Das Wagnis, anders zu denken als die andern (Fundstücke 1)

Eugène Ionesco hat mich als Schriftsteller nie besonders interessiert.  Seine Nashörner zählen freilich zu den großen, ewig aktuellen Parabeln des unseligen 20. Jahrhunderts.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Einen ein­zel­gän­ge­ri­schen, kom­pli­zier­ten Autor wie Ionesco kann man kaum auf einen Nen­ner brin­gen. Aber als mir vor eini­ger Zeit ein Sam­mel­band mit poli­ti­schen Essays Ionescos in die Hän­de fiel, war ich über­rascht, einen über wei­te Stre­cken “rechts­las­ti­gen” Autor vor­zu­fin­den, der in den Sech­zi­ger und Sieb­zi­ger Jah­ren in der kon­ser­va­ti­ven Tages­zei­tung Le Figa­ro scharf anti­kom­mu­nis­ti­sche und anti­so­zia­lis­ti­sche Posi­tio­nen ein­nahm. Auch sonst ging er mit der Lin­ken die­ser Zeit hart ins Gericht.

In der Bewe­gung von 1968 sah er bloß einen wei­te­ren epi­de­mi­schen Aus­bruch der  “Nas­hor­ni­tis”, der er zuerst im Rumä­ni­en der Drei­ßi­ger Jah­re in Form des Faschis­mus der “Eiser­nen Gar­de” begeg­net war.  Er ver­glich Che Gue­va­ra mit Cor­ne­liu Cod­re­a­nu, und sah eine Wie­der­kehr des faschis­ti­schen Kul­tes der Gewalt.

Ich sah eine Foto­gra­fie von Gue­va­ra mit dem Gewehr in der Hand und begriff, daß man in Gue­va­ra zuerst den Mann mit dem Gewehr sah, und daß man ihn des­we­gen liebte.

In Fran­cos Sieg sah er das klei­ne­re Übel gegen­über einem kom­mu­nis­ti­schen Spa­ni­en und aus ähn­li­chen Grün­den ergriff er für Nixon und den Viet­nam­krieg Par­tei, wie ihm über­haupt der west­li­che, US-ame­ri­ka­ni­sche Libe­ra­lis­mus bei aller Kri­tik bei­nah als eine Art Kat­echon gegen den roten Tota­li­ta­ris­mus erschien. Jeden­falls erschien ihm Nixons Außen­po­li­tik als weni­ger ver­ach­tens­wert als die lin­ke Intel­le­gen­zi­ja sei­ner Zeit, die in sei­nen Augen die fri­vo­le fünf­te Kolon­ne des Gulag-Impe­ri­ums spielte.

Betrach­te ich die Pari­ser “Intel­li­genz”, Theo­re­ti­ker, Jour­na­lis­ten, die zum Teil rechts stan­den, als es vor dem letz­ten Krie­ge zum guten Ton gehör­te, gefahr­los rechts zu sein, wie es heu­te zum guten Ton gehört und Mode ist, links zu sein, gefahr­los natür­lich, wenn ich beob­ach­te, wie sie die Leu­te, die ande­rer Mei­nung sind als sie, bei­sei­te­schie­ben, aus­chlie­ßen, beschimp­fen, wie sich wei­gern, mit ihnen zu dis­ku­tie­ren und ihre Argu­men­te, ihre Ideen in Erwä­gung zu zie­hen, wenn ich all das sehe, dann ver­lockt mich ein Dämon, den ich von mir wei­se, zu wün­schen, die west­li­chen Ver­wal­tungs­rä­te in den Kul­tur­mi­nis­te­ri­en hät­ten mehr Macht. (1973)

An ande­rer Stel­le schrieb er gar:

Ich habe meh­re­re Freun­de oder Ex-Freun­de, die zur Lin­ken gehö­ren.  Ich kann sie nicht mehr ertra­gen. 1940 waren sie rechts. Sie waren Kämp­fer, kämp­fen auch heu­te, aber auf der ande­ren Sei­te. Ich sage zu ihnen: “1940 hät­tet ihr links sein sol­len, heu­te müß­tet ihr rechts sein.” Selbst­ver­ständ­lich mar­schie­ren sie lie­ber mit der Geschichte.

Sein Cre­do for­mu­lier­te Ionesco in dem Essay Das Wag­nis, anders zu den­ken als die andern, aus dem ich nun aus­führ­lich zitie­ren möchte.

Nicht so zu den­ken wie die andern, kann einen in eine sehr unan­ge­neh­me Lage brin­gen. Anders den­ken als die andern, bedeu­tet ganz ein­fach, über­haupt zu den­ken. Die andern, die zu den­ken mei­nen, über­neh­men in Wahr­heit gedan­ken­los gän­gi­ge Slo­gans, oder aber sie sind Opfer von ver­zeh­ren­den Lei­den­schaf­ten, die sie nicht ana­ly­sie­ren wollen.

War­um wei­gern sich die­se andern, die Sys­te­me von Kli­schees, die Kris­tal­li­sa­tio­nen von Kli­schees, aus denen ihre fix und fer­ti­ge Kri­tik besteht, wie Kon­fek­ti­ons­klei­dung aus­ein­an­der­zu­neh­men? In ers­ter Linie natür­lich, weil die gän­gi­gen Ideen ihren Inter­es­sen oder Impul­sen dien­lich sind, und weil dies ihr Gewis­sen beru­higt und ihr Han­deln recht­fer­tigt. Wir alle wis­sen, daß man im Namen einer “edlen, hoch­her­zi­gen Sache” die abscheu­lichs­ten Ver­bre­chen bege­hen kann. Auch gibt es sehr vie­le, die ein­fach nicht den Mut haben, auf Aller­welts­ideen und all­ge­mein übli­che Reak­tio­nen zu ver­zich­ten. Das ist umso ärger­li­cher, als bei­na­he immer der Ein­zel­gän­ger recht hat.  Aber wie schnell wird aus einer Min­der­heit die Mehr­heit. Und sobald aus “Weni­gen” “Vie­le” gewor­den sind, denen man blind folgt, ist der Moment gekom­men, wo die Wahr­heit ver­fälscht ist.

(…)

Aber wer sind “die andern”? Bin ich allein? Gibt es Einzelgänger?

Tat­säch­lich sind die­se andern Leu­te unse­re Umwelt. Die­se Umwelt kann eine Min­der­heit bil­den, die uns vor­kommt wie alle Welt. Wer nun inmit­ten die­ser “Min­der­heit” lebt und nicht so denkt wie sie, auf den übt die­se “Min­der­heit” einen dra­ma­ti­schen intel­lek­tu­el­len und gefühls­mä­ßi­gen Ter­ror, einen nahe­zu uner­träg­li­chen Druck aus… Oft, wenn ich mit dem “Jeder­mann” mei­ner begrenz­ten Umwelt brach, traf ich zahl­rei­che Ein­zel­gän­ger aus der mit Recht so genann­ten schwei­gen­den Mehr­heit. Es ist sehr schwie­rig zu erken­nen, wo sich die Min­der­heit und  wo die Mehr­heit befin­det, schwie­rig auch zu wis­sen, ob man vor­ne steht oder hinten.

Spä­tes­tens hier taucht für Ionesco ein Dilem­ma auf:

Wir sind also nicht allein. Ich sage das, um die Ein­zel­gän­ger zu ermu­ti­gen, das heißt all jene, die sich in ihrer Umwelt ver­lo­ren füh­len.  Aber wenn es sovie­le Ein­zel­gän­ger gibt, viel­leicht sogar eine Mehr­heit von Ein­zel­gän­gern, hat die­se Mehr­heit dann noch immer recht? Mir schwin­delt bei dem Gedanken.

Als ein­zi­gen Aus­weg sieht Ionesco den Rück­zug auf den “fuß­breit fes­ten grunds”, wie Geor­ge sagen wür­de, des Subjektivismus:

Heu­te habe ich kei­ne Angst mehr. Nichts kann mich zwei­feln las­sen an dem, was ich glau­be, was ich füh­le, was ich im Inners­ten zu glau­ben wün­sche. Ich glau­be nicht mehr an die “Objek­ti­vi­tät” der Wis­sen­schaft. Alles ist nur Inter­pre­ta­ti­on. Ich glau­be viel­mehr, die Objek­ti­vi­tät ruht in der tiefs­ten Tie­fe mei­ner Subjektivität.

Glau­ben Sie mir, mei­ne Leser, sei­en Sie ruhig, jeder von Ihnen hat recht. Unrecht haben die andern. Immer. Unter einer Bedin­gung: Glau­ben Sie nicht, Sie sei­en der and­re. Miß­trau­en Sie den Behaup­tun­gen der andern. Stel­len Sie alles in Fra­ge. Sei­en Sie Sie selbst. Hören Sie auf kei­nen ein­zi­gen Rat: außer auf diesen.

Die­se Zita­te schei­nen mir glei­cher­ma­ßen alle Vor­zü­ge und Fall­stri­cke des geis­ti­gen “Ein­zel­gän­ger­tums” zu beinhal­ten.  Der Wider­spruch wird sich nur – wie immer –  in einer Hier­ar­chi­sie­rung, einem Para­do­xon auf­lö­sen las­sen. Wie aber wäre die­ses Para­do­xon zu formulieren?

Alle Zita­te aus: Eugè­ne Ionesco: Gegen­gif­te. Arti­kel, Auf­sät­ze, Pole­mi­ken (1979).

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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