muß das mythische Geschichtsbild seiner Zeit teilen. Andererseits droht Gewissensangst, weil die Idealforderungen des „Kultur-Über-Ich“ (Sigmund Freud) nicht befolgt wurden. Dieser ausgrenzende Mechanismus ist im Umgang mit dem Dritten Reich besonders wirkmächtig, so daß es bereits eine Grenzüberschreitung ist, wenn man in diesem Zusammenhang von bundesrepublikanischen Mythen spricht.
Zieht man eine wissenschaftliche Definition des Mythos heran, zeigt sich jedoch sehr schnell, wie berichtigt die Rede davon ist. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hat in seinem Buch Die Deutschen und ihre Mythen drei Elemente des Mythos unterschieden. Jeder bestehe aus narrativer Variation, ikonischer Verdichtung und ritueller Inszenierung. Stehen dabei Narrationen im Mittelpunkt, würden eher gesellschaftliche Veränderungen in nächster Zeit zu erwarten sein. Überwiegen jedoch die ikonischen und rituellen Elemente verfestige sich der status quo. Münkler mutmaßt, daß in der Gegenwart die ikonische Verdichtung gegenüber der narrativen Variation dominant werde. Dies dürfte insbesondere an der Omnipräsenz der Fernsehbilder, aber auch an der Einfallslosigkeit des Printjournalismus liegen.
Leider ist Münkler nun zu feige, mit diesem theoretischen Fundament die Zeit des Nationalsozialismus ins Visier zu nehmen. Anscheinend darf sich in Deutschland nur der ehemalige grüne Außenminister Joschka Fischer erlauben, Auschwitz als Gründungsmythos der Bundesrepublik zu bezeichnen. In Die Deutschen und ihre Mythen geht es um die Nibelungen, Doktor Johann Faust, Luther, Preußen, die Währungsreform in der BRD sowie selbst um so lächerliche Kampagnen wie „Du bist Deutschland“. Die Idee, daß auch negative Ereignisse im Nachhinein mythisch aufgeladen werden können, vermeidet der Politologe jedoch.
An den Jubiläumsinszenierungen zu „70 Jahre Unternehmen Barbarossa“ lassen sich dennoch alle Elemente des Mythos nachweisen. Die narrative Variation ist in der gesamten Erinnerungskultur relativ gering, was auf eine Verfestigung des status quo schließen läßt. Große rituelle Inszenierungen beschränken sich auf Magazine und Zeitschriften sowie ein paar Fernsehdokumentationen, in denen allesamt sehr ähnliche Pathosformeln zum Einsatz kommen. Die Bildsprache (ikonische Verdichtung) schließlich ist einerseits geprägt von anachronistischen Archivbildern (z.B. Panzer), die wenig Aussagekraft haben und nur als Bilderteppich verwendet werden können, weil sich mit ihnen weder die eine noch die andere These (z.B. Präventivkrieg) belegen läßt. Andererseits setzen die Medien, die in der Erinnerungskultur als „Mythomotoren“ wirken, zuhauf Sinnbilder von Adolf Hitler ein, die seinen bösen Charakter belegen sollen. Damit dies auch wirklich deutlich wird, hat DER SPIEGEL ein Bild des Führers von einem Reichsparteitag in Nürnberg eingesetzt, auf dem er mit Hitlergruß vor Hakenkreuzfahnen und einer Menschenmasse zu sehen ist. Hitler ist darauf ohne jegliche Regung oder gar Wortgewalt zu sehen, dennoch wählt DER SPIEGEL die Bildunterschrift: „Der ‚Führer‘ tobt und brüllt, um Gesprächspartner zu beeindrucken“.
In den gegenseitigen Übertrumpfungswettbewerb, wer es schafft, Hitler am schlimmsten darzustellen, steigt auch der Cicero ganz weit oben ein. Dies ist dieser Tage nicht ganz einfach, weil auch die These des Historikers Rolf-Dieter Müller, ein Überfall auf die Sowjetunion sei bereits für 1939 geplant gewesen, ein Anwärter auf die vordersten Plätze ist. Aber das „Magazin für politische Kultur“ hat noch mehr zu bieten. Der in Deutschland lebende Pole Wieslaw Smetek hat ein Cover gezeichnet, auf dem Hitler die Weltkugel mit einer Zange zerbricht. Dies ist eine Anspielung auf die Titelstory von Jochen Thies über die Welteroberungspläne Hitlers: „Neben dem Russlandfeldzug, der im Oktober (1941, Anmerk. FM) beendet sein würde, liefen Planungen für eine Zangenoperation, um die britische Position im Nahen Osten zum Einsturz zu bringen.“ Wie konkret diese Pläne waren, kann Thies nicht belegen. Seine These von der Welteroberung stützt er auf zwei wacklige Indizien. Zum einen auf ein Zitat Hitlers, wonach er „die dominierende Stellung auf der Welt“ haben möchte. Von Stalin sowie unzähligen US-Präsidenten sind ähnliche Worte zu finden. Zum anderen auf die architektonischen Pläne des Dritten Reiches und die Erinnerungen von Albert Speer aus dem Jahr 1969. Diese Jahreszahl unterschlägt Thies selbstverständlich, sonst könnten womöglich allzu viele auf die Idee kommen, er habe nichts Neues zu berichten.
Der Bogen in die Gegenwart, um die ungebrochene Aktualität von Hitler zu beweisen, muß deshalb anders geschlagen werden. Die immer ähnlichen Geschichten über das Dritte Reich sind dazu wenig geeignet. Sie sorgen eher dafür, daß sich Geschichtspolitik zur formelhaften Erinnerungsreligion mit einigen völlig überhöhten Ikonen entwickelt. Die SPIEGEL TV-Dokumentation über den „barbarischen Krieg im Osten“ zeigt sehr anschaulich das Dilemma: Der Erzähler der Doku muß als Verkünder der Wahrheit auftreten und spricht aus dem Nichts sofort von einem „Überfall“, ohne ihn zu diesem Zeitpunkt belegen zu können. Diesem Signalwort, das die Niederträchtigkeit der Absichten und späteren Verbrechen vorwegnimmt, folgt ein Bilderteppich der Kriegshandlungen ohne Aussagekraft. Wer hier wen angegriffen hat und warum, bleibt unklar.
Schließlich muß der Vorschlaghammer ausgepackt werden und Bilder des Grauens von Massentötungen sollen den Zuschauer schockieren. Doch diese Schreckensikonen haben einen gewaltigen Nachteil. Der Medienwissenschaftler Götz Großklaus betont, daß „Bilder körperlosen toten Raums (z.B. das bombardierte Dresden 1945, Anm. FM) – und Bilder ‚raumloser‘ toter Körper (Erschießungen an der Ostfront, Anm. FM)“ „auf bedrohliche Weise latent bleiben“. Das Gedächtnis kann diese Bilder nicht bewältigen, weil sie unvorstellbar sind und der Mensch sich aus anthropologischen Gründen ein Grundgefühl „ontologischer Sicherheit“ (Anthony Giddens) bewahrt, das durch diese Eindrücke des Schreckens gestört wird. Er kann deshalb nicht anders, als diese Bilder zu verdrängen.
Aus diesem Grund braucht es eine übergeordnete Instanz, die zwangsläufig belehrend die geschichtspolitische Aussageabsicht überbringt. Diese meta-narrative Funktion übernehmen in der Regel Experten, die das historische Ereignis einordnen und – so wird es dem Zuschauer verkauft – objektiv bewerten. Zwei Experten der SPIEGEL TV-Dokumentation sind besonders interessant: zum einen der Sozialpsychologe Harald Welzer und zum anderen der Hitler-Biograph Ian Kershaw. Welzer hat im letzten Jahr in einem Aufsatz für die Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte (25–26/2010, S. 16–23) seine Ziele einer „historisch-moralische(n) Bildung“ skizziert. Er möchte Persönlichkeiten fördern, „die sich gegenüber massen- oder völkermörderischer Gewalt widerständig verhalten können“. Das ist ein durchaus löbliches Ziel und wäre mit einer Erziehung zu Mut und Prinzipientreue zu bewerkstelligen. Welzer hat aber anderes im Sinn und will Demokratiefähigkeit einüben lassen sowie die Entwicklung von Zivilcourage vorantreiben. Er beruft sich dabei auf einen breiten Konsens auf der internationalen Holocaust-Konferenz in Stockholm aus dem Jahr 2000. Wenn Welzer also bei SPIEGEL TV das Wort als Experte ergreift, so steht für ihn nicht die Frage, „wie war das wirklich und warum?“, im Vordergrund, denn „Erinnerung schreibt sich immer nach den Erfordernissen der Gegenwart um“. Sie sei „gegenwärtig, reflexiv und politisch“. Das bedeutet, nicht etwa das „Unternehmen Barbarossa“ ins Blickfeld zu nehmen, sondern „sich den Potentialen, Handlungen und Orientierungen zu widmen, die Ausgrenzungsgesellschaften entstehen und Genozide möglich werden lassen.“
Die Agenda des Programms der Geschichtspolitik umfaßt für Welzer „Herrschaftsansprüche und Mechanismen zur Herrschaftsstabilisierung aus neu oder wieder ‚erfundenen Traditionen‘“ für das „zukünftige Europa“. Gemeinsamer Referenzpunkt soll eine „internationale Ikonografie des Holocaust“ sein. Welzer scheint aber zu wissen, daß diese Ikonographie immer latent bleiben wird, deshalb schlägt er vor, im (kollektiven) Gedächtnis das Bild einer „gehoffte(n) Zukunft“ zu implementieren. Im Klartext: Die Vergangenheit ist so zu erzählen, wie sich der Experte die Zukunft wünscht.
Ian Kershaw führt diesen Befehl aus, indem er im Cicero mit der Titelstory über Hitlers Welteroberungspläne gegen „Europas brüchigen Frieden“ zu Felde zieht. Das fast ganzseitige Bild dazu: Ein ungarischer Neonazi mit einer tätowierten Glatze. Mit Blick auf den Erfolg rechtspopulistischer Parteien in mehreren Staaten kommt Kershaw zu der Einsicht, daß der „Rassismus bei weitem nicht überwunden“ ist. „Und angesichts der in diesen Ländern unheilvollen und gar nicht lange zurückliegenden Geschichte von Rassenhass und Faschismus stellt sich die Frage: Wie gefährlich ist dieser neue Rassismus?“ Zunächst ist dies eine böswillige Unterstellung, da z.B. die EU-kritischen „Wahren Finnen“ in keinster Weise mit Fremdenfeindlichkeit kokettieren. Aber Kershaw findet einen Trick, mit dem er auch sie indirekt mit dem Nationalsozialismus in Verbindung bringen kann. Er vergleicht nämlich die Bankenkrise von 2008 und die bis heute anhaltende des Euro mit den Bedingungen, „die Hitler und den Nationalsozialismus in Deutschland an die Macht gebracht hatten“. Zwar gibt Kershaw später noch zu, daß die Bedingungen für einen neuerlichen Faschismus heute eher ungünstig sind, aber „ein stilles Stoßgebet wäre gleichwohl angebracht“.
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Einleitung: Der 70. Jahrestag des „Unternehmen Barbarossa“ in den Medien
Und hier geht es zum kaplaken-Band von Stefan Scheil: Präventivkrieg Barbarossa. Fragen, Fakten, Antworten