Nicht minder beknirscht als seine Gesinnungsfreunde aus Hamburg gab sich Stefan Kornelius, Außenpolitik-Chef der Süddeutschen Zeitung: »Es endet der Versuch, die nach dem Kalten Krieg erworbene Dominanz aufrechtzuerhalten. Es beginnt eine neue Phase, in der Demut und Selbstbegrenzung geboten sind. Und im Mittelpunkt steht die Erkenntnis, daß sich Demokratie und Freiheit nicht von außen erzwingen oder erkaufen lassen – sie müssen von innen gewollt sein.« Auch das waren völlig neue Töne. Bislang nämlich galten den liberalen Parteigängern der USA das Selbstbestimmungsrecht der Völker sowie die ebenfalls in der UN-Charta verankerten Prinzipien der nationalen Souveränität und der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten als lästige Petitessen, wenn es darum ging, andere Nationen zu beglücken und bei ihnen die westlichen Werte notfalls auch durch »humanitäre Interventionen« zu verbreiten. Der Scherbenhaufen dieser aus Arroganz und historischer sowie kultureller Ignoranz gespeisten Politik läßt sich derzeit auf dem Balkan, im Irak und in Afghanistan besichtigen.
Einer der prominentesten Verfechter der »neuen demokratischen Weltordnung« war der im Dezember 2010 verstorbene US-Diplomat Richard Holbrooke. Bereits 1995 hatte er seine Vision in der Zeitschrift Foreign Affairs dargelegt und eine umfassende transatlantische Strategie gefordert. Doch angesichts des Aufstiegs mehrerer »Schwellenländer«, in erster Linie Chinas, sowie der neuen Machtverhältnisse im Nahen Osten, haben die Liberalen erkannt, daß das westliche Projekt, das selbstredend von Deutschland als willigem Bündnispartner kritiklos mitgetragen wurde, Schiffbruch erlitten hat. So veröffentlichte die Zeit in jener Ausgabe, in der Ulrich und Ross die Blamage des Westens als ihre persönliche eingestanden, den Aufsatz zweier Mitarbeiter des Instituts für Internationale Studien der Helmut-Schmidt-Universität (Hamburg), die das Resümee ihres Buches Illusion Statebuilding zogen: »Interventionen sollten nicht länger als freundschaftliche Kooperation, als wohlmeinendes und letztlich neutrales Hilfsangebot verstanden werden … Westliche Gesellschaften sollten ihre Selbsttäuschung beenden und erkennen, daß sie nicht in der Lage sind, mit technischen Mitteln die Welt nach ihrem Vorbild umzuformen.«
Die Zeichen der Zeit hat auch der frühere amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski erkannt. In einem Interview anläßlich der Münchner Sicherheitskonferenz erklärte er gegenüber der Süddeutschen Zeitung: »Wir müssen uns davor hüten, unsere Maßstäbe zu universalisieren. Man kann seine eigenen Maßstäbe schätzen, aber wenn man sie in der ganzen Welt anwenden will, wird man ernste Schwierigkeiten bekommen … Die anglo-europäische Demokratie ist nicht notwendigerweise richtungsweisend für die gesamte Welt. In vielen Weltgegenden – etwa im Nahen Osten, in Afrika oder Asien – gibt es andere Vorstellungen von der Organisationsform einer Gesellschaft.« Dies ist seit jeher das Credo aller Konservativen, die, ausgehend von der ethnisch-kulturellen Vielfalt, Versuche zur Homogenisierung der Welt als fatale Irrwege verblendeter Kosmopoliten und Internationalisten verurteilen.
Wieder einmal mußten Linke und Liberale durch die Konfrontation mit der Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen, daß sie sich in einer ideologischen Sackgasse befinden. Der Versuch, ihr Dilemma als unvermeidlichen und schmerzhaften Spagat zwischen Moral und Realpolitik darzustellen, verfängt nicht. Der entscheidende Punkt ist nicht die legitime Verfolgung nationaler Interessen, das Empörende sind die Heuchelei, die doppelten Standards und das zweierlei Maß, mit dem die westlichen Staaten und ihre Propagandisten agierten und agieren. Arabische Despoten wurden hofiert – weißrussische, chinesische, iranische und andere Politiker wurden und werden menschenrechtlich belehrt und mit Sanktionen bedroht. Israels völkerrechtswidrige Siedlungspolitik und sein oftmals staatsterroristisches Vorgehen gegen die Palästinenser werden seit mehr als vierzig Jahren gedeckt, die 2006 in freien und international überwachten Wahlen im Gaza-Streifen an die Macht gelangte Hamas wird dagegen wie ein Paria geächtet. Ungarns neues Mediengesetz haben Linke und Liberale innerhalb und außerhalb des EU-Parlaments schärfer kritisiert als das Fehlen jeglicher Meinungs- und Pressefreiheit in den verbündeten arabischen Ländern. In Algerien wurde 1992 unter dem Beifall des Westens der Ausnahmezustand verhängt, als sich ein klarer Sieg der islamistischen FIS in den bisher einzigen freien Parlamentswahlen abzeichnete. Die Verdrängung der Islamisten in den Untergrund und der nachfolgende Bürgerkrieg forderten bis zu 170 000 Todesopfer.
Besonders schäbig und entlarvend war im Fall Tunesien das offizielle Verhalten der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, die sich stets als Land der Menschenrechte ausgibt. Als die Tunesier Anfang Januar zu Tausenden gegen den korrupten Präsidenten Ben Ali auf die Straße gingen, bot Außenministerin Michéle Alliot-Marie in der Pariser Nationalversammlung dem bedrängten Regime Unterstützung an: »Das in aller Welt geschätzte Können unserer Sicherheitskräfte erlaubt es, Situationen dieser Art zu regeln.« Später erklärte sie, sie habe doch nur Hilfe offeriert, um das Leben der Demonstranten zu schützen. Dies war wenig glaubwürdig, denn kurz darauf, am 14. Januar, als Ben Ali aus seinem Land flüchtete, stoppte der Zoll auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle eine Warenlieferung. Sie war an das tunesische Regime adressiert und enthielt Schlagstöcke und Tränengas. Wie Premierminister Fillon einräumen mußte, hatten die Behörden noch am 12. Januar entsprechende Ausfuhrgenehmigungen erteilt. Alliot-Marie, die Ende Februar zurücktreten mußte, hatte keine Einwände erhoben.
»Warum mußten wir Tränengas nach Ägypten exportieren?« fragte ein Blogger der amerikanischen Online-Zeitung Huffington Post, nachdem Demonstranten auf dem Kairoer Tahrir-Platz mit beißendem Rauch traktiert worden waren. Medien zufolge stand auf den Kanistern »Made in USA«. Und in der Tat: Das Taktieren Washingtons war im Fall Ägypten nicht weniger beschämend als das des französischen Verbündeten. Während Außenministerin Hillary Clinton noch am 27. Januar, zwei Tage nach Beginn der Unruhen, erklärte, »Ägypten ist stabil«, brauchte Barack Obama – von der Zeit bereits vor seiner Wahl als »Weltpräsident« gefeiert und kurz nach Amtsantritt in Oslo mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet – fast eine Woche, um seine Sprachlosigkeit zu überwinden. Das dröhnende Schweigen angesichts der friedlichen Demonstrationen in Kairo wurde weltweit als ebenso hilflos wie jämmerlich eingestuft, zumal sich die USA ansonsten überall als Wächter der Menschenrechte gerieren. Als es Washington endlich gelang, wieder sein gewohntes Strippenziehen hinter den Kulissen aufzunehmen, hatte es – wie der gesamte Westen – nicht nur bei den Ägyptern jede Glaubwürdigkeit verloren.
Dreißig Jahre lang hatte das Regime am Nil von den USA jährlich zwei Milliarden Dollar erhalten, davon allein 1,3 Milliarden Militärhilfe. Daß Ägypten die ganze Zeit unter Ausnahmerecht stand, daß Mubarak die Verfassung zu seinen Gunsten änderte und alle Wahlen manipulieren ließ, störte kaum jemanden im Westen. Weder in Washington noch im EUParlament erhob sich Protest, als auch die Parlamentswahlen im Dezember 2010 so gefälscht wurden, daß sich achtzig Prozent der Abgeordneten aus Parteigängern des Präsidenten rekrutierten. Ein halbes Jahr zuvor hatte Außenminister Westerwelle den greisen »Pharao« gar als »Mann mit enormer Erfahrung, großer Weisheit und die Zukunft fest im Blick« gepriesen.
In den Tagen des arabischen Aufruhrs rezitierten Demonstranten von Tunis bis Alexandria immer wieder das Gedicht »An die Tyrannen«, das der tunesische Dichter Abu al-Qasim 1933 geschrieben hatte und in dem es heißt: »Hütet euch! Unter der Asche brennt das Feuer. / Wer Dornen züchtet, wird Wunden ernten.« Weniger poetisch hatte schon Mao Zedong jene Wahrheit als eherne Regel bezeichnet: »Wo es Unterdrückung gibt, da gibt es Widerstand – das ist ein vom menschlichen Willen unabhängiges Gesetz.« Diese Erkenntnis nicht beherzigt zu haben, führte dazu, daß für die Liberalen das Jahr 2011 mit einem außenpolitischen Debakel begann. Besonders hart traf es ihre deutschen Vertreter, hatten sie doch bereits im Vorjahr mehrere Nackenschläge in der Innenpolitik einstecken müssen, die ihre bisherige Deutungshoheit ins Wanken gebracht hat. Unter der Rubrik »Was ist bloß mit uns los?« zog Vize-Chefredakteur Bernd Ulrich im Dezember auf einer ganzen Zeit-Seite eine bestürzende Bilanz. Zwar sprach er dabei stets von dem Journalismus, in Wahrheit aber ging es um jenen Linksliberalismus, der seit Jahrzehnten die wichtigsten Bastionen in Deutschlands Medien besetzt hält und mit seinen Denkund Sprachregeln das Meinungsklima bestimmt.
Als erste Schlappe des vergangenen Jahres machte Ulrich den Mißbrauchsskandal an der reformpädagogischen Odenwald-Schule aus. Obwohl der Fall schon vor zehn Jahren publik geworden sei, habe keine Zeitung groß darüber berichtet. »In den Redaktionen«, so Ulrich, »wurde damals von den je Zuständigen beschlossen, die Sache ›nicht aufzubauschen‹, um der Reformpädagogik nicht zu schaden, ihren Gegnern nicht in die Hände zu spielen.« Es habe sich um einen »politisch-motivierten Cui-bono-Journalismus, genauer: um Unterlassungsjournalismus« gehandelt. Zur größten Schlappe »für das Gutgemeinte« habe sich jedoch der Fall Sarrazin entwickelt. Ulrich mußte einräumen, daß sich eine Million verkaufter Exemplare des Sarrazin-Buches Deutschland schafft sich ab nicht allein mit Ressentiment-Bedürfnissen der Leser erklären ließen – vielmehr zeigten sie, »daß auch wir, die liberalen Medien«, etwas falsch gemacht hätten. Und dann lieferte er eine Begründung, die so hanebüchen ist, daß sie einer Bankrotterklärung des vielgepriesenen »Qualitätsjournalismus« gleichkommt: »Man muß wissen, daß in den meisten Redaktionen fast keine Migranten arbeiten, daß deren Lebenswelt ihnen fremd ist. Darum wurde Kenntnis allzu oft durch Correctness ersetzt. Man wollte den ›Ausländern‹ nicht schaden, deswegen wurde zu wenig über Mißstände berichtet, aber auch kaum über das wirklich pralle Leben mit seinen dramatischen Konflikten und oft faszinierenden Lösungen. So entstand durch die ethnische Homogenität der Zeitungsredaktionen ein Vakuum, in das Sarrazin hineinstieß.«
Welch üble Rolle Ulrich in der von der Zeit an vorderster Front geschürten Kampagne gegen Sarrazin gespielt hatte, sei an dieser Stelle wegen der kaum zu überbietenden Perfidie noch einmal ins Gedächtnis gerufen. Am 2. September 2010 schrieb er: »Offenbar ist es immer noch so, daß ein deutscher Rechtspopulist wie Thilo Sarrazin nicht tagelang über Genetik, Überfremdung und Bevölkerungspolitik sprechen kann, ohne daß ihm das Wort ›Jude‹ rausrutscht. Sarrazin hat also gesagt: ›Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen.‹ Natürlich fügte er gleich hinzu, daß er die Juden viel positiver sehe als etwa die Muslime, aber das half dann auch nichts mehr. Die deutsche Öffentlichkeit möchte in ihrer Mehrheit nach wie vor nicht wieder über die Qualität jüdischer Gene diskutieren und schließt darum jemanden, der damit anfängt, aus dem Kreis der wohlgelittenen Mitdiskutanten aus.« Mit dieser denunziatorischen Infamie hatte Ulrich sein Opfer in die antisemitische Rassistenecke gestellt, was damals eigentlich ein Fall für den Presserat hätte sein müssen. Denn in derselben Ausgabe der Zeit, nur wenige Seiten weiter, hatte Herausgeber Josef Joffe der Wahrheit die Ehre gegeben: »Wieso ist es ›Antisemitismus‹ (Westerwelle), wenn einer behauptet, Juden teilen ein ›bestimmtes Gen‹? ›Ein‹ Gen ist zwar Unsinn, aber es gibt genug Studien, wonach sich Juden in diversen Diaspora-Gruppen genetisch sehr wohl von Nichtjuden in der jeweiligen Region unterscheiden. Kein Wunder auch, wenn eine Gruppe die Endogamie selber wählt oder sie erleiden muß. ›Tay-Sachs‹ ist eine klassische jüdische Erbkrankheit, analog zur ›Lippe‹ der Habsburger.« Nichts anderes hatte auch Sarrazin behauptet.
Das Verhalten der Süddeutschen Zeitung war ebenfalls kein Ruhmesblatt gewesen. So schwadronierte sie am 3. September 2010 über »den Stuß mit den jüdischen Genen«, vergaß aber zu erwähnen, daß sie jenen »Stuß« erst im Juni auf ihrer Seite »Wissen« veröffentlicht hatte – ohne negativen Kommentar, denn schließlich handelte es sich um nichts Anstößiges, sondern um einen neutralen Agenturbericht über zwei wissenschaftliche Studien aus Israel und den USA, auf die sich sowohl Joffe als auch Sarrazin bezogen hatten.
Wie sehr die linksliberalen Medien, jenseits ihrer unsäglichen Hetzkampagnen, durch die Konfrontation mit der Wirklichkeit längst ihre Glaubwürdigkeit verspielt haben, zeigen zwei Beispiele aus dem Zeit-Magazin. Anfang Dezember 2010 schilderte die Autorin Susanne Leinemann einen brutalen Überfall in Berlin, bei dem sie von zwei Jugendlichen fast totgeschlagen worden wäre. Ihre conclusio: »Heute, nachdem ich weiß, was ich weiß, denke ich: Wo hast du bloß all die Jahre gelebt? In Wolkenkuckucksheim, in einer aufgeschäumten Latte-macchiato-Welt.« Im Januar dieses Jahres rollte Susanne Rückert noch einmal den Fall des 16jährigen Elias auf, eines Jugendlichen afghanisch-serbischer Herkunft, der im Mai 2010 in einer Hamburger U‑Bahn-Station aus heiterem Himmel einen jungen Mann erstochen hatte. Trotz seiner jahrelangen kriminellen Karriere war Elias nie von den Behörden gestoppt worden. Unter der Überschrift »Falsche Milde« plädierte Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo für Härte und Konsequenz – doch nicht aus Prinzipienfestigkeit, sondern aus taktischen Gründen, wie sein entlarvendes Schlusswort verdeutlichte: »Es gibt Mißstände, die eine liberale Gesellschaft schon aus Gründen der Selbstachtung angehen muß. Tut sie es nicht, überläßt sie diese Themen den Totschlagargumenten der großen Vereinfacher.«
Daß die Liberalen aus ihren Debakeln lernen, ist daher nicht zu erwarten. Ebenso wie die Linken ihrer kommunistischen Utopie nach wie vor unverdrossen nachjagen, werden auch die Liberalen ihren Zeitgenossen weiterhin den ewigen Traum einer friedlichen, toleranten und demokratischen Weltgesellschaft aufzudrängen versuchen – ungeachtet aller Realität. So hatten die linksliberalen Leitmedien ihre eingangs geschilderte Zerknirschung angesichts des Nahost-Debakels bereits nach vierzehn Tagen überwunden und wieder die rosarote Brille des Fortschrittsoptimismus aufgesetzt. Während die Süddeutsche Zeitung am 17. Februar die »Botschaft der Befreiung « verkündete und im voraus wußte, daß die radikalen Islamisten keine Chance hätten, jubilierte die Zeit (Nr. 8/2011) wie der Weihnachtsengel: »Fürchtet euch nicht! Sieben gute Gründe, warum die arabischen Revolutionen die Welt verbessern können – von Kreuzberg bis Peking und Ramallah.«