Wie kommt es, daß ein deutscher, im Kaiserreich sozialisierter Staatsrechtler, dessen Hauptwerke vor 65 bis 95 Jahren erstmals veröffentlicht wurden, im 21. Jahrhundert in den westlichen Demokratien, aber auch in Südamerika und Asien, ein solches, nachgerade gespenstisch anmutendes Aktualitätsinteresse erfährt? Und für eine Republik wie die BRD, »die sich seit ihrer Entstehung im ideologischen Kriegszustand mit dem Dritten Reich befindet« (Helmut Quaritsch), kommt die bange Frage hinzu: Warum liest man sogar einzelne apokryph verschlüsselte Schriften Schmitts aus der NS-Ära heute – horribile dictu – in der Regel mit größerem Erkenntnisgewinn als die vielen bunten Suhrkamp-Paperbacks aus den seligen 1970er Jahren? Was ist eigentlich alles schiefgelaufen in 50 Jahren dialogbereitem Gemeinschaftskundeunterricht, in dem alle Formen von »Konfliktlösungen« jenseits des Schmittschen Horizonts durchexerziert wurden? Was hat Carl Schmitt, das Jürgen Habermas nicht hat? Und welche Rückschlüsse läßt der bisweilen surreale Schmitt-Hype auf das politische Wirkungsgefüge unserer Tage zu?
Wer Antworten auf diese Fragen sucht, sollte den wikipediös aufbereiteten Konsum von Sekundär- und Tertiärquellen über Schmitt meiden und sich dem Werk selbst zuwenden. Die nachfolgenden Zeilen wollen demgemäß zur Primärlektüre anregen und verhehlen nicht die Überzeugung ihres Verfassers, daß der Leser, der die polit-moralinsäurehaltigen Nebelschwaden unserer Tage durchstoßen will, nach wie vor kaum etwas Effektiveres tun kann, als sich mit dem Werk des »jüngsten Klassikers des politischen Denkens« (Bernard Willms) zu befassen. Wer sich indes unbefangen auf die Gedankenwelt dieses »simplen Plettenbourgeois« (Schmitt über Schmitt) einläßt, läuft schnell Gefahr, von seiner Art zu denken und zu argumentieren eingenommen zu werden. Diese Faszination, die von nicht wenigen seiner Schriften ausgeht, hängt nicht zuletzt mit Schmitts eigenwillig fluoreszierendem, mit Aphorismen und Begriffen jonglierendem Stil zusammen, der so gar nicht zu dem passen will, was man ansonsten aus dem juristischen Schrifttum zu kennen meint. Der Kölner Rechtsanwalt Günther Krauss schildert in seinen lesenswerten Erinnerungen an Carl Schmitt, wie er 1930 in München, auf einer Parkbank des Englischen Gartens sitzend, von diesem Stil gefangen wurde: »Dort las ich Carl Schmitts ›Verfassungslehre‹ von 1928, einen unbezähmbaren Wissensdurst in mir, den azurblauen bayerischen Himmel über mir … Carl Schmitt erzeugte nicht tierischen Ernst – im Gegenteil: die schönsten Passagen führten zu genußreichen Pausen, wie auch die französische Küche groß ist durch die Pausen zwischen den einzelnen Gängen. Nur der erste Anfang, besonders die mehreren Definitionen des Wortes Verfassung, machte Schwierigkeiten, doch sehr bald kam man zum vollen Genuß dieser ungewöhnlichen Lektüre. Wer Carl Schmitt sagt, sagt Form. Sie erwuchs aus einer wohlgefügten Ordnung, deren Strenge man nicht verspürte. Klarheit vereinigte sich mit Tiefe.« Ein anderer Schüler Schmitts, Ernst Forsthoff, fasst in einem Brief vom 5. Juli 1958 anläßlich Schmitts 70. Geburtstag zusammen, was er seinem Lehrer und Freund für seinen weiteren Lebensweg verdankte: »Es wird mir bewußt, daß es jetzt 35 Jahre her ist, als ich im Sommersemester 1923 zum ersten Mal zu Ihren Füßen saß und erst durch Sie, im fünften Semester, also reichlich spät, aber noch nicht zu spät, erfuhr, was es bedeutet, ein Jurist zu sein – oder damals noch: zu werden. Daß Sie mich bald darauf als Ihren Schüler aufnahmen, wurde Wende und Glück meines Lebens«. Ein weiterer wichtiger Schüler Schmitts, Ernst Rudolf Huber, sah »die besondere wissenschaftliche Gabe Schmitts« darin, »neue Tendenzen und Strukturen unter der Oberfläche alter Systeme und hinter den Masken und Schleiern herkömmlicher Formeln zu spüren und durch begriffliche Fassung an das Licht und in das Bewußtsein zu heben«. Wie dies bei allen Schriftstellern überragenden Rangs, von Machiavelli bis Max Weber, von Hobbes bis Spengler, der Fall ist, gerät auch die Befassung mit Schmitts Werken für viele Leser zu einer unmittelbaren persönlichen Erfahrung. Wenn die Erkenntnis Ernst Jüngers richtig ist, daß manche Bücher wie Impfstoffe wirken, nach deren Lektüre man gegen bestimmte geistig-politische Desinformationen gewappnet ist, dann gehören viele Werke Schmitts in die erste Reihe dieser intellektuellen Abwehrstoffe. Das galt schon in den 1920er, 1950er und 1980er Jahren, und das gilt erst recht für das flachwurzelnde Politinfotainment unserer Tage, bei dem man – in der Wissenschaft wie in der Praxis – gelegentlich den Eindruck gewinnen muß, daß nicht nur die Beobachter, sondern auch die Akteure nicht mehr wissen, was Politik im eigentlichen Sinne bedeutet. Bei Schmitt indes kommt man auch als 19jähriger Drittsemester bei der Beantwortung der Frage nach dem Wesen des Politischen mit Siebenmeilenstiefeln voran: »Für Schmitts Stil sind seine Blitzaufnahmen typisch. Ein Blitz und dann kommen diese großartigen Formulierungen, die keiner vergißt. Es blitzt im Dunkeln … und man hat den Eindruck, alles gesehen zu haben.« (Robert Hepp) Gleichwohl ist man gut beraten, Schmitt nicht als »Schmittianer« zu lesen. Denn, so könnte man – in Abwandlung eines Wortes von Thomas Mann über Friedrich Nietzsche – formulieren, wer Carl Schmitt »eigentlich« nimmt, wörtlich nimmt, wer ihm glaubt, ist verloren. Die vielgerühmte »lateinische Klarheit« (Nicolaus Sombart) dieses Autors ist also nur eine Seite seines Werkes. Mit dem gleichen Recht kann man, wie dies Günter Maschke jüngst getan hat, Schmitt als einen »oft scheinklaren Schriftsteller« bezeichnen, bei dem sich, je öfter man seine Schriften liest, »desto häufiger … Fragen ein(stellen), Fragen, die immer neue, gewagtere Fragen gebären.« Erich Schwinge hatte Carl Schmitt schon 1930 als die »Sphinx unter den modernen Staatsrechtlern« tituliert, und vieles spricht dafür, daß die Rätsel um sein Werk, zu dem weltweit pro Woche (!) eine Monographie bzw. Dissertation erscheint, auch in den kommenden Jahrzehnten nicht aufgelöst werden können. Genau darin muß ein Schlüssel für die erstaunliche geistige Wirkungsmacht gesehen werden, die von Schmitts Werk unverändert ausgeht.
Wie erschließt man sich das Schmittsche Ideenterrain am besten? Wo fängt man an? Welche Bücher sind zentral für das Verständnis seines Werkes, welche Schriften kann man (einstweilen) vernachlässigen? Hier gehen die Ansichten weit auseinander, so daß der nachfolgende Versuch, einzelne Stellen des Schmittschen Werkes stärker, andere Quellen schwächer auszuleuchten, keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben kann. Schmitts wichtigstes Werk – darin dürften Schmitt-Kenner unterschiedlichster Herkunft fast una voce zustimmen – bleibt Der Begriff des Politischen, das als Aufsatz 1927 und in Buchform zuerst 1932 erschien. Mit diesem Buch, das seine umstrittene Politikdefinition enthält, hat er seinen Ruf als politischer Schriftsteller begründet, der auf nicht einmal einhundert Seiten die Grundstrukturen des Politischen freilegt. Dabei steht der Staat als »einer in sich befriedeten, territorial in sich geschlossenen und für Fremde undurchdringlichen, organisierten politischen Einheit« im Zentrum eines Buches, dessen theoretische Prägekraft nicht vergessen machen sollte, daß es dem Autor um etwas ganz Konkretes ging, nämlich darum, die den Deutschen nach 1918 zugemuteten politischen Fesseln abzustreifen und gerade das deutsche Volk, »dessen Bedürfnis nach legalem Schein stärker ist als sein politischer Sinn«, über das aufzuklären, auf was es in politicis nach Schmitt ankommt: »Solange ein Volk in der Sphäre des Politischen existiert, muß es, wenn auch nur für den extremsten Fall, über dessen Vorliegen es aber selbst entscheidet, die Unterscheidung von Freund und Feind selber bestimmen. Darin liegt das Wesen seiner politischen Existenz. Hat es nicht mehr die Fähigkeit oder den Willen zu dieser Unterscheidung, so hört es auf, politisch zu existieren. Läßt es sich von einem Fremden vorschreiben, wer sein Feind ist und gegen wen es kämpfen darf oder nicht, so ist es kein politisch freies Volk mehr und einem anderen politischen System ein- oder untergeordnet … Dadurch, daß ein Volk nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet das Politische nicht aus der Welt. Es verschwindet nur ein schwaches Volk.« Die Polarisierung, die bis heute mit dem Namen Carl Schmitt verbunden ist, geht ganz maßgeblich auf dieses schmale Buch zurück, in dem der Autor den polemischen Charakter des Politischen herausarbeitet und sich damit als »Zerstörer humanitaristischer Illusionen« (Günter Maschke) betätigt. Das haben ihm die Lordsiegel-Bewahrer eben dieser politikfremden, mit »Menschheit« und anderen Erbaulichkeiten aus dem Wörterbuch der 1789-Ideologen aufgeblasenen Illusionen nie verziehen.
Schmitts Offenlegung des politischen Wirkungsgefüges wurzelt entscheidend in seiner Ablehnung romantischen Denkens. Zum Verständnis von Schmitts Politiktheorie unverzichtbar ist daher die Lektüre seiner erstmals 1919 erschienenen Schrift Politische Romantik. Die stilistische Brillanz dieses Werkes veranlaßte Ernst Bloch zu dem prophetischen Satz: »Dieser unbekannte junge Mann hat alle Aussichten, einer der meistbestohlenen Autoren der nächsten Jahrzehnte zu werden.« Die Politische Romantik ist aber nicht nur eines der schönsten Bücher Schmitts, in dem der Verfasser seine virtuose Beherrschung der europäischen Geistesgeschichte unter Beweis stellt; diesem nur scheinbar »unjuristischen« Buch Schmitts kommt deswegen eine Schlüsselrolle in seinem Werk zu, weil er sich darin gegen die Verabsolutierung des Ästhetischen ebenso wendet wie gegen die vielen anderen Ersatzmythen des homo oeconomicus: »Viele Arten metaphysischer Haltung existieren heute in säkularisierter Gestalt. Für den modernen Menschen sind weithin an die Stelle Gottes andere, und zwar irdische Faktoren getreten: die Menschheit, die Nation, das Individuum, die geschichtliche Entwicklung oder auch das Leben als Leben seiner selbst wegen, in seiner ganzen Geistlosigkeit und bloßen Bewegung. Die Haltung hört dadurch nicht auf, metaphysisch zu sein.« Der Romantiker mache aus allem nur einen Anlaß, er mache »alles zum Vehikel seines romantischen Interesses« und erweise sich damit zum natürlichen Feind jeder von Menschen geformten Ordnung. Die Schmittsche Kritik der Romantik, die »psychologisch und historisch ein Produkt bürgerlicher Sekurität« sei, wird damit zur Keimzelle seiner Kritik des Liberalismus, in dem der gottlos verlorene Einzelmensch zum Maß der Dinge werde: »Das vereinzelte, isolierte und emanzipierte Individuum wird in der liberalen bürgerlichen Welt zum Mittelpunkt, zur letzten Instanz, zum Absoluten.« Der Romantiker negiere »die wichtigste Quelle politischer Vitalität, der Glaube an das Recht und die Empörung über das Unrecht«, um – getreu seiner »pflanzenhaften Natur« – alles zu verstehen, alles zu verzeihen und alles zum Material ästhetischer Beobachtungen zu machen. Die Radikalität, mit der Schmitt Adam Müller als prototypischen Romantiker regelrecht abserviert, hat viel zu tun mit der eigenen romantischen Phase Schmitts, die maßgeblich von seiner Schrift über Theodor Däublers Nordlicht gekennzeichnet wird. 1916, mitten in der europäischen Tragödie des »pity of war« (Niall Ferguson), unter deren dunklem Stern wir heute noch stehen, hatte Schmitt in einer hagiographisch verklärten Interpretation von Däublers Hauptwerk den »Geist des mechanistischen Zeitalters« angeprangert, »der alles auf die Formel seines Bewußtseins bringt und keine Geheimnisse und keinen Überschwang der Seele gelten läßt.« In seinem Däubler-Buch läßt der 28jährige, frisch habilitierte Jurist noch einmal ganz unjuristisch seiner Verachtung auf die Moderne und dem von ihr hervorgebrachten »erkalteten Menschen des 20. Jahrhunderts« (Karl Wolfskehl) freien Lauf: »Die Menschen sind arme Teufel geworden … Sie interessieren sich für alles und begeistern sich für nichts.« Das kulturpessimistisch durchwirkte Buch verrät wenige Jahre vor dem Beginn der steilen Karriere des Weimarer Staatsrechtsprofessors viel von Schmitts innerem katholischen Romantizismus, seinen urmonistischen Träumen und seiner Abscheu vor dem »verruchten Tausch« (Theodor W. Adorno) und dem von ihm ausgelösten, hohlen »Diesseits-Aktivismus« einer Massengesellschaft, die durch all den äußeren Tand ihre innere Leere nicht verbergen kann. Man muß nicht so weit gehen, das Däubler-Buch als »Manifest des Antiliberalismus« (Henning Ritter) zu bezeichnen, die metajuristische Grundmelodie der Schmittschen Denkstrukturen ist aber aus kaum einem anderen Werk so klar herauszuhören wie aus dieser Hommage an seinen Freund Däubler. Dessen 1898 begonnenes Nordlicht vermag auch heute noch viel von dem seelischen Phantomschmerz zu vermitteln, das einen verantwortungsbewussten Europäer erfassen muß, wenn er sich den modernistischen Alptraum und all das, was der Mensch in ihm verloren hat, vor Augen führt.
Von diesem Schmerz geprägt ist auch eine andere wichtige Schrift, die Schmitt um die Jahreswende 1922/23 in kaum zwei Tagen schrieb: Römischer Katholizismus und politische Form. Nach der Lektüre dieser stilistisch einsame Höhen beschreitenden Schrift hatte Hugo Ball geschrieben, der in Bonn lehrende Schmitt sei als Katholik »eine Art neuer Kant«, der »für Deutschland mehr (bedeute) als das ganze übrige Rheinland, die Kohlengruben mit inbegriffen. Ich habe selten eine Philosophie mit so viel Spannung gelesen wie die seine, und es ist doch die Philosophie der Rechte. Aber diese Philosophie ist für die deutsche Sprache und Redlichkeit ein großer Triumph. Er ist genauer wie sogar Kant und streng wie ein spanischer Großinquisitor, wo es sich um die Ideen handelt.« Und in der Tat: Als »homo catholicus« (Piet Tommissen) erteilt Schmitt dem ökonomistisch- materialistischen Geist der Zeit, der jeglichen Begriff von Repräsentation verloren habe, eine an Schärfe kaum zu überbietende Abfuhr. Dem »kleinlichen Schnitt intellektueller Kleinkapitalisten«, denen jede äußere Form, jedes Pathos der Autorität abhanden gekommen sei, setzt er das Repräsentationsbild der katholischen Kirche entgegen, die nach Schmitt als »wahre Erbin der römischen Jurisprudenz« allein in der Lage sei, die alles zerfressenden Herrschaftsansprüche der Ökonomie in ihre Schranken zu weisen. Gäbe die Kirche ihre Rolle als Konterpart der Geldaristokratie auf, so verlöre sie all das, was sie ausmache und was sie im 20. Jahrhundert dann nach und nach tatsächlich verloren hat: »Ließe die Kirche sich herbei, nicht mehr als die seelenvolle Polarität der Seelenlosigkeit zu sein, so hätte sie sich selbst vergessen. Sie wäre das erwünschte Komplement des Kapitalismus geworden, ein hygienisches Institut für die Leiden des Konkurrenzkampfes, ein Sonntagsausflug oder Sommeraufenthalt des Großstädters.« Diese wahrhaft prophetischen Sätze unterstreichen, dass man neben Schmitts Däubler-Buch als romantisch-expressionistischem Pfeiler seines Denkgebäudes den »römischen Katholizismus« als theologisch-katholisches, bisweilen auch katholizistisches Fundament seines Werkes kaum in seiner Bedeutung überschätzen kann. Nicht umsonst wurde gerade diese Schrift einer der wesentlichen Angriffspunkte, denen Schmitt 1936 aus dem »Amt Rosenberg« und seiner nur noch als kurios zu bezeichnenden Ultramontanphobie ausgesetzt war.
Kommen wir zu den im engeren Sinne des Wortes juristischen Schriften Schmitts: Neben seiner Habilitationsschrift von 1914, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, deren rechtsphilosophische Solidität viel zu dem ansetzenden akademischen Ruhm seines Autors beigetragen hat, ist in diesem Zusammenhang die Verfassungslehre von 1928 an erster Stelle zu nennen, Schmitts systematischstes, von einer traumwandlerisch sicheren gedanklichen Reinheit und geistigen Architektur geprägtes Werk. Dieses Buch, das 1948 – welch seltsame zeitliche Koinzidenz – bei der Staatsgründung Israels ebenso Pate stand wie bei den weitgehend fremdbestimmten »Beratungen« auf Herrenchiemsee, enthält wesentliche Elemente der Lehre Schmitts von dem Staat als der politischen Einheit eines Volkes. In der Schmittschen Staatslehre zentrale Begriffe wie Volk, Verfassung, Repräsentation, Homogenität, öffentliche Meinung, Souveränität, Diktatur, Parlamentarismus und Föderalismus werden eingehend erörtert. Die historische Entwicklung Deutschlands von 1815–1848 dient Carl Schmitt als layout für seine berühmte Unterscheidung von Demokratie und Liberalismus. Ohne das Verständnis dieses Unterschiedes kommt man auch heute nicht aus, will man die regelmäßig im Selbstlob erstickenden Beschreibungen des politischen Systems der BRD, wie sie nicht nur an politikwissenschaftlichen Fakultäten dargeboten werden, auf ihre Stichhaltigkeit überprüfen. In dem Spiegel, den Schmitt dem parlamentaristisch geprägten Staat des 19. Jahrhunderts entgegenhält, kann man unschwer auch staatliche Strukturen des 21. Jahrhunderts bzw. das, was von ihnen nach den Stahlbädern des Liberalismus noch übriggeblieben ist, erkennen: »Das Bestreben des bürgerlichen Rechtsstaates geht (aber) dahin, das Politische zurückzudrängen, alle Äußerungen des staatlichen Lebens in einer Reihe von Normierungen zu begrenzen und alle staatliche Tätigkeit in Kompetenzen, d.h. genau umschriebene, prinzipiell begrenzte Zuständigkeiten zu verwandeln. Daraus ergibt sich bereits, dass das Bürgerlich-Rechtsstaatliche nur einen Teil der gesamten Staatsverfassung ausmachen kann, während ein anderer Teil die positive Entscheidung über die Form der politischen Existenz enthält.« Sei eine Nation, also ein »im prägnanten Sinne zu politischem Bewußtsein erwachtes, aktionsfähiges Volk«, zu einer solchen Entscheidung nicht (mehr) in der Lage, verliere es die Fähigkeit, sein politisches Schicksal als handlungsfähiges Subjekt selbst zu bestimmen.
Der bürgerliche Rechtsstaat sei deswegen so problematisch, weil er die individuelle Freiheit des einzelnen gegen die politische Einheit eines Volkes in Stellung bringe. Das liberalistische Grundprinzip, die Unkontrollierbarkeit des zentrifugal-asozial strukturierten Individuums, führe zunächst zu einer Erosion der zentripetal-sozial geprägten staatlichen Substanz und dann zu einer Zerstörung des Politischen. Wer aber wie das liberal-bürgerliche Verfassungsideal nur die Mittel und die Methoden der Kontrolle des Staates, nicht aber den Staat als politische Einheit selbst organisiere, dürfe sich über die Auflösung des Politischen und den Verlust der staatlichen Handlungsfähigkeit nicht wundern.
In Schmitts Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923) kann man nachlesen, warum – eine weitere wesentliche Unterscheidung – der Parlamentarismus, schon nach dem Ersten Weltkrieg ein ideenpolitischer Ladenhüter der Extraklasse, wenig bis nichts mit Demokratie zu tun hat, jedenfalls einer Demokratie, bei der – getreu dem griechischen Vorbild – das Volk herrscht und nicht selbsternannte »Demokraten«: »Es kann eine Demokratie geben ohne das, was man modernen Parlamentarismus nennt und einen Parlamentarismus ohne Demokratie; und Diktatur ist ebensowenig der entscheidende Gegensatz zur Demokratie wie Demokratie der zu Diktatur.« Schmitts Parlamentarismuskritik im engeren Sinne ist nicht unbedingt originell, ältere Klassiker wie Proudhon und Michels haben mitunter die größere Schärfentiefe erreicht. Wichtig ist die 90-Seiten-Schrift aber für das Verständnis von Hegel, Marx und dem, was Karl Löwith als den revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts bezeichnet hat. In einer prägnanten Auseinandersetzung mit Sorel hat Schmitt außerdem die Grundlinien seiner politischen Mythologie skizziert, die er als eigenständiges Werk fortführen wollte, wozu es indes nie kam.
Schmitts Hüter der Verfassung von 1931 enthält seine Kritik an dem pluralistischen Parteienstaat in der Ausprägung der Weimarer Endphase. Unter Pluralismus versteht Carl Schmitt dabei »die Macht mehrerer sozialer Größen über die staatliche Willensbildung«. Erodiere der Staat im Liberalismus durch die Sprengkraft, die von dem unkontrollierten, ich-verpanzerten Individuum ausgehe, so erscheine der Staat im Pluralismus als Beute ebenso unkontrollierbarer wirtschaftlicher oder nicht wirtschaftlicher pressure groups. Jede pluralistische Gruppe beanspruche für sich und ihre Interessen das Zepter der Legalität, um die jeweils andere Gruppe der Illegalität und Verfassungswidrigkeit zu zeihen und sie in eine politische Hors-la-loi-Position (eine »außerhalb des Gesetzes«) zu drängen. Zwischen diesen Mühlsteinen des pluralistischen Kampfes um die Legalität werde dann am Ende der Staat und »die Verfassung selbst zerrieben.«
Ein Buch, das in dieser kleinen, mit dem unvermeidbaren Mut zur Lücke operierenden tour d’horizon durch Carl Schmitts Werk sicher nicht fehlen darf, ist schließlich der Nomos der Erde. Es ist die Frucht einer eingehenden Befassung mit dem europäischen Völkerrecht, auf die Schmitt im Jahre 1936 nach seinem ebenso kurzen wie gescheiterten Ritt auf dem braunen Tiger seinen wissenschaftlichen Schwerpunkt verlegt hatte. Der Rang des europäischen Völkerrechts sei – so die Kernthese Schmitts – davon gekennzeichnet, daß es ihm an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert gelungen sei, den Krieg zu hegen: »Das Wesen des europäischen Völkerrechts war die Hegung des Krieges. Das Wesen solcher Kriege war ein geordnetes, in einem gehegten Raum vor Zeugen sich abspielendes Messen der Kräfte. Solche Kriege sind das Gegenteil von Unordnung. In ihnen liegt die höchste Form der Ordnung, deren menschliche Kraft fähig ist … Die Beseitigung oder Vermeidung des Vernichtungskrieges ist nur dadurch möglich, daß eine Form für das Messen der Kräfte gefunden wird. Dieses wiederum ist nur dadurch möglich, daß der Gegner als Feind auf gleicher Ebene, als justus hostis anerkannt wird. Damit ist die Grundlage einer Hegung gegeben … Eine Einhegung, nicht die Abschaffung des Krieges war bisher der eigentliche Erfolg des Rechts, war bisher die einzige Leistung des Völkerrechts.« Diese gehegte Welt sei am Ende des 19. Jahrhunderts und dann in einem finale furioso der besonderen Art, im Ersten Weltkrieg, in sich zusammengebrochen. Seither herrsche der »diskriminierende Kriegsbegriff«, geprägt von dem (Irr-)Glauben, daß der Kriegsgegner ein zu vernichtender Verbrecher sei, gegen den – tantum licet in bello iusto – jedes Mittel erlaubt sei. In der Welt, in der wir leben, in der ein »war to end all wars« (Franklin Delano Roosevelt) den anderen ablöst und in der das Völkerrecht nur noch als Maske dient, hinter der rechtsfeindliche Imperialstrukturen ihre Machtansprüche verfolgen, ist Schmitts Nomos von bestechender Aktualität. Das Buch kann aber auch deswegen als Klassiker angesehen werden, weil es Geistesgeschichte mit Geopolitik paart und mit dieser geistesgeographischen Methode die gänzlich verschiedene Auffassung, die Kontinentaleuropäer einerseits und angloamerikanische Seemächte andererseits von Recht haben (Land und Meer), präzise herausarbeitet. Dabei erfahren die Vereinigten Staaten von Amerika und ihr im 19. Jahrhundert angemeldeter und im 20. Jahrhundert eingelöster Anspruch, das alte Europa und eine aus römischen Quellen gespeiste, europazentrisch geprägte Rechtsordnung abzulösen, eine eingehende Betrachtung. Das erst jüngst wieder eindrucksvoll demonstrierte »hang him high«-Straf- und Völkerrechtsverständnis der USA und deren calvinistisch-puritanisch geprägtes Bewußtsein von der eigenen Auserwähltheit werden hierbei einer Kritik unterzogen, bei der literarische Gewandtheit und juristische Präzision in einer Weise amalgamiert werden, wie sie für Carl Schmitt typisch ist.