die Augen über das Ausmaß an Gewalt in Berlin. Vor knapp zwei Monaten kochte das Thema wieder hoch, weil es in der Hauptstadt erneut zu einer Serie von brutalen Überfällen in U‑Bahnhöfen kam. Sezession im Netz sprach über dieses Problem mit dem Soziologen Stephan Voß, dem Leiter der Geschäftsstelle Berlin gegen Gewalt.
SEZESSION: Sehr geehrter Herr Voß, brutale U‑Bahnschläger sind seit einigen Wochen wieder in den Schlagzeilen. Dabei ist doch davon auszugehen, daß diese Fälle nur die Spitze des Eisberges sind. Können Sie uns die Alltagsgewalt unter Jugendlichen in Berlin etwas genauer schildern.
VOSS: Gewalttaten, die den Weg in die Medien finden, sind immer nur eine Spitze des Eisberges. Die von Ihnen erwähnten Taten im öffentlichen Personennahverkehr, die per Video aufgezeichnet und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, lösen bei vielen Menschen, auch wegen des brutalen Vorgehens der Täter, verständlicherweise Angst und Unsicherheitsgefühle aus. Dennoch ist es erst einmal wichtig festzustellen, dass mit Blick auf alle Straftaten die absolute Zahl tatverdächtiger junger Menschen unter 21 Jahren in Berlin und auch ihr Anteil an allen Tatverdächtigen seit 1991 noch nie so niedrig waren wie heute.
Darüber hinaus ist zum Beispiel im Bereich der Jugendgruppengewalt die Anzahl der Tatverdächtigen zu Rohheitsdelikten von 2.671 im Jahr 2008 auf 2.177 zurückgegangen und die Anzahl der registrierten entsprechenden Straftaten von 3.495 auf 2.583. Diese erfreulichen Entwicklungen werden jedoch angesichts der erwähnten brutalen und in allen Einzelheiten von jedem nachzuverfolgenden Gewalttaten kaum mehr wahrgenommen.
Von Alltagsgewalt unter Jugendlichen zu sprechen, erweckt den Eindruck, daß alle jungen Berliner alltäglich mit Gewalttaten konfrontiert sind. Dieser Eindruck entspricht so nicht der Realität, auch wenn natürlich immer noch viel zu viele junge Menschen in Berlin Täter oder auch Opfer von Gewalt, z.B. durch das „Abziehen“ von Handys, durch andere Raubdelikte oder durch Körperverletzungen, werden.
SEZESSION: Nun fällt in der Statistik die hohe Anzahl an „Tätern mit Migrationshintergrund“ auf. Woran liegt das?
VOSS: Zunächst einmal ist es wichtig festzuhalten, daß der bei weitem überwiegende Teil von jungen Menschen mit Migrationshintergrund nicht wegen Gewalttaten polizeilich registriert ist. Richtig ist, daß z.B. junge männliche Personen mit einem türkischen, libanesischen oder palästinensischen Migrationshintergrund oder mit einem aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens in Berlin – gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil – überproportional an Gewaltdelikten beteiligt sind. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Sie haben vor allem mit sozialen Faktoren, also solchen, die in den spezifischen Lebenslagen dieser jungen Menschen begründet sind, zu tun. Kulturelle und migrationsbedingte Faktoren können verstärkend auf die Häufigkeit und Intensität gewaltförmigen Verhaltens wirken. Wichtig ist es vor diesem Hintergrund, einer Ethnisierung der Probleme entgegenzutreten.
Wie gesagt, bestehen die Ursachen für gewalttätiges Verhalten in einem ganzen Bündel von Faktoren. Dabei spielen sowohl Diskriminierungserfahrungen als auch mangelnde Perspektiven im Hinblick auf Ausbildung und Beruf eine Rolle. Diese wiederum haben unter anderem etwas mit mangelhaften Sprachkenntnissen sowie mit einer unzureichenden Unterstützung der Kinder durch ihre Eltern im Hinblick auf Bildungsprozesse zu tun. Das heißt nicht, daß Eltern etwa nicht wollen, daß ihre Kinder in der Schule und später im Beruf erfolgreich sind, sondern es bedeutet, daß Eltern oft einfach die Kompetenzen fehlen, um ihre Kinder in ausreichendem Maße zu unterstützen.
Zu den Ursachen von Gewalt gehört häufig auch die Erfahrung innerfamiliärer Gewalt und zwar sowohl von Gewalt, die Eltern ihren Kindern gegenüber ausüben als auch von Gewalt zwischen den Eltern, die von Kindern miterlebt wird. Dieser Aspekt ist nicht zu unterschätzen, da Kinder sozusagen am Modell lernen. Wir sprechen deshalb auch von einem Kreislauf der Gewalt. Unterschätzt werden darf auch nicht, daß sich männliche Jugendliche oftmals an Gewalt legitimierenden Männlichkeitsbildern orientieren, die etwas mit patriarchalisch geprägter Geschlechtsrollenidentität zu tun hat. Diese Männlichkeitsbilder sind für unsere Gesellschaft nicht mehr zeitgemäß. Sie führen jedoch unter anderem dazu, daß sich männliche Jugendliche – und nicht nur solche mit Migrationshintergrund – oftmals an gewalttätigen Gruppen Gleichaltriger orientieren. Dies kann fatale Auswirkungen haben, da diese Gruppen, die ja für das Aufwachsen von jungen Menschen von zentraler Bedeutung sind, eine Dynamik entfalten, die sich auf die Entwicklung der jungen Menschen sehr negativ auswirken kann.
SEZSSION: Wodurch unterscheiden sich deutsche von ausländischen Tätern? Gibt es typische Kriminalitätskarrieren bzw. Handlungsmuster der Taten?
VOSS: Ich glaube nicht, daß es Sinn macht, zwischen Tätern deutscher Herkunft und solchen mit Migrationshintergrund in Bezug auf ihr Tätersein zu unterscheiden. Was sollte uns diese Unterscheidung bringen? Wenn junge Menschen von Gewaltdelikten geprägte kriminelle Karrieren durchlaufen, dann haben wir es in sehr vielen Fällen mit Jungen, männlichen Jugendlichen und männlichen Heranwachsenden zu tun, die aus unterschiedlichen Gründen – einige habe ich oben genannt – in ihrem Leben keinen Erfolg hatten, keine Selbstwirksamkeit und weder Anerkennung noch Wertschätzung in ausreichendem Maße erfahren haben.
Gewalt bietet dann, ohne sich besonders anstrengen zu müssen, die Möglichkeit, sich selbst als machtvoll erleben zu können. Oft genug bildet sie das Pendant zu der im alltäglichen Leben erfahrenen Ohnmacht.
SEZESSION: Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendgewalt ähneln sich regelmäßig, wenn die Debatte darüber aufkommt: Die eine Seite fordert mehr gesetzliche Härte, z.B. den Warnschußarrest, die andere Seite setzt auf Bildung und Integration im Einvernehmen mit den Jugendlichen. Auf welcher Seite stehen Sie?
VOSS: Aus meiner Sicht sind die gesetzlichen Regelungen, die wir haben, ausreichend. Bei der Anwendung dieser Regelungen gibt es sicher an der einen oder anderen Stelle noch Handlungsbedarf, von entscheidender Bedeutung ist es jedoch – und dies hat z.B. die Untersuchung von Intensivtäterkarrieren deutlich gezeigt –, frühzeitig zu reagieren, wenn sich bei jungen Menschen z.B. in der Schule Probleme oder Auffälligkeiten zeigen. Hinsehen und Handeln ist dann gefragt. Abwarten oder die Verantwortung von sich zu weisen, ist Gift für die weitere Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. In dieser Phase geht es noch gar nicht um Delinquenz geschweige denn um kriminelle Karrieren, sondern darum, diejenigen, die Probleme haben, zu unterstützen.
Hier ist eine verantwortliche Zusammenarbeit vor allem zwischen Schule und Jugendhilfe von größter Bedeutung, die sicherstellt, daß für die vorhandenen Probleme gemeinsam mit den jungen Menschen und – das ist besonders wichtig – mit deren Familien Lösungen erarbeitet werden. Letztlich ist es dabei notwendig, Einvernehmen zu erzielen, denn ohne dieses und ohne daß die Beteiligten von den gefundenen Lösungen überzeugt sind, wird jegliche Unterstützung ohne den gewünschten Erfolg bleiben. Dies bedeutet jedoch nicht, daß von Eltern und Kindern nichts gefordert wird, im Gegenteil. Eltern müssen Verantwortung für ihre Kinder übernehmen und dies ist ihnen auch sehr deutlich zu machen. Fehlen die dafür notwendigen Kompetenzen, müssen sie bei deren Entwicklung unterstützt werden. Lehnen sie eine solche Unterstützung ab, muß letztlich der Staat seine Wächterfunktion für das Kindeswohl wahrnehmen.
Es kommt also auf das Handeln in jedem Einzelfall an und dieses Handeln muß weiter professionalisiert werden. Damit will ich die Bedeutung von Bildung und Integration für eine positive Entwicklung junger Menschen und damit auch ihre Bedeutung für die Prävention von Gewalt keinesfalls schmälern. Daß es hier noch Einiges zu tun gibt, ist offensichtlich. Wenn es aber darum geht, wie wir kriminelle Karrieren verhindern können, scheint mir die Frage, wie die Verantwortlichen im Einzelfall reagieren, der entscheidende Punkt zu sein.
SEZESSION: Können Sie uns aus Ihrer persönlichen Erfahrung erfolgreiche Wege beschreiben, wie Jugendliche ihr zur Kriminalität neigendes Milieu (und damit eben auch – und dies dürfte das schwierige sein – ihren Freundeskreis) verlassen können?
VOSS: Mit dieser Frage sprechen Sie ein zentrales Problem an. Wir wissen, daß es für Jugendliche – wie für andere Menschen im Übrigen auch – sehr schwierig ist, ihr gewohntes Milieu zu verlassen und daß ein delinquenter Freundeskreis ein erheblicher Risikofaktor für gewalttätiges Handeln junger Menschen ist. Einzelne Jugendliche schaffen es, sich von solchen Freunden zu trennen. Muster dafür, wie so etwas gelingt, sind mir allerdings nicht bekannt. In diesem Zusammenhang möchte ich in Erinnerung rufen, daß Jugenddelinquenz im Allgemeinen und auch Gewaltdelinquenz in den allermeisten Fällen ein vorübergehendes Phänomen ist. Das bedeutet, daß von Jugendlichen und Heranwachsenden im Erwachsenenalter in der Regel keine Straftaten mehr verübt werden.
SEZESSION: Ihre Publikation, „Berliner Forum Gewaltprävention“, in der Sie ihre Arbeitsergebnisse darstellen, zeigt dagegen, daß Sie selbst noch große Defizite in der Erreichung Ihrer Ziele sehen. Was macht die Arbeit der Gewaltprävention so schwierig?
VOSS: Gewalttätiges Handeln hat – wie gesagt – vielfältige Ursachen. Diese haben sowohl mit gesellschaftlichen Strukturen, gesellschaftlichen Werten als auch mit individuellen Problemlagen zu tun. Denken Sie z.B. an das Thema Gewalt in der Erziehung. Erst am Anfang dieses Jahrtausends wurde im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert, daß Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. Oder denken Sie an häusliche Gewalt. Obwohl sie inzwischen gesellschaftlich seit vielen Jahren geächtet ist, wird sie immer noch und in erschreckendem Maße ausgeübt. Viele Kinder erleben diese Formen von Gewalt noch viel zu oft und gleichzeitig erfahren sie zu wenig Wertschätzung und Respekt. Für zu viele Kinder ist die Familie immer noch ein gefährlicher Ort – im Übrigen auch mit Blick auf sexuelle Gewalt.
Denken Sie an das Thema Gewalt in den Medien um ein weiteres Beispiel zu nennen. Auch hier besteht noch großer Handlungsbedarf. Probleme im Zusammenhang mit Bildung, Integration und der sozialen Lage von vielen Kindern und ihren Familien lassen sich natürlich auch nicht auf die Schnelle lösen. Und zuletzt möchte ich noch einen ganz wichtigen, wenn nicht sogar den entscheidenden Punkt hinzufügen: Das Bewußtsein dafür, daß präventives Handeln viele Probleme im Zusammenhang mit Gewalt erst gar nicht entstehen lassen würde, ist noch viel zu wenig ausgeprägt. Noch immer investieren wir im Wesentlichen dann, wenn es um Intervention geht, wenn also das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Prävention im Sinne des Vorbeugens, ist noch viel zu wenig die Maxime unseres Handelns.
SEZESSION: Herr Voß, vielen Dank für das Gespräch!
Theosebeios
Stephan Voß fasst sehr schön die Auffassung unserer fachlich mit diesen Fragen beschäftigten intellektuellen Eliten zusammen. In dieser lässt sich stets das Bemühen erkennen, den Zusammenhang zwischen Kriminalität / Gewalt und Migration auszublenden. Stattdessen werden (teilweise richtige) soziale Aspekte in den Vordergrund gerückt. Man möchte Probleme durch "mehr Integration" lösen, ohne zu fragen, warum Deutschland überhaupt die zu einem erheblichen Teil unerwünscht Zugewanderten integrieren sollte. Ohne die großen Migrationsschübe nach dem sog. Anwerbestopp hätte man Mitte der 80er Jahre beispielsweise die Abschaffung des (geschlossenen) Jugendstrafvollzuges diskutieren können. Stattdessen 'bevölkern' seit 20 Jahren Anteile von Ausländern zwischen 20-40 % (Erwachsenenstrafvollzug), 30-70% (Jugendstrafvollzug) und bis zu 80% in der U-Haft den deutschen Vollzug. (In Österreich und der Schweiz sieht es noch düsterer aus.) Für diese Gruppen gilt ebenfalls das Resozialisierungsgebot (in die deutsche Gesellschaft). Könnte ein kritischer Soziologe nicht einmal diese absurde Entwicklung 'hinterfragen'? Bei den Tätern führt man Scheingefechte über Prozentwerte und seriös nie aufgestellte Behauptungen (etwa dass Ausländer 'krimineller' seien als Deutsche). Ist es nicht belanglos, ob ausländische Mehrfach- und Intensivtäter 30, 40 oder 50% dieser (polizeilich definierten) Gruppe bilden? Erscheint denn die Überlegung, dass junge Gewalttäter aus anderen Ethnien in anatolischen Dörfern viel besser resozialisiert werden könnten als in sozialpädagogischen ambulanten Maßnahmen in Neukölln, einem kritischen deutschen Soziologen völlig indiskutabel? (Hat man jemals auch nur eine Erörterung in dieser Richtung lesen können?) Mir scheint eher, dass der kritische Soziologe hier eine Denkblockade hat, die er nach seinem eigenen offenen Wissenschaftsanspruch nicht haben dürfte.