestriger Konservativer, heute erfreut er sich allgemeiner Wertschätzung. Diesen Status hat Jünger nicht zuletzt einigen Autoren zu verdanken, die Jünger immer für einen herausragenden Schriftsteller hielten und diese Auffassung unermüdlich verbreiteten. Dazu gehört auch Heimo Schwilk, der vor drei Jahren seine Jünger-Biographie vorlegen konnte. Bereits 1988 hatte Schwilk einen opulenten Band über Jüngers Leben und Werk in Bildern und Texten zusammengestellt, der jetzt in einer überarbeiteten und erweiterten Neuausgabe (Stuttgart: Klett-Cotta 2010. 336 S., geb, 49.95 €) erschienen ist.
Der Band darf nun als vollständig gelten, die Ereignisse seit 1988 sind dokumentiert: Bis zu seinem Tod 1998 hatte Ernst Jünger nicht nur weitere Tagebücher (Siebzig verweht III–V), sondern auch den wichtigen Band Die Schere publiziert. Er unternahm noch einige Reisen und fügte der großen Sammlung an Auszeichnungen weitere hinzu. Doch nicht nur das: Jünger konnte seinen 100. Geburtstag feiern. Die Berichterstattung in allen Medien und ranghoher Besuch führten dazu, daß Jünger eine Art Kanonisierung widerfuhr. Daß Jüngers Meisterschaft auch in den neunziger Jahren noch nicht unumstritten war, zeigt die Debatte in der Zeitschrift Sinn und Form, die Tagebuchauszüge von Jünger veröffentlichte und sich daraufhin von Walter Jens, der daran einen Rechtsruck in der Bundesrepublik festmachen wollte, an den Pranger gestellt sah. Das hinderte Frankreich nicht daran, Jünger 2008 in die »Bibliothèque de la Pléiade« aufzunehmen und damit sein Werk neben das von Brecht, Kafka und Rilke zu stellen – neben dem Nobelpreis die größte Ehre, die einem Schriftsteller widerfahren kann.
Neben der Vollständigkeit bietet die Neuausgabe viele neue Briefzitate und Bilder. Allerdings hat die Qualität bei einigen Bildern stark gelitten, und insgesamt ist der Band, dessen alte Struktur beibehalten wurde, nicht so gelungen wie der Bildband über Gottfried Benn, der vor drei Jahren im selben Verlag erschien.
Was Schwilk für das Leben Jüngers getan hat, versucht die Literaturwissenschaft für das Werk: Bilanz ziehen. Nannte sich die internationale Konferenz, die im Juni 2009 in Breslau stattfand »Versuch einer Bilanz«, präsentieren die Herausgeber um Wojciech Kunicki die gesammelten Beiträge jetzt selbstbewußt unter dem Titel Ernst Jünger – Eine Bilanz (Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2010. 536 S., geb., 99 €). Der »Versuch« scheint also gelungen zu sein, und die Befürchtung, Jünger sei nicht mehr aktuell, hat sich wohl nicht bestätigt. Kunicki, ein polnischer Germanist, der seit vielen Jahren als Jünger-Übersetzer und Forscher tätig ist, stellt im Vorwort die Frage, was aus den erbittert geführten Debatten um Jünger geworden sei. Davon ist, wenn man den Band als Maßstab nimmt, nicht viel geblieben. Das Spektrum der 39 Beiträge reicht von Untersuchungen zu einzelnen Büchern, Begriffen und Themen Jüngers bis hin zu Überblicksdarstellungen zu verschiedenen Aspekten seines Werkes. Dabei variiert auch die Herangehensweise stark, vom Kurzessay bis zum umfangreichen Aufsatz ist alles vertreten. Ein Mangel liegt in der Literaturwissenschaft selbst, die zwar viel ausdeutet, aber selten mit neuen Fakten aufwarten kann. Hervorzuheben ist deshalb der materialreiche Beitrag von Hubert van den Berg »Lothar Schreyers Beiträge in Die Unvergessenen «. Dahinter verbirgt sich die interessante Lebensgeschichte des vielseitigen Künstlers, der nicht nur bei der avantgardistischen Zeitschrift Sturm schrieb, sondern auch lange Autor des Deutschen Volkstums war. Allerdings offenbart der Aufsatz eine weiterhin, trotz der allgemeinen Sympathie für Jünger, bestehende Schwäche des Wissenschaftsbetriebs: Anstatt Schreyer eben als eine Person in seiner Zeit zu sehen, wird ihm der Status Avantgarde unter Hinweis auf seine späteren Veröffentlichungen im Umfeld der KR abgesprochen, Schreyer damit zum Reaktionär umetikettiert. Was den Band insgesamt wertvoll macht, sind weniger seine Wertungen als einige Beiträge zur Jünger-Rezeption etwa in Frankreich, Rußland, Polen und Rumänien. Wie eine Art Zusammenfassung liest sich schließlich der Beitrag von Helmuth Kiesel, der die Tendenzen in der Auseinandersetzung mit Jünger zusammenfaßt und dabei die »Re-Integration« Jüngers in das Korpus der Moderne kurz beleuchtet. Um daran weiterzuarbeiten, fordert er ein Periodikum, in dem die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung stattfinden sollte.
Ein Periodikum hat es mittlerweile auf den vierten Band gebracht: die Jünger-Studien, die das jährliche Symposion des Freundeskreises der Gebrüder Jünger dokumentieren. Im neuesten Band, herausgegeben von Günter Figal und Georg Knapp, geht es um Autorschaft Zeit (Tübingen: Attempto 2010. 170 S., kt, 32 €). Hervorzuheben sind dabei die Aufsätze von Michael Klett, der aus der Sicht des Verlegers über Jüngers Autorschaft reflektiert, von Barbara von Wulffen über die Sichtung der Briefe ihres Vaters (Graf Podewils) sowie Steffen Dietzsch, der eine der seltenen gehaltvollen Auseinandersetzungen mit dem Werk von Friedrich Georg Jüngers beisteuert.
Neben der fehlenden Zeitschrift gibt Kiesel in dem erwähnten Aufsatz noch einige editorische Wünsche an, von denen er bereits einen selbst erfüllt hat: die Edition der unbearbeiteten Tagebücher Jüngers aus dem Ersten Weltkrieg. Mit dem Kriegstagebuch 1914–1918 (Stuttgart: Klett-Cotta 2010. 655 S., geb, 32.95 €) liegt ein lange vermißtes Desiderat vor, aus dem zwar in einigen wissenschaftlichen Arbeiten ausführlich zitiert wurde, das aber, außer den Forschern, noch niemand in Gänze lesen konnte. Das Medienecho auf diese Edition ist gespalten, sicher ist man sich indes, daß die Tagebücher von Helmuth Kiesel hervorragend ediert sind. Uneinigkeit herrscht aber über die Bedeutung der Tagebücher. Selbst wenn sie nur, wie behauptet wurde, für die Editionsgeschichte der Stahlgewitter von Interesse sein sollten, hieße das immerhin, daß sie das erfolgreichste nichttendenziöse Kriegsbuch beträfen. Aber die Bedeutung geht weit darüber hinaus. Die Tagebücher Jüngers dürften eines der wenigen authentischen Zeugnisse in diesem Umfang sein, das jemals ediert wurde. In seinem Nachwort »Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg« vermag es Kiesel nicht, einen adäquaten Vergleich anzuführen. Was es gibt, ist entweder wesentlich kürzer oder bereits vom Verfasser aus einer Rohform, die nicht mehr vorliegt, in eine erste Reinschrift übertragen.
Jünger hatte, bevor er im Januar 1915 an die Westfront kam, auf den Rat seines Vaters hin, begonnen, seine Erlebnisse festzuhalten, wohl bereits im Hinblick auf eine spätere Verwertung. Am Ende des Krieges waren es fünfzehn Hefte, aus denen Jünger dann die Stahlgewitter komponierte. In diesen Heften geht es vor allem um die zahlreichen Kampfhandlungen, an denen Jünger beteiligt war. Dabei gibt es ausgearbeitete reflektierende Passagen und Augenblicksaufzeichnungen, die in einer Art Sekundenstil gehalten sind. Natürlich gibt es darunter Stellen, in denen sich der Held etwas übermäßig seiner Taten rühmt. Erstaunlich ist dennoch das literarische Niveau der Aufzeichnungen des jungen Soldaten und Offiziers. Man darf bei der Beurteilung Jüngers Alter (1895 geb.) nicht vergessen und auch nicht, daß Jünger den Krieg gegen jede Wahrscheinlichkeit überlebt hat, was er tatsächlich wie einen Auftrag begriff. Jünger war an zahllosen Stoß- und Spähtruppunternehmen beteiligt, die oft hohe Verluste verzeichneten. Nicht zuletzt deshalb war Jünger einer von 687 Offizieren, die im Ersten Weltkrieg die höchste Tapferkeitsauszeichnung, den Pour le Mérite, erhielten, einer unter nur elf Kompanieführern. Das allein macht seine Aufzeichnungen wertvoll. Vielleicht sorgt die Edition auch dafür, daß uns Deutschen dieser Krieg, der die Weichen der Geschichte so unheilvoll gestellt hat, wieder ins Bewußtsein rückt. Jünger ist, mit all seinem gegenwärtigen Ruhm, der richtige Mann dafür, und er hat mit Helmuth Kiesel einen Editor und Biographen gefunden, der findig und nüchtern ist: Nur so bleiben uns Jüngers Sprache und Geist erhalten.