und den schweizerischen Nationalcharakter nachgedacht. Er versteht seinen Artikel als Antwort auf die Anwürfe deutscher Politiker, die Schweiz schade mit ihrem Beharren auf dem Bankgeheimnis dem deutschen Staat über die Maßen. Hürlimanns Beitrag klärt diese Frage nicht, er ist hintergründig angelegt und fragt vielmehr, warum die Schweizer und die Deutschen so sind, wie sie sind. Seine Antwort geriet ihm zu sprachlich glänzendem Naturdeterminismus.
Zuerst die Schweizer: allein schon geographisch die geborenen “Ver-Bergler”, die sich ins Unzugängliche, Verborgene zurückziehen können und wollen. Das Diskrete und das understatement sind die ihnen angemessenen Eigenschaften, das Horten und Tarnen die daraus abgeleiteten Vorlieben.
Schon die alten Eidgenossen zogen sich auf die Höhen zurück, um von dort oben die Ritterheere der Habsburger mit Geröllawinen zu bekämpfen, und in den Weltkriegen baute das Militär das Innere der Alpen zu einem einzigartigen Bunkersystem aus, dem sogenannten Reduit, worin die Armee, wäre die Schweiz überfallen worden, in ewiger Dämmerung ausgeharrt hätte.
Ist das nicht schön, daß Hürlimann so etwas einfach hinschreibt, ohne den Drang, sich darüber lustig zu machen oder es zu – dekonstruieren? Er nimmt das ganz ernst:
In Masse und Macht ordnete Elias Canetti den Nationen “Massensymbole” zu. Unseres ist der Berg. Ihres ist der Wald.
Hürlimanns Beitrag ist eigentlich ein offener Brief an uns Deutsche. Wir also:
Solange es den Wald tatsächlich gab, bot er Ihnen jenen Schutz, den wir in den Höhlen fanden. Aber die fallenden Bäume entblößten die Ebene, und damit wurde die Gefährdung von Deutschlands Mittellage sichtbar. Also begann “der Wald zu marschieren” (Canetti), er wurde zum Heer, um die Flanken zu schützen, rollte über diese hinaus. Im Strategischen hatten es die Deutschen immer schwerer als wir. In den Bergen kann man verschwinden, in den Ebenen nicht, sie bleibt eine Blöße, und aus ihr, mehr noch aus der Angst vor ihr, erwuchs die deutsche Waldsehnsucht.
Von hier ab besingt Hürlimann unser Vaterland und setzt Signalworte, eines um das andere. Ich weiß gar nicht, wie solche Sätze in den Ohren jener relativierungssüchtigen, maximal habituell Konservativen klingen mögen, die Deutschland mit einer gutgeölten Maschine verwechseln:
Ohne die Waldgänger Nietzsche, Heidegger, Jünger und Botho Strauß, ohne die Verse von Eichendorff und Benn oder die Romane Martin Walsers, wie armselig wäre mein Leben. Ich finde es wunderbar, wenn Ihre Lichtungen die Wahrheit entbergen, …
… und so geht das immer weiter, bis ins Heute, und die
Waldnation hat sich entwurzelt, und jede Fußgängerzone teilt mit, daß man einst heilige Wörter wie “Vaterland”, “Boden” oder “Heimat” für immer begraben hat.
Hier ist der ganze Beitrag. Wo endet Hürlimann? Er wendet seine “Bestandsaufnahme der deutschen Seele” (Joachim Fernau) aufs Politische an, und gesteht, daß er den “Ebenen-Charakter” eines notwendigen “Alles oder Nichts” beängstigend findet und zuletzt den “Oberförster” aus Ernst Jüngers Marmorklippen am Werke sieht.
Spätestens hier muß flankierend ein berühmter Spruch von Armin Mohler neben Hürlimanns Sätze gestellt werden. Der Schweizer Mohler war 21 Jahre alt, als Hitler gegen Stalin antrat, und im Nasenring schildert Mohler, daß ihm in diesem Moment klar wurde, was es bedeutet, wenn es in der Mitte Europas ums Ganze geht. Er passierte unerlaubt die Grenze und meldete sich (vergebens) freiwillig zur SS, denn “in der Schweiz geht es immer nur um mehr oder weniger, in Deutschland um alles oder nichts”.
Hürlimann nennt das “Politromantik” (ohne Mohler zu nennen) und versteht an dieser Stelle vielleicht nicht, daß es im Weltkrieg nicht anders geht als ganz oder gar nicht. Oder doch? Mohler zitiert an anderer Stelle den Basler Carl Jakob Burckhardt:
Es ist bei dem begabtesten Volk des neueren Europa ein Mangel an natürlichem Spürsinn, Takt, Augenmaß und ruhiger, vernünftiger Vorsicht, die immer wieder in Erstaunen setzt. Man sagt, es sei um der höheren, der höchsten Eigenschaften willen, die alles aufzehren wie eine Flamme …
Ich muß gestehen, ich weiß nicht, ob das nun Lob oder Spott ist. Denn immerhin sagen wir doch immer, daß die große Leistung einer Nation darin besteht, sich auf ihrem Gang durch die Geschichte “durchzuhalten”. Kann man die Bundesrepublik als ein geglücktes “Durchhalten” bezeichnen? Nein? Was also haben das “Aufzehrende” und die “Wald-und-Ebenen-Romantik” in der Politik zu suchen gehabt? Was ist davon noch übrig und wozu sollte es gut sein?
Bremer Butjer
Hallo, Herr Kubitschek,
vielen Dank für den Text von Thomas Hürlimann!
Er sagt, er schreibe seinen Text als Freund - und genau das tut er!
Der Artikel ist mit einem sehr angenehmen Augenzwinkern geschrieben und beschreibt die Situation mit gewohnter schweizer Qualität und Präzision voll ins Schwarze treffend.
Die "Wald-Situation" kann sehr unangenehm enden:
Ich sehe die Gefahr, daß sich der Kopf vom Herz und von den Füßen trennt und es infolgedessen zu einem - kompletten, immerwährenden - Zusammenbruch kommen kann - oder aber zur vollständigen Auflösung - was Gott verhüten möge!
Wie sieht es mit der Zukunftsfähigkeit Deutschlands - also seiner Menschen und Landschaften - aus?
Wie ist es darum bestellt?
Sind die Schweizer zukunftsfähiger, weil sie "elastischer" und "tatsachenorientierter" sind?
Beim Wald denke ich sofort an einen Kumpel, der mit seinem Hund immer wieder in den Wald "rennt":
Er fühle sich dort sehr wohl und erhole sich dort sehr gut, so sagt er.
Allerdings: Wovor "rennt" er denn weg?
Und "läuft" er dann etwa direkt in den Schoß von Mutter Natur?
Und schwingt sich der Geist dann in unerreichbar hohe Traum-Welten?
Wenn das alles zur Balance beiträgt - okay!
Wenn nicht: Ist so eine "Haltung" über-lebensfähig?
Genau diese Thematik scheint mir mit Ihrem Artikel, Herr Kubitschek, angesprochen zu sein.
(Jedenfalls lese ich sie so.)
Was kommt nach der maßlosen Selbst-Überschätzung der Deutschen ("total") und dem danach "praktizierten" Dasein quasi als "Neutrum"?
Also: Wie geht's mit Deutschland - seinen Menschen und Landschaften - zukünftig weiter?
Oder sterben wir Deutsche - Demografie hin oder her - tatsächlich aus?
Anthrauzit sieht's aus, oder?
Viele Grüße aus Norddeutschland!
Bremer Butjer