… – daß das spanische Volk auf vorbildliche Weise den Übergang zur Demokratie vollzog, ebenfalls. Fast drei Jahrzehnte lang stand sie im Zeichen zweier Prinzipien: der gegenseitigen Vergebung und der Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition. Dabei handelte es sich keineswegs um ein Vergessen der Geschichte, sondern darum, sie zu überwinden und den Blick entschlossen auf die Zukunft zu richten. Die Annahme, daß sich im Laufe der Jahre Ruhe und Gelassenheit dauerhaft etabliert hätten, täuscht allerdings.
Anstatt zur Aussöhnung beizutragen, hat der amtierende Ministerpräsident José Luis Rodriguez Zapatero seit seiner Regierungsübernahme im Jahr 2004 den Kulturkampf bewußt angeheizt und die Wunden der Vergangenheit aufgerissen. Die Gründe für das aggressive Vorgehen der sozialistischen Regierung sind im wesentlichen politische. Sie will Signale in Richtung der Kommunisten und der extremen Linken senden, die seit Jahrzehnten versuchen, ihr Geschichtsbild durchzusetzen, und zugleich die konservative Rechte verteufeln, um sie dauerhaft von der Macht fernzuhalten. Mit Hilfe des maltesischen Abgeordneten Léo Brincat hat Zapatero am 17. März 2006 zunächst die Verabschiedung einer Empfehlung zur »Notwendigkeit, den Franquismus auf internationaler Ebene zu verurteilen«, durch den ständigen Ausschuß des Europarats erreicht. Im Anschluß daran legte er dem spanischen Parlament ein Gesetz zum »historischen Gedächtnis« vor, dessen Entwurf ursprünglich von der kommunistischen Izquierda Unida stammte.
Der Ausdruck »historisches Gedächtnis« ist mittlerweile zu einem Allgemeinplatz der spanischen Kultur geworden. Selbstverständlich ist das Bemühen um seinen Erhalt an sich nicht von Übel, jedoch darf es wiederum nicht als Vorwand dienen, daß sich die schlimmsten Sektierer das Recht anmaßen, die Geschichte zu beschlagnahmen oder zu manipulieren. Man darf die historische Rückbesinnung mit dem Ziel, den Haß erneut anzustacheln, nicht mit der historischen Rückbesinnung im Zeichen von Brüderlichkeit und Einvernehmen verwechseln. So berechtigt es ist, daß das besagte Gesetz vom 26. Dezember 2007 nun die Rechte derjenigen anerkennt und erweitert, die während des Bürgerkriegs und der Diktatur unter Verfolgungen oder Gewalt gelitten haben, verleiht es jedoch einem manichäischen Geschichtsbild Glaubwürdigkeit und widerspricht elementarsten Grundsätzen der Ethik. »Das Schlimme an dem vermeintlichen ›historischen Gedächtnis‹«, so der namhafte amerikanische Historiker Stanley Payne am 5. November 2008 bei einem Vortrag an der Universität von Madrid, »ist nicht die Verfälschung der Geschichte, sondern die politische Intention, der dadurch Rückhalt verliehen wird, die dahinterstehende Absicht, sozialen Aufruhr zu schüren.«
Eine der Grundideen des »Gesetzes zum historischen Gedächtnis« lautet, daß die spanische Demokratie ein von der Zweiten Republik gestiftetes Vermächtnis sei. Diese Interpretation ist nicht zuletzt deswegen fragwürdig, weil der Prozeß des Übergangs in seinem Verlauf vom Franco-Regime vorbereitet und überdies von einem König, den der Generalissimo ernannt hatte, und seinem Ministerpräsidenten, dem früheren Generalsekretär des Movimiento Nacional, gelenkt wurde. Für die Verfechter des »historischen Gedächtnisses« war die Zweite Republik, die aus linker Sicht den Gründungsmythos der spanischen Demokratie bildet, ein nahezu unfehlbares Regime. Diese absurde Geschichtsklitterung in Frage zu stellen, gilt zu allem Überfluß als ausdrückliche oder verdeckte Apologie des Faschismus.
Das Gesetz verformt die Wirklichkeit in vielerlei Weise. Es sorgt für eine törichte Gleichsetzung des Militärputsches mit dem Bürgerkrieg und dem Franco-Regime. Dabei handelt es sich um drei historische Fakten, die sorgfältig zu trennen und unterschiedlich zu bewerten und zu interpretieren sind. Es verherrlicht Opfer und Mörder, Unschuldige und Schuldige, solange sie dem Lager der Volksfront angehörten, und zwar alleine aufgrund der Tatsache, daß sie Linke waren. Es verwischt die Unterschiede zwischen Kriegstoten und Opfern der Unterdrückung. Es breitet den Schleier des Vergessens über sämtliche »republikanischen« Opfer, die von ihren linken Brüdern getötet wurden. Es fördert und rechtfertigt sämtliche Bemühungen, nachzuweisen, daß Franco während und nach dem Bürgerkrieg absichtlich und systematisch eine Politik der blutigen Unterdrückung betrieb. Es erkennt allerdings auch den legitimen Wunsch vieler Spanier an, herauszufinden, wo die Leichen ihrer Vorfahren liegen, verweigert ebendieses Recht aber denjenigen, die dem Lager der Nationalisten angehörten – unter dem fadenscheinigen Vorwand, sie hätten zu Zeiten des Franquismus jede Gelegenheit dazu gehabt.
Mit der Annahme des Gesetzes zum historischen Gedächtnis Ende 2007 und den vorausgegangenen Debatten wurde die Büchse der Pandora geöffnet. Bereits ein Jahr zuvor, am 15. Dezember 2006, hatten verschiedene Vereinigungen bei dem Ermittlungsrichter der Audiencia nacional, des Oberlandesgerichts für zentrale Belange, Baltasar Garzón, Klagen eingereicht »wegen illegaler Verhaftung im Rahmen eines systematischen Plans zur physischen Vernichtung des Gegners während des Bürgerkriegs (1936–1939) und der Nachkriegsjahre, auf den der juristische Tatbestand des Völkermords und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit zutrifft«.
In einer Verfügung, die sowohl der Logik der Rechtsprechung als auch jeglicher historischen Methodik widerspricht, nahm Garzón, der sich weltweit einen Namen gemacht hat, weil er einen Haftbefehl gegen Augusto Pinochet ausstellte, die Klagen an. Seiner Ansicht nach lastet die Schuld an den Grausamkeiten des Bürgerkriegs einzig und allein auf dem Franco-Lager. Damit wäre die Sache also geklärt! Die während der Zweiten Republik begangenen Verbrechen oder diejenigen der Volksfront brauchen dabei nicht berücksichtigt zu werden. Auch daß er eine Klage gegen den Kommunisten Santiago Carrillo abwies, einen der Hauptverantwortlichen für das Massaker von Paracuellos mit über viertausend Toten, und sich dabei auf eine genau gegensätzliche Argumentation und Rechtsauffassung stützte, möge ihm niemand zum Vorwurf machen.
Einer sektiererischen Logik verhaftet, hat Garzón nicht den Schatten eines Zweifels an seinen Überzeugungen. Seiner Ansicht nach setzten die Sieger Recht und Gesetz außer Kraft, indem sie gegen die Regierung der Republik putschten. Zudem hätten sie jahrzehntelang Zeit gehabt, die Opfer auf der eigenen Seite zu identifizieren und Wiedergutmachung zu verlangen. Da diese Möglichkeit dagegen für die Besiegten nie bestanden habe, seien die an ihnen begangenen Verbrechen bis heute nicht verjährt. Schlimmer noch, die »Rebellen« wollten ihre Gegner in systematischer Weise ausrotten, und deshalb »besteht kein Zweifel am Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, den die Normen des internationalen Strafrechts als unverjährbar definieren«.
Der Regreß, den der Oberstaatsanwalt Javier-Alberto Zaragoza Aguado umgehend gegen Garzóns Entscheidung einlegte, erregte leider weit weniger Aufsehen. Dabei ist sein Wortlaut eine Lektion in Sachen Rechtsprechung und eine Schmach für den Richter Garzón. Der Oberstaatsanwalt erläutert, warum die Definition der betreffenden Taten als Völkermord oder Vergehen gegen die Menschlichkeit in diesem Fall keine juristische Gültigkeit beanspruchen kann. Der Korpus der Normen, die das Internationale Strafrecht ausmachen, existierte zu der Zeit, als die fraglichen Taten begangen wurden, noch nicht; eine solche juristische Definition könne dementsprechend nicht nachträglich vorgenommen werden, ohne das gesamte Gebäude des Strafrechts in seinen Fundamenten zu erschüttern.
Garzón ließ sich davon nicht beirren, sondern verfaßte am 18. November 2008 eine neue Verfügung. Mit diesem weitschweifigen Text voller unsicherer Behauptungen und fragwürdiger Deutungen will der Richter sich rechtfertigen und »mit Nachdruck sämtliche Beweggründe bekräftigen, die ihn dazu bewogen haben, diese Anordnung als notwendig zu betrachten«. Nach 148 Seiten in diesem Ton erklärt er jedoch, die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Diktators Franco und der Amtsträger seines Regimes sei aufgrund ihres Todes eingeschränkt. Weiter heißt es, die Ermittlung bezüglich der vermißten Personen liege in der Zuständigkeit der Gerichte der jeweiligen Provinz, in der sich die Massengräber befänden, deren Öffnung er angeordnet hatte.
Darin lag ein neuerlicher juridischer Widerspruch, den die Vorsitzenden mehrerer oberster Provinzgerichte umgehend aufzeigten: Wieso sollen die Urheber der Verbrechen nur aus Madrider Sicht verstorben sein und nicht auch aus der Sicht der Gerichte in anderen Städten? Zwei Tage vor der Verfügung hatte der amerikanische Experte Payne der Presse gegenüber bereits sein Urteil gesprochen: »Die Vorstellung, daß ein Richter sich für die Annullierung des demokratischen Übergangs und des Gesetzes aussprechen könnte, ist vollkommen grotesk.«
Von der Warte der Geschichtsschreibung betrachtet sind Garzóns Verfügungen nicht weniger anfechtbar. Der Militärputsch vom Juli 1936 war nicht die Ursache für die Zerstörung der Demokratie. Daß es überhaupt zu einem Putsch kam, lag daran, daß die demokratische Rechtsordnung bereits durch die Volksfront zerstört war. 1931, 1932 und 1933 kam es zu anarchistischen Revolten. Im Oktober 1934 putschten die Sozialisten gegen die Regierung des Radikalen Alejandro Lerroux. Dieser Putsch, den sämtliche linken Parteien unterstützten, sollte mit Hilfe eines Bürgerkriegs die Diktatur des Proletariats herbeiführen. Vom Zeitpunkt ihrer Machtübernahme an arbeitete die Volksfront unermüdlich an der Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit. Das Ergebnis der Wahlen vom Februar 1936 wurde niemals veröffentlicht. Mehr als dreißig Sitze der Rechten wurden für ungültig erklärt. Der Präsident der Republik, Niceto Alcalá Zamora, wurde in einem illegalen Verfahren abgesetzt. Auf den Straßen herrschte der Terror, der innerhalb von drei Monaten über dreihundert Menschenleben forderte.
Baltasar Garzóns Vorgehen ist unverhohlen parteiisch. Stellen wir uns jedoch einmal vor, der telegene Richter fände Nachahmer auf der Rechten. Welche Grundsätze ließen sich dann anführen, um sie daran zu hindern, Verfahren einzuleiten gegen die Verantwortlichen für die Untaten der zweihundert Tschekisten in Madrid; für die Massengräber in Paracuellos, Torrejón, Ardoz und Usera; für den Mord an Garcia Lorca einerseits und die Morde an Muñoz Seca, Maeztu, Ledesma und Pradera andererseits; für die republikanischen Massaker von Malaga und das Modellgefängnis in Madrid; für die Tötung von fast siebentausend Gläubigen und zwölf Bischöfen; für die Bombardierung von Cabra (über einhundert tote und zweihundert verwundete Zivilisten) unter genauso barbarischen Umständen wie in Guernica (zwischen 126 und 1.635 Tote, je nachdem welchen Quellen man vertraut); für die unrechtmäßige Verhaftung von José Antonio Primo de Rivera vier Monate vor dem Putsch und seine Ermordung (im November 1936) nach einem Schauprozeß; für die Vergeltungsakte von André Marty, dem Schlächter von Albacete, der den Tod von mehr als fünfhundert Mitgliedern der Internationalen Brigade auf dem Gewissen hatte; für die Ermordung des Anarchistenführers Buenaventura Durruti durch die Kommunisten; für das Verschwinden des Führers der trotzkistischen POUM-Miliz, Andreu Nin, der von den Stalinisten zu Tode gefoltert wurde; für die Säuberungsaktionen vom Mai 1937 in Barcelona gegen kommunistische Dissidenten; für die Standgerichte vom März 1939 in Madrid als Begleiterscheinung des kleinen Bürgerkriegs, der sich inmitten des großen innerhalb des Volksfront-Lagers abspielte; für den Raub der Goldreserven der spanischen Zentralbank durch Moskau; für die Tausende von Kindern, die von den republikanischen Machthabern in die Sowjetunion zwangsevakuiert wurden und so für immer ihre Identität verloren … und für unzählige weitere Beispiele?
Kommen wir schließlich zum Kern der gegenwärtigen Kontroverse: den Opferzahlen und der Existenz von Massengräbern mit bislang nicht identifizierten Toten. Im Laufe der vergangenen siebzig Jahre schwankten die Zahlen in geradezu absurder Weise. Baltasar Garzón spricht heute von 114.266 Opfern auf republikanischer Seite, »eine Zahl, die von einer Expertenkommission revidiert werden könnte«, wie er sagt. Kann man jedoch einem Richter Glauben schenken, der nie einen einzigen Experten oder Historiker der Gegenseite zitiert? In den meisten der Veröffentlichungen, auf die Garzón sich beruft, gründet sich die Voreingenommenheit der Autoren häufig auf ungefähre Schätzungen und der Fantasie entsprungene Zeugenaussagen. Wenn darin Zahlenverhältnisse aufgestellt werden, werden immer wieder die Kriegsgefallenen des nationalen Lagers zu Opfern der franquistischen Unterdrückung umfunktioniert. Folglich ist die endgültige Bilanz weder aus moralischer noch aus juridischer oder politischer Sicht akzeptabel.
Ein Beispiel genügt, um die Tragweite der gefährlichen Leidenschaften aufzuzeigen, die der Leichtsinn der politischen und medialen Meinungsmacher in der Bevölkerung entfesselt. Am 5. März 2008 ging die Entdeckung neuer Massengräber bei Alcala de Henares durch sämtliche Presseagenturen. Die spanische Regierung insinuierte, daß es sich um neue Opfer des Franquismus handle. Als einige Experten darauf hinwiesen, daß diese Stadt bis zum Ende des Konflikts von der Volksfront kontrolliert wurde und es demzufolge wenig wahrscheinlich sei, daß die Opfer aus dem republikanischen Lager stammten, verschwand die Angelegenheit plötzlich aus den Schlagzeilen.
Eine mit der gebotenen Gründlichkeit durchgeführte Zählung jener Toten, die auf beiden Seiten noch nicht in die Sterberegister eingetragen worden sind, steht aus. Man kann jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von folgenden Opferzahlen ausgehen: sechzigtausend auf nationaler, achtzigtausend auf republikanischer Seite (davon fünfzigtausend während des Krieges und dreißigtausend nach Kriegsende Hingerichtete). Angesichts dieser Größenordnung sind keine Übertreibungen notwendig, um die Intensität der Leidenschaften und das Ausmaß der Massaker in beiden Lagern zu verdeutlichen. Dennoch droht der von verantwortungslosen Politikern geschürte ideologische Krieg sich auszuweiten.