Bedauerlicherweise, denn er ist in bedeutenden Teilen eine Märchengeschichte. Dabei ist weniger wichtig, wenn hier zum x‑ten Mal die Behauptung kolportiert wird, Hitler habe 1936 einen unwilligen Joachim von Ribbentrop als Botschafter nach London geschickt, weil Ribbentrop eigentlich lieber Staatssekretär werden wollte. Tatsächlich hatte Ribbentrop um den Londoner Posten gebeten, obwohl er nach Hitlers Willen Staatssekretär im Auswärtigen Amt hätte werden sollen. London und der Versuch, zu einem deutsch-englischen Bündnis zu kommen, schienen ihm wichtiger zu sein und waren es wohl auch. Natürlich erfährt man dann in Das Amt nichts von dem betrüblichen Abschlußbericht Ribbentrops als Botschafter, in dem er feststellte, statt eines Bündnisses sei ein englischer Angriffskrieg gegen Deutschland mittelfristig so gut wie sicher, wenn nicht überhaupt schon beschlossene Sache.
Um eben dies zu verhindern, ernannte Hitler ihn dann zum Außenminister, und Ribbentrop holte Ernst von Weizsäcker auf den Posten des Staatssekretärs ins AA, womit man dann zum nächsten Punkt der Gerüchteküche kommt. Es war nicht oder nicht nur Weizsäcker, der »für Großdeutschland und gegen den großen Krieg« war, denn dies stellte den Konsens in der Führung des Amts und des Staates dar. Will man seinen Aufzeichnungen glauben, dann überholte Staatssekretär Weizsäcker dabei seinen Minister Ribbentrop sogar gelegentlich rechts außen. Das gilt etwa für den Jahreswechsel 1938/39, als Weizsäcker notierte, Hitler und Ribbentrop die sofortige Reduzierung Polens auf einen Pufferstaat empfohlen zu haben. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als Kanzler und Minister den polnischen Staat als Bündnispartner auf Basis der bestehenden Grenzen umwarben.
Weil dies in Das Amt nicht erwähnt wird (wohl weil es jenseits des Horizonts der verantwortlichen Wissenschaftler liegt), kommt es im weiteren zu kaum faßbaren Fehlleistungen. So hat Hitler nicht, wie auf Seite 135 ohne jeden Belegversuch behauptet wird, eine Woche nach dem Einmarsch in Prag »von Polen die Rückgabe Danzigs und des Korridors« verlangt. Einmal davon abgesehen, daß jeder historisch Halbgebildete weiß, daß Danzig 1939 gar nicht zu Polen gehörte, hat Deutschlands Diktator damals im Gegenteil intern und extern bekräftigt, Polens gegenwärtige Grenzen anerkennen, also auf den Korridor ausdrücklich verzichten zu wollen. Dies war weiterhin die Basis, auf der er einen Ausgleich mit Polen suchte, auch wenn dies, wie Goebbels genau in diesen Tagen in sein Tagebuch schrieb, einen »Biß in den sauren Apfel « bedeutete.
Das Amt arbeitet sich in die Kriegszeit vor, auch hier Fehler über Fehler: Der Krieg sei von Deutschland »ohne Kriegserklärung« begonnen worden, erfährt man. Das wird vermutlich daran liegen, daß er rechtlich von den Westmächten mit einer Kriegserklärung begonnen wurde und zwar trotz des am 2. September 1939 in London von einem Vertreter des Auswärtigen Amts im Auftrag von Ribbentrop und Hitler gemachten Angebots, die deutschen Streitkräfte aus Polen wieder zurückzuziehen. In diesem Zusammenhang ist das Kapitel über das »Sonderkommando Künsberg« interessant, mit dem das AA versuchte, belastende Akten der Gegenseite in die Hände zu bekommen. Das Amt macht daraus in zügigen Schritten den Auftrag, in ganz Europa silberne Löffel zu stehlen, oder wie es dort heißt, einen »Raub allergrößten Ausmaßes« durchzuführen. Die tatsächlichen Aktenfunde in Prag, Warschau, Norwegen und Frankreich werden mit keinem Wort erwähnt, so wenig wie die daraus resultierenden Publikationen des Auswärtigen Amts, in denen nachgewiesen wurde, daß die Westmächte den Krieg nicht nur erklärt hatten, sondern ihn im Rahmen einer Strategie der Kriegsausweitung auf kürzestem Weg auf neutrale Länder in Skandinavien und dem Balkan ausweiten wollten – gegen deren Willen. Die in Warschau sichergestellten und vom AA veröffentlichten »polnischen Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges« zwangen auch die USRegierung zu einem jahrzehntelang aufrechterhaltenen falschen Dementi, weil sie deren aktive Rolle zweifelsfrei – und anhand echter Dokumente – erkennen ließen. Von alldem schweigt Das Amt und nimmt diese Dokumentationen nicht einmal in die Bibliographie auf, obwohl sie für die rechtliche und moralische Beurteilung deutscher Diplomaten dieser Ära von überragender Bedeutung sind.
Im Brennpunkt der übrigen Darstellung der NS-Zeit steht die Rolle des Auswärtigen Amts bei der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Neue Dokumente von bedeutender Aussagekraft kann die Kommission hierzu nicht vorlegen, weshalb sich ihre Leiter in mehreren Interviews über die Archivpraxis des Auswärtigen Amts beschwert haben. Dahinter stehen offenbar Mutmaßungen über zurückgehaltenes Material, die den spärlichen Ertrag entschuldigen sollen. Diese Sachlage hat die Kommission nicht daran gehindert, eine umfassende Verschärfung des Urteils über das Auswärtige Amt vorzunehmen. In mehreren Interviews – nicht im Bericht – war vom AA als verbrecherischer Organisation die Rede. Grundlage sind beispielsweise Spekulationen über die Verbreitung des Wissens von Massentötungen im Amt. Nachweislich abgezeichnet worden sind entsprechende Berichte der Einsatzgruppen des SD aus dem Jahr 1941 von einer Handvoll Personen, darunter Staatssekretär Weizsäcker. Es »widerspräche jeder Lebenserfahrung«, so war aus der Kommission zu hören, wenn darüber unter Kollegen nicht umfassend gesprochen worden sei. Glücklicherweise hat jedoch keiner der beteiligten Wissenschaftler eine Lebenserfahrung, wie das so ist, wenn man als Funktionsträger eines Totalstaats in ein Staatsverbrechen eingeweiht wird, das man selbst weder geplant noch angeordnet oder ausgeführt hat. Ob Reden über solche Dinge üblich war, darf man zumindest bezweifeln.
Dies betrifft in noch höherem Maß das Wissen um Vernichtungslager. Es gibt keinen einzigen Beleg dafür, daß irgend jemand im Auswärtigen Amt belastbare Informationen über solche Lager hatte. Auch die Kommission kann keinen solchen Beleg vorweisen. Selbst Mitarbeiter im AA wie Helmuth James von Moltke, die entsprechende Gerüchte gehört hatten, sie glaubten und aktiv nach Belegen suchten, konnten nichts in Erfahrung bringen. Das Auswärtige Amt beteiligte sich in der Tat an der Entrechtung, statistischen Erfassung und Deportation der europäischen Juden. Dies geschah mit der Begründung von Sicherheitspolitik und Arbeitszwang vor den Augen der deutschen und der Weltöffentlichkeit und unter Federführung des Reichssicherheitshauptamts der SS. So war es auf der Wannseekonferenz festgelegt worden, an der das AA – ohne Wissen des Ministers – durch den Unterstaatssekretär Martin Luther vertreten war, der Ribbentrop erst im Spätsommer 1942 inhaltlich vage wissen ließ, daß da eine Konferenz stattgefunden habe. Christopher Browning hat vor mehr als dreißig Jahren nachgewiesen, daß es im Auswärtigen Amt vor allem der umtriebige Luther war, der als direkter Ansprechpartner von Adolf Eichmann fungierte und die Judenverfolgung offenbar als Karrierechance begriff.
Von all diesen Personen spielte nach 1945 selbstredend niemand mehr eine Rolle im Auswärtigen Amt, wenn sie überhaupt überlebt hatten. Das Grundanliegen des zweiten Teils des Kommissionsberichts, das AA nach 1945 im Sinn der früher von Ost-Berlin ausgehenden Kampagnen als Hort verkappter Nationalsozialisten darzustellen, beschränkt sich daher notwendigerweise auf die dritte Garnitur abwärts. Daß im neugegründeten Amt auch Personen wirkten, die NSDAP-Mitglied gewesen waren oder einen SS-Rang gehabt hatten, ist ebenfalls keine Neuigkeit. Die umfassende Verdammung dieser Personen allein aufgrund dieser Tatsache kann nur befürworten, wer von den oben geschilderten Zusammenhängen der internationalen Politik vor 1939 nichts weiß und nichts wissen will. Manche Diplomaten ergriffen nach 1945 die Chance, ein demokratisches deutsches Staatswesen aufzubauen. Etwas anderes geht auch aus dem Bericht nicht hervor, den man wohl zu den erstaunlich erfolgreichen Anstrengungen rechnen darf, diesem Staatswesen unter Zuhilfenahme von Totschweigen und Falschbehauptungen einen ahistorischen Schuldkult zu verpassen.