KR-imis von Gunnar Kunz und Wolfgang Brenner

pdf der Druckfassung aus Sezession 44 / Oktober 2011

September 1923: Die Franzosen haben das Ruhrgebiet besetzt. Dennoch...

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

beschat­tet die Ber­li­ner Poli­zei in Essen einen Mann, der in einen Mord­fall ver­wi­ckelt sein soll. Quandt heißt er, und vor dem Haupt­post­amt wird er auf­ge­for­dert, vom Bür­ger­steig zu tre­ten, um einen fran­zö­si­schen Offi­zier durch­zu­las­sen. Er wei­gert sich jedoch, dem »fran­zö­si­schen Schwei­ne­hund« Platz zu machen. »Der Offi­zier, der die Wor­te anschei­nend ver­stan­den hat­te, griff wut­ent­brannt nach sei­ner Reit­peit­sche. Horst Quandt ent­riß sie ihm, zog sie ihm quer über das Gesicht und tauch­te in der applau­die­ren­den Men­ge unter, ehe der beglei­ten­de Sol­dat reagie­ren konnte.«

Gun­nar Kunz, der Autor der Kri­mi­nal­ge­schich­te Infla­ti­on!, hat sei­nen Ernst von Salo­mon gele­sen: Die Sze­ne mit der Reit­peit­sche ist im Roman Die Geäch­te­ten aus­führ­lich geschil­dert, der Wider­ständ­ler heißt dort nicht Quandt, son­der Kern – es ist jener Erich Kern, der das Atten­tat auf Wal­ter Rathen­au durch­führ­te. Die­ser Mord bil­det den Hin­ter­grund zu einem wei­te­ren Kri­mi aus der Feder von Kunz: Orga­ni­sa­ti­on C. heißt er (2007, 212 S., 9.90 €), und für jeden, der Inter­es­se an den Kampf­bün­den der Zwi­schen­kriegs­zeit hat, ist das ein Signal­be­griff: Orga­ni­sa­ti­on Con­sul, das halb­ge­hei­me Netz­werk des Frei­korps­füh­rers Kapi­tän Ehrhardt.
Es ist ein Feme­mord an einem Ver­rä­ter aus den Rei­hen der O.C., den Haupt­kom­mis­sar Gre­gor Lili­en­thal auf­zu­klä­ren hat – unter­stützt von einer Freun­din und sei­nem Bru­der Hen­drik, der Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät in Ber­lin lehrt. Der Phi­lo­soph ist links­li­be­ral, Dia­na bei­na­he kom­mu­nis­tisch, Gre­gor hin­ge­gen objek­tiv, sach­lich, sprö­de – ein Bil­der­buch­be­am­ter, ein wort­kar­ger Kriegsheimkehrer.
Gun­nar Kunz hat bis­her drei Kri­mis vor­ge­legt, die in den frü­hen zwan­zi­ger Jah­ren, den Revo­lu­ti­ons- und Kri­sen­jah­ren spie­len (bereits 2006: Dunk­le Tage, 191 S., 9.90 €), und man wird das Gefühl nicht los, daß sich der Autor sei­ne Sym­pa­thie für die ver­ra­te­ne Kriegs­ge­nera­ti­on ein wenig vom Lei­be hält, indem er sein Per­so­nal von links her die Ver­wer­fun­gen der Zeit kom­men­tie­ren läßt. Dies stört jedoch kei­nes­wegs die Fähig­keit des Autors, das täg­li­che Leben authen­tisch dar­zu­stel­len. Der Phi­lo­soph und Dia­na krau­chen nachts über Kar­tof­fel­fel­der, um ein paar Knol­len für eine Mahl­zeit zu fin­den, ste­hen mit einer Akten­ta­sche vol­ler Geld beim Krä­mer an, lau­schen im Zug den Schie­ber­ge­schich­ten, den Hun­ger­ge­schich­ten, den Berich­ten von Ver­ro­hung und Hoff­nungs­lo­sig­keit. Hen­drik erteilt einem blitz­ge­schei­ten Arbei­ter­jun­gen kos­ten­lo­sen Pri­vat­un­ter­richt, und wenn die­ser Kna­be bis­her beim Phi­lo­so­phen in der Küche saß, um eine hei­ße Scho­ko­la­de zu trin­ken, dann kommt jener nun sehr gern zum Haus­be­such, weil die gro­ße Schwes­ter sei­nes Schü­lers beim Bau­er arbei­tet und nicht mit wert­lo­sen Geld­bün­deln, son­dern mit Eiern und Gemü­se, Speck und Milch aus­be­zahlt wird.
Wie genau Kunz Zei­tun­gen und All­tags­be­rich­te der dama­li­gen Zeit aus­ge­wer­tet hat, zeigt auch sei­ne Schil­de­rung einer frü­hen anti­se­mi­ti­schen Aus­schrei­tung im Ber­li­ner Scheu­nen­vier­tel. 140 Mil­li­ar­den Mark kos­te­te am 5. Novem­ber 1923 ein Brot, und als das Gerücht die Run­de mach­te, ein jüdi­scher Händ­ler habe einen Arbeits­lo­sen betro­gen, ran­da­lier­te eine auf­ge­brach­te Men­ge. Selbst die blu­ti­ge Ver­tei­di­gung eines Geschäfts durch einen jüdi­schen Flei­scher beschreibt Kunz exakt ent­lang his­to­ri­scher Quellen.
Ähn­lich gelun­gen zeich­net der Ket­ten­ro­man Es geschah in Ber­lin aus dem Jaron Ver­lag das Lokal­ko­lo­rit jener Zeit: Kom­mis­sar Kap­pe löst aus der Feder ver­schie­de­ner Autoren (unter ande­rem ist das Kri­mi­ur­ge­stein Horst Bosetz­ky, Kür­zel ‑ky, dabei) alle zwei Jah­re einen Fall; begin­nend 1910, ist er mitt­ler­wei­le im Zwei­ten Welt­krieg ange­kom­men. Von Wolf­gang Bren­ner kommt Kap­pes ach­ter Fall: Stin­nes ist tot, im Mit­tel­punkt steht neben Kap­pe eine der Töch­ter des Wirt­schafts­ba­rons, Clä­reno­ra Stin­nes. Sie steckt in den letz­ten Vor­be­rei­tun­gen für ihre Welt­um­run­dung per Auto­mo­bil (das ist his­to­risch, das gelang ihr tat­säch­lich), und der Leser ist ver­blüfft über die Moder­ni­tät des rei­chen Milieus jen­seits der Infla­ti­on und des tag­täg­li­chen Hun­gers. Män­ner­asyle, Hin­ter­hö­fe, Stra­ßen­strich, Behör­den – und im Hin­ter­grund das geheim­ge­hal­te­ne Doku­ment eines letz­ten Gesprächs zwi­schen Stin­nes und Rathen­au, in dem der Außen­mi­nis­ter das Schei­tern der Erfül­lungs­po­li­tik ein­ge­stand und den Deut­schen einen zwei­ten Waf­fen­gang emp­feh­len woll­te. Tags dar­auf wur­de er umgebracht …
Man liest die­se Kri­mis mit dem Geschichts­buch auf dem Schoß und freut sich, wenn Salo­mon oder Jün­ger, Bron­nen oder Heinz durch­blit­zen. Oder wenn im Laza­rett ein ver­wun­de­ter Sol­dat den Kom­mis­sa­ren eine rasch ange­fer­tig­te Zeich­nung reicht (Nach Ver­dun. Kap­pes vier­ter Fall, Ber­lin 2008. 207 S., 7.95 €). Nur mit Mühe kön­nen sie den Namen des mäßig begab­ten Künst­lers ent­zif­fern: Adolf Hitler.

Gun­nar Kunz: Infla­ti­on! Kri­mi­nal­ro­man, Erfurt: Sut­ton 2011. 214 S., 12 €

Wolf­gang Bren­ner: Stin­nes ist tot. Kap­pes ach­ter Fall, Kri­mi­nal­ro­man, Ber­lin: Jaron 2009. 207 S., 7.95 €

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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