Betrachtungen über die Revolution in Nordafrika

pdf der Druckfassung aus Sezession 41 / April 2011

von Manfred Kleine-Hartlage

Zu den herausragenden Kennzeichen des homo liberalis gehört die Unfähigkeit, sich vorzustellen, daß sein Weltbild auf dem Boden einer bestimmten, nämlich der europäischen Kultur gewachsen sein könnte; dass mithin Angehörige fremder Kulturen selbst dann anderen Werten anhängen könnten als er selbst, wenn sie dasselbe Vokabular benutzen. Die Reaktion der veröffentlichten Meinung auf die Umstürze in der arabischen Welt liefert dafür treffliches Anschauungsmaterial.

So ist der Kampf der Tune­si­er, Liby­er und Ägyp­ter gegen die auto­kra­ti­schen Regime ihrer Län­der ohne Zwei­fel ein Kampf um Selbst­be­stim­mung. Selbst­be­stim­mung heißt, ent­spre­chend den eige­nen Wün­schen, Zie­len und Wer­ten zu leben; die­se müs­sen aber nicht iden­tisch mit dem sein, was wir in Euro­pa »Demo­kra­tie« nen­nen, erst recht nicht mit dem, was wir »Frei­heit« nen­nen. In einem isla­mi­schen Land kann Selbst­be­stim­mung durch­aus auch dar­in bestehen, ent­spre­chend den Geset­zen der Scha­ria zu leben.
West­lich gepräg­ten Men­schen ist der Drei­klang von (indi­vi­du­el­ler) Frei­heit, Demo­kra­tie und Rechts­staat­lich­keit so in Fleisch und Blut über­ge­gan­gen, daß sie bei Nen­nung eines die­ser Begrif­fe die bei­den ande­ren unaus­ge­spro­chen mit meinen.
Für Mus­li­me ist ein Rechts­staat ein Staat, der das Recht durch­setzt; das Recht aber steht, da von Allah gege­ben, nicht zur Dis­po­si­ti­on des Gesetz­ge­bers, auch nicht des gewähl­ten. Dem­ge­mäß bedeu­tet Demo­kra­tie auch nicht, daß um Lösungs­al­ter­na­ti­ven gerun­gen, son­dern höchs­tens, daß die Regie­rung gewählt wird; und Frei­heit ist ein Attri­but des Kol­lek­tivs, nicht des Indi­vi­du­ums: die Frei­heit der isla­mi­schen Gemein­schaft von nicht- und unis­la­mi­scher Herr­schaft. Für den Ein­zel­nen ist sie die Frei­heit, ein Allah gefäl­li­ges Leben zu füh­ren, das nicht durch west­lich gepräg­te Ver­su­chun­gen und Zwän­ge kom­pro­mit­tiert wird.
So gese­hen, ist es nicht ein­fach Heu­che­lei, wenn etwa die Füh­rer der Mus­lim­bru­der­schaft ver­si­chern, sich am Auf­bau eines demo­kra­ti­schen Staa­tes betei­li­gen zu wol­len. Sie mei­nen damit nur etwas ande­res als wir, und selbst­ver­ständ­lich wis­sen sie, daß west­li­che Jour­na­lis­ten den Unter­schied ver­ken­nen, weil sie auf zwei Dog­men fixiert sind, die in einem isla­mi­schen Kon­text kei­ne Rol­le spie­len: zum einen auf das Dog­ma, Poli­tik sei pri­mär eine Ange­le­gen­heit des Staa­tes: Dar­in spie­gelt sich die als Selbst­ver­ständ­lich­keit ver­in­ner­lich­te Säku­la­ri­sie­rung wider; zum ande­ren auf die Vor­stel­lung, eine legi­ti­me, gute, gerech­te Ord­nung sei eine Fra­ge abs­trak­ter und for­ma­ler Regeln – Demo­kra­tie ver­sus Mon­ar­chie, Kapi­ta­lis­mus ver­sus Sozia­lis­mus, Rechts­staat ver­sus tota­li­tä­re Herr­schaft etc.
Dem Islam und der auf ihm beru­hen­den Kul­tur sind bei­de Ideen fremd; er bean­sprucht, das Gesamt­ge­fü­ge der Gesell­schaft zu regeln. Eine Gesell­schaft ist »gut«, wenn sie nach den Nor­men der Scha­ria funk­tio­niert, egal ob die­se durch staat­li­che Gesetz­ge­bung oder sozia­len Zwang durch­ge­setzt wer­den. Herr­schaft ist legi­tim, wenn sie inhalt­lich den isla­mi­schen Nor­men ent­spricht, egal ob der Herr­scher gewählt ist oder nicht.
Eine Gesell­schaft unter­liegt der Scha­ria, wenn sie fak­tisch von die­sen Nor­men beherrscht wird, wenn Chris­ten fak­tisch Men­schen min­de­ren Rechts sind, wenn fak­tisch nie­mand mehr vom Islam abfal­len oder auch nur ein Glas Wein trin­ken, wenn fak­tisch kei­ne Frau mehr unver­schlei­ert aus dem Haus gehen kann. Auf dem gedul­di­gen Papier der Ver­fas­sung mag dann ste­hen, was will.
Dies ist nicht etwa graue Theo­rie: Die galop­pie­ren­de Re-Isla­mi­sie­rung der Tür­kei voll­zieht sich direkt aus der Gesell­schaft her­aus; der Staat beschränkt sich unter der Regie­rung der Isla­mis­ten im Wesent­li­chen dar­auf, die Hin­der­nis­se zu besei­ti­gen, die der gesell­schaft­li­chen Selbst-Isla­mi­sie­rung im Wege ste­hen. Was sich durch die Bril­le libe­ra­ler west­li­cher Jour­na­lis­ten als »Demo­kra­ti­sie­rung« und »Libe­ra­li­sie­rung« aus­nimmt – etwa die Zurück­drän­gung des Mili­tärs – gehört zur Stra­te­gie eines Isla­mis­mus 2.0, die von der Mus­lim­bru­der­schaft vor­aus­sicht­lich kopiert wer­den wird.

Frei­lich: Die ägyp­ti­sche Gesell­schaft besteht nicht nur aus der Mus­lim­bru­der­schaft, die ara­bi­schen Völ­ker nicht nur aus Isla­mis­ten. Und was ist mit den Ange­hö­ri­gen der »Gene­ra­ti­on Face­book«, die sich in den Pro­tes­ten der letz­ten Wochen so deut­lich zu Wort gemel­det hat, und die doch (schein­bar? anschei­nend?) einem west­li­chen Lebens­stil zuneigt? Nun, es ist eine Bin­sen­weis­heit, daß Revo­lu­tio­nen sel­ten von denen voll­endet wer­den, die sie begon­nen haben. Am Ende setzt sich der durch, der die zug­kräf­ti­ge­ren Paro­len hat, und es gibt kei­nen Hin­weis dar­auf, daß Abs­trak­ta wie »Frei­heit und Demo­kra­tie«, die in die­sen Län­dern nicht ein­mal als Paro­len ver­wur­zelt sind, geschwei­ge denn als geleb­te Wirk­lich­keit, sich gegen die For­de­run­gen eines poli­ti­schen Islam durch­set­zen kön­nen, der an tief­ver­wur­zel­te Ide­al­vor­stel­lun­gen von einer guten und gerech­ten Gesell­schaft appel­lie­ren kann.
Für die jun­gen Leu­te dort ist der Wes­ten zudem eine eher mate­ri­el­le als ideel­le Ver­hei­ßung. Kei­ne Fra­ge: Euro­pa ist das Land ihrer Träu­me, aber nicht wegen sei­ner »Wer­te« – die aus isla­mi­scher Sicht kei­ne sind –, son­dern weil man dort bes­ser lebt. Es wäre aus ihrer Sicht wider­sin­nig, Euro­pa gleich­sam als Kon­zept zu impor­tie­ren. Näher­lie­gend ist, ein­fach dort­hin aus­zu­wan­dern; eben dies erle­ben wir zur Zeit. Und selbst denen, die vor der Enge und dem Druck mus­li­mi­scher Gesell­schaf­ten und auf der Suche nach Ent­fal­tungs­chan­cen nach Euro­pa flie­hen, wird der Kul­tur­schock nicht erspart blei­ben. Alle Erfah­rung zeigt, daß die Sehn­sucht nach Ver­tie­fung der mus­li­mi­schen Iden­ti­tät durch das Leben im Wes­ten eher gestärkt als geschwächt wird.
Womit wir bei der zwei­ten, der inter­na­tio­na­len Dimen­si­on des Isla­mis­mus 2.0 wären: Die Mus­lim­bru­der­schaft ver­folgt schon lan­ge beharr­lich und kon­se­quent das Ziel, die mus­li­mi­schen Migran­ten­ge­mein­den in Euro­pa als Speer­spit­ze und Brü­cken­kopf der Isla­mi­sie­rung des Kon­ti­nents auszubauen.
Wie­der­um etwas, was der homo libe­ra­lis in sei­nem noto­ri­schen Unver­ständ­nis für den tie­fen reli­giö­sen Ernst der Isla­mis­ten nicht glau­ben kann und nicht wahr­ha­ben will: Es geht ihnen nicht ein­fach dar­um, die Ver­hält­nis­se in einem Land, etwa Ägyp­ten oder der Tür­kei, umzu­krem­peln. Sie sind nicht ein­fach eine poli­ti­sche Bewe­gung, die sich nach Art der deut­schen C‑Parteien ein reli­giö­ses Män­tel­chen bloß umhän­gen wür­de. Sie wol­len, daß die Welt dem Gesetz Allahs gehorcht. Sie sind, wenn man so will, kei­ne Sta­li­nis­ten, son­dern Trotz­kis­ten: Sie wol­len die Weltrevolution.
Die Mus­lim­brü­der ver­trau­en eben­so wie die tür­ki­sche AKP dar­auf, und dies aus guten Grün­den, daß das Wachs­tum der mus­li­mi­schen Gemein­den im Wes­ten bei ent­spre­chen­der Betreu­ung und Beglei­tung ganz von allei­ne zur Isla­mi­sie­rung des euro­päi­schen Kon­ti­nents füh­ren wird, und zwar unab­hän­gig davon, ob die ein­zel­nen Migran­ten per­sön­lich beson­ders fromm sind oder nicht: Ent­schei­dend ist, daß die­se Gesell­schaf­ten Par­al­lelgesell­schaf­ten sind und blei­ben; dann bleibt der Islam ganz von selbst die Leit­idee zuerst die­ser Gesell­schaf­ten, schließ­lich auch der altern­den Mehr­heits­völ­ker, die nach und nach zu Min­der­hei­ten werden.

Die tür­ki­schen Isla­mis­ten machen vor, wie man mit den Illu­sio­nen west­li­cher Libe­ra­ler spielt: Die »Libe­ra­li­sie­rung « und »Demo­kra­ti­sie­rung« der Tür­kei dient nicht nur deren eige­ner Isla­mi­sie­rung, son­dern auch der Euro­pas: Sie soll der Tür­kei, also vor allem tür­ki­schen Migran­ten, den Weg in die EU ebnen; daß sie oben­drein EU-Gel­der in die Tür­kei lei­tet, ist ein will­kom­me­ner Nebeneffekt.
Die Poli­tik der Isla­mis­ten, Euro­pa für Migran­ten zu öff­nen, finan­zi­el­le Hil­fe von der EU zu kas­sie­ren, den Staat aus der Gesell­schaft hin­aus­zu­drän­gen, ent­spricht auch den Wün­schen des libe­ra­len Flü­gels der Oppo­si­ti­on, etwa des eher links­ge­rich­te­ten tune­si­schen Oppo­si­ti­ons­po­li­ti­kers Mon­cef Marz­ou­ki, der bei sei­ner Rück­kehr aus dem Exil sag­te: »Unser Platz ist der euro-medi­ter­ra­ne Raum. Für den Wes­ten ist es ein­fa­cher, mit Demo­kra­ten zu kooperieren.«
Ob es »ein­fa­cher« ist, steht auf einem ande­ren Blatt; für euro­päi­sche Poli­ti­ker war die Koope­ra­ti­on mit Dik­ta­to­ren bequem genug, sogar Gad­da­fi bis vor weni­gen Wochen die Stan­ge zu halten.
Rich­tig ist aber, daß es unter west­li­chen Eli­ten die Nei­gung gibt, die Ver­brei­tung von »Frei­heit und Demo­kra­tie « als obers­tes poli­ti­sches Ziel zu pro­kla­mie­ren, und zwar auf Kos­ten der Inter­es­sen ihrer eige­nen Völ­ker. Dies ist der Hin­ter­grund, wenn zum Bei­spiel der für Inte­gra­ti­on und Nach­bar­schafts­po­li­tik zustän­di­ge tsche­chi­sche EU-Kom­mis­sar Šte­fan Füle Euro­pa zur »Demut« auf­for­dert, weil es »die demo­kra­ti­schen Kräf­te der Regi­on nicht laut­stark genug unter­stützt« habe; den auf­be­geh­ren­den Völ­kern beschei­nigt, »im Namen unse­rer gemein­sam geteil­ten Wer­te« zu kämp­fen; dar­an die For­de­rung knüpft, unge­ach­tet der Sor­gen über wach­sen­de Migra­ti­on und stär­ke­re »Sicht­bar­keit« von Isla­mis­ten, »die­se Risi­ken (zu) über­ste­hen, ohne unser gemein­sa­mes lang­fris­ti­ges Ziel aus den Augen zu ver­lie­ren: ein demo­kra­ti­sches, sta­bi­les, wohl­ha­ben­des und fried­li­ches Nord­afri­ka«; und zu die­sem Zweck den Zustrom von Arbeits­mi­gran­ten aus Nord­afri­ka noch zu erleich­tern und zu för­dern ankündigt.
Selbst­ver­ständ­lich erwähnt er nicht, daß zu den »Risi­ken«, die wir zu »bestehen« haben, unter ande­rem gehört, daß wir am Ende womög­lich kein »demo­kra­ti­sches, sta­bi­les, wohl­ha­ben­des und fried­li­ches Nord­afri­ka « haben wer­den, in jedem Fal­le aber ein rui­nier­tes Euro­pa. Wie in einem Lehr­buch über glo­ba­lis­ti­sche Ideo­lo­gie führt Füle uns vor, wie ein uto­pi­scher, also ein buch­stäb­lich unver­or­te­ter Libe­ra­lis­mus – der bloß »gemein­sam geteil­te Wer­te« kennt, aber kei­ne Völ­ker mit Inter­es­sen, einer bestimm­ten Kul­tur und einer bestimm­ten Geschich­te –, wie also ein sol­cher Libe­ra­lis­mus die Zer­stö­rung gan­zer Völ­ker und Kul­tu­ren for­ciert. Im Kon­text die­ser Ideo­lo­gie kann sich die Fra­ge gar nicht stel­len, war­um die Demo­kra­tie in Nord­afri­ka uns wich­ti­ger sein soll als die Exis­tenz der Völ­ker Europas.
»Demo­kra­tie«, oder viel­mehr etwas, was man als sol­che ver­kau­fen kann, wird es als Fol­ge der Revo­lu­ti­on in Nord­afri­ka wahr­schein­lich geben; die Schleu­sen für Migra­ti­ons­strö­me von dort nach Euro­pa und für Finanz­strö­me in umge­kehr­ter Rich­tung wer­den geöff­net wer­den; die bis­her schlei­chen­de Isla­mi­sie­rung Euro­pas wird ein unge­ahn­tes Tem­po auf­neh­men. Dies alles wird gesche­hen, weil die ent­schei­den­den Akteu­re – die EUE­li­ten, die Isla­mis­ten, die nord­afri­ka­ni­schen Staa­ten und ihre Völ­ker – ein Inter­es­se dar­an haben. Die Völ­ker Euro­pas, bestehend aus fast 500 Mil­lio­nen Men­schen, haben kein Inter­es­se dar­an. Aber nie­mand wird sie fragen.

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