… mit allen anderen Scheltern (also: CDU/ FDP- Parteigrößen und ergebene Journalisten) in einem Boot sitzen will: Das allein wäre purer Affekt. Klar ist immerhin – Teile der SPD wollen sich wahltaktisch an die Linkspartei und ihre Klientel anbiedern. Und ebenso wahltaktisch feuern im Tone höchster Empörung die Granden anderer Parteien dagegen. Ein bißchen Kalter-Krieg-Spiel treibt das Wahlvolk immer noch ganz gut an. Erik Lehnert warnte hier genau wie andere Kritiker der Äußerungen Sellerings vor einer Relativierung des SED-Staats. Motto: „Autobahn geht gar nicht!” Aber „was geht” eigentlich wo?
Die kritisierten Äußerungen des (westgeborenen) mecklenburgischen Ministerpräsidenten Erwin Sellering verdichten sich in dem einen (harmlosen oder verharmlosenden?) Satz: „Es war ja nicht so, daß ein idealer Staat auf einen verdammenswerten Unrechtsstaat traf.” Sellering und seine Verteidiger (ausführlich etwa Friedrich Schorlemmer im Neuen Deutschland) verschweigen oder beschönigen nicht das Totalitäre am DDR-System. Die Anklage, etwas „schönreden” (hier: das Gesundheitssystem und Teile des Sozialsystems) zu wollen, ist eine Totschlagvokabel. Sie bedient das Relativierungsverbot.
Wir kennen das bereits aus Zusammenhängen, für deren Wirkmechanismus Martin Walser einmal eine neue Waffengattung erfand: die Auschwitzkeule. Wir kennen diese Automatismen, dieses mediale Zusammenzucken aus Debatten ums Schächtungsverbot, um Familienwerte, ja, um Autobahnen. Das ist Schwarzweiß-Denken: Was auch immer im Rahmen einer Diktatur befördert wurde (ob Mütterlichkeit hier, Polikliniken da) ist schwarz. Ist alles andere deshalb hell & licht?
Lehnert geißelt das DDR-Bildungssystem, da es vor allem die Aufgabe hatte, seine Bürger so zu erziehen, daß der Staat nicht gezwungen war einzugreifen. Und: wer sich nicht an die ideologischen Vorgaben der Regierung halten wollte, dem sei ein totaler Unrechtsstaat gegenübergetreten. Wie sieht´s denn diesbezüglich ( also apropos Erziehung in staatlichen Schulen und Verfassungsschutz) in der BRD aus? Thorsten Hinz schrieb mal in der Jungen Freiheit, daß nach 1945 Ost und West als „Musterschüler ihrer jeweiligen Vormächte” reüssierten, der sie „die jeweilige geschichtsphilosophische Legitimität zubilligten”. So ist es wohl. Und eine „gewisse Abgestumpftheit” (Lehnert zur Nieschenexistenz) gehört auch heute dazu, sich gesellschaftlich so richtig wohlzufühlen.
In der Welt hält man Sellering außerdem vor, zu verkennen, “daß jede noch so kleine ‘Errungenschaft’ politisch motiviert war und die ohnehin ineffiziente DDR-Wirtschaft über die Maßen belastete.” Schauen wir auch diesbezüglich auf die ganz-und-gar-heutige BRD, auf Krippenoffensiven und Abwrackprämien – und relativieren wir. Relativieren heißt: in Beziehung setzen.
Bildquelle: jurek d.
Christian Lehmann
Ich stimme Ellen Kositza zu: Wer Sellerings Aussage kritisiert, muß sich fragen lassen: Erfüllt denn die BRD die Kriterien des "idealen" Rechtsstaats - oder, historisch korrekter gefragt: erfüllte sie diese vor der Wiedervereinigung? Wenn nicht, was unterschied BRD und DDR dennoch grundlegend? Ich denke, hier wäre in erster Linie die Reisefreiheit zu nennen. Differenzierter steht es wohl um die Freiheit der Meinungsäußerung. Dieses Grundrecht wurde wahrscheinlich in den 70er und frühen 80er Jahren der Bonner Republik am großzügigsten ausgelegt.
Dennoch ist die Kritik an der Causa Sellering nötig. Denn dieser Fall zeigt exemplarisch: Die Relativierung der roten Diktaturen ruft zwar Widerspruch hervor (und das gehört zu einer pluralistischen Gesellschaft), ist aber gesellschaftsfähig. Das In-Beziehung-Setzen der braunen Diktatur hingegen überlebt kein Politiker. Dabei könnte man z.B. historisch sachlich auflisten, welche noch heute oder noch bis vor kurzem gültigen Gesetze (Heilpraktikergesetz, Namensänderungsgesetz, Hebammengesetz, Schornsteinfegergesetz), welche Industrienormen und vieles mehr auf das Dritte Reich zurückgehen. Man könnte auch diskutieren, ob das Dritte Reich oder die DDR einen tieferen Einschnitt in der bürgerlichen Gesellschaftsordnung verursacht haben. - Doch all dies ist aufgrund des Dogmas von der Singularität des NS-Unrechts nicht möglich.
Solange dieses Tabu herrscht, müssen wir immer wieder fragen: Warum und mit welcher Intention sagt ein Sellering dies und behält seinen Job - und warum sagt eine Eva Herman oder ein Martin Hohmann das und verliert ihren/seinen Job? Dieses Mißverhältnis gilt es aufzuzeigen und die dialektischen Fallenstellungen waidgerecht zu "dekonstruieren" - um eine postmoderne Lieblingsvokabel zu verwenden.