Klaus Wowereit meint: „Wir können nicht die ganze Stadt überwachen.“ Recht hat er, weil der erhöhte Polizeieinsatz nicht die erhoffte Wirkung gebracht hat. Aktionismus hilft also nicht weiter. Gefragt ist zunächst eine korrekte Beschreibung der Lage.
Die gängigen Erklärungen für die Serie an Brandstiftungen sind schnell erschöpft: Linksextremismus? Im Mai legte eine militant linke Gruppe am Berliner Ostkreuz einen „Kurz.Schluss“, der den Bahnverkehr einige Tage behindern sollte. Im Bekennerschreiben heißt es: „Wir gehen in Streik und sabotieren den zerstörerischen Trott!“ In den letzten Tagen fehlten solcherlei kindische Manifeste von linken Wohlstandskindern. Natürlich werden sich einige militante Linke an den Zündeleien beteiligen, aber ist die politische Gesinnung das ausschlaggebende Motiv der Taten? Ein großes Fragezeichen!
Nächster Ansatz: Handelt es sich um „soziale Unruhen“? Nein. Die ausgebrannten Autos sind auch in „ärmeren“ Stadtvierteln zu finden und es sind nicht nur Wagen der Oberschicht betroffen.
Der aktuelle Spiegel zieht nun noch einen anderen Joker. Das Nachrichtenmagazin versteigt sich zusammen mit der Kriminologin Ingeborg Legge mit Blick auf ähnliche Taten in Hamburg zu der These, gewaltverherrlichende Musikvideos aus dem Rapper-Milieu motivierten die Feuerteufel. In manchen Videos würden brennende Autos zu Zeilen wie „Ich hasse diesen Staat, ich scheiß auf die Gesellschaft“ gezeigt. Die Polizei folgte dieser Spur in den letzten Wochen mit einer eigens dafür eingerichteten „Gruppe Brand“. Das Ergebnis: Vor einigen Tagen brannten auch wieder Autos in der Hansestadt.
Es bleibt einem nach diesem Ausschlußverfahren fast nichts anderes übrig, als auf eine sinnlose Zerstörungswut von „Idioten“ (Wowereit) zu tippen. Ergo: Die Polizei muß die Spinner finden und Klaus Wowereit muß neben dem Autogrammschreiben im Wahlkampf doch noch einen „Runden Tisch“ einberufen, der die Probleme solange zerredet, bis sie rein zufällig auf ein erträgliches Maß abgeebbt sind.
Im Zirkus der Parteien schweigen derweil die Linken das Problem tot. Die bürgerlichen Großstadtparteien raffen sich mit Aussicht auf zwei Prozentpünktchen mehr zu dem kurzfristigen Propagieren einer „Null-Toleranz-Strategie“ auf. Und die Rechten treibt die Hoffnung auf einen Achtungserfolg (gemeint sind „1 % + x“) dazu, alle Taten in die Schuhe von angeblich bis oben hin mit Ideologie vollgepumpten „Linksextremisten“ zu schieben. René Stadtkewitz von DIE FREIHEIT betont etwa: „Ich befürchte, dass die linksextremistischen Brandstifter im Zuge des Wahlkampfes Moscheen, Synagogen oder andere Einrichtungen anzünden, um so die Wähler zu manipulieren.“
Ganz Berlin also bald in Flammen? Das Szenario läuft sicher so ab: Erst stecken Linksextremisten Moscheen an. Dann bewaffnen sich verärgerte Muslime mit Knüppeln und suchen die nächste Synagoge auf und am Ende erhält DIE FREIHEIT 30 Prozent, weil sie es vorher gewußt hat und die Manipulationsversuche ihrer Feinde enttarnte.
Um Pardon für diesen Ausflug ins Reich der Wahlkampfmärchen! Das Problem ist freilich viel zu ernst, um darüber zu scherzen. Der Grat zwischen Verharmlosung und Dramatisierung dieses Problems ist schmal. Zunächst darf man die Täter nicht überschätzen. Sie sind nicht zu einer schlagkräftigen Organisation fähig, sie verfügen über kein geistiges Rüstzeug und sie besitzen keinen Killerinstinkt. Hans Magnus Enzensberger hat bereits 1993 in seinem so wichtigen Essay Aussichten auf den Bürgerkrieg diesen Tätertypus richtig beschrieben:
Was an ihnen auffällt, ist das Fehlen aller Überzeugungen. (…) Es ist eine neue Männlichkeit, die hier zum Vorschein kommt. Man könnte meinen, ihre Ehre hieße Feigheit; aber das wäre eine Überschätzung. Schon die bloße Unterscheidung von Mut und Feigheit ist ihnen unverständlich. Auch das ist ein Zeichen für Autismus und Überzeugungsschwund.
Trotzdem ist die Lage ernst. Die Brandstiftungen sind nur ein Symptom unzähliger Konfliktlinien, die durch unsere Gesellschaft verlaufen und an denen der Staat ausnahmslos versagt, weil er, statt eine Entscheidung zu treffen, den Konsens sucht. In seiner Zurüstung zum Bürgerkrieg schreibt Thorsten Hinz dazu:
Im molekularen Stadium ist der Bürgerkrieg als solcher kaum wahrnehmbar. Und noch in den Eskalationsphasen spielt er sich in einer komplexen Gesellschaft wie der deutschen auf unterschiedlichsten Ebenen ab und ist verwirrender als eine Auseinandersetzung im afrikanischen Busch. Seine Fronten sind kurz und vielfältig, überlagern sich, liegen kreuz und quer zueinander, teilweise neutralisieren sie sich, während sie anderswo umso gewaltiger aufeinanderprallen.
Mit Blick auf die feigen Täter, die widerstandsunfähigen Opfer und die handzahmen Institutionen stellt sich allerdings die Frage, ob wir überhaupt noch von einer – wenn auch kurzen – Front sprechen können, oder ob nicht vielmehr das gegenseitige Ausweichen, Verwischen und Verstecken das Symptomatische ist und zur Verhinderung einer reinigenden Eskalation beiträgt. An späterer Stelle schreibt Hinz von der Angst der Deutschen vor dem Politischen. Das trifft es besser und ist das eigentlich Bedrohliche: Es gibt keine Front und der Zerfall geht ohne erkennbare Abbiegungsmöglichkeit weiter.
Martin
Das interessante an dem "Auto-Brand-Syndrom" ist doch, wie wenig wir eigentlich darüber wirklich wissen, da bislang wohl kaum ein Täter geschnappt wurde und wir daher über die "Motivlage" nur rätseln können, aber nichts von echtem Wahrheitsgehalt aussagen können. Das peinliche für die Regierung: Das Thema ist eigentlich uralt. Alleine die folgende Webseite hat, bis zu ihrer Einstellung im Oktober 2010(!) für Berlin seit 2007 (!) 633 abgefackelte Autos dokumentiert.
https://www.brennende-autos.de/
Das Ganze läuft also schon seit 2007 in Berlin und in anderen Städten wie Hamburg wohl ebenso lang.
Erst jetzt, im Wahlkampf von Berlin, wird das ganze zum Thema. Bis dahin war es fast schon perfekt medial gedeckelt.
PS: Ich glaube, das bei den Zahlen locker 10- 20% organisierte Trittbrettfahrer-Versicherungsbetrüger am Werk sind, da Vollkaskoversicherungen Vandalismus bezahlen - eine gewisse Form der organisierten Kriminalität ist da sicher auch dabei. Vermutlich fangen so langsam die Versicherungen das Rebellieren an, nach dem Motto: Liebe Bild etc., wenn ihr weiter Anzeigen von uns haben wollt, dann nehmt Euch des Themas endlich an ... denn es verwundert doch schwer, dass seit Jahren so was abgeht und es bislang kaum jemanden interessiert zu haben scheint.