beschattet die Berliner Polizei in Essen einen Mann, der in einen Mordfall verwickelt sein soll. Quandt heißt er, und vor dem Hauptpostamt wird er aufgefordert, vom Bürgersteig zu treten, um einen französischen Offizier durchzulassen. Er weigert sich jedoch, dem »französischen Schweinehund« Platz zu machen. »Der Offizier, der die Worte anscheinend verstanden hatte, griff wutentbrannt nach seiner Reitpeitsche. Horst Quandt entriß sie ihm, zog sie ihm quer über das Gesicht und tauchte in der applaudierenden Menge unter, ehe der begleitende Soldat reagieren konnte.«
Gunnar Kunz, der Autor der Kriminalgeschichte Inflation!, hat seinen Ernst von Salomon gelesen: Die Szene mit der Reitpeitsche ist im Roman Die Geächteten ausführlich geschildert, der Widerständler heißt dort nicht Quandt, sonder Kern – es ist jener Erich Kern, der das Attentat auf Walter Rathenau durchführte. Dieser Mord bildet den Hintergrund zu einem weiteren Krimi aus der Feder von Kunz: Organisation C. heißt er (2007, 212 S., 9.90 €), und für jeden, der Interesse an den Kampfbünden der Zwischenkriegszeit hat, ist das ein Signalbegriff: Organisation Consul, das halbgeheime Netzwerk des Freikorpsführers Kapitän Ehrhardt.
Es ist ein Fememord an einem Verräter aus den Reihen der O.C., den Hauptkommissar Gregor Lilienthal aufzuklären hat – unterstützt von einer Freundin und seinem Bruder Hendrik, der Philosophie an der Universität in Berlin lehrt. Der Philosoph ist linksliberal, Diana beinahe kommunistisch, Gregor hingegen objektiv, sachlich, spröde – ein Bilderbuchbeamter, ein wortkarger Kriegsheimkehrer.
Gunnar Kunz hat bisher drei Krimis vorgelegt, die in den frühen zwanziger Jahren, den Revolutions- und Krisenjahren spielen (bereits 2006: Dunkle Tage, 191 S., 9.90 €), und man wird das Gefühl nicht los, daß sich der Autor seine Sympathie für die verratene Kriegsgeneration ein wenig vom Leibe hält, indem er sein Personal von links her die Verwerfungen der Zeit kommentieren läßt. Dies stört jedoch keineswegs die Fähigkeit des Autors, das tägliche Leben authentisch darzustellen. Der Philosoph und Diana krauchen nachts über Kartoffelfelder, um ein paar Knollen für eine Mahlzeit zu finden, stehen mit einer Aktentasche voller Geld beim Krämer an, lauschen im Zug den Schiebergeschichten, den Hungergeschichten, den Berichten von Verrohung und Hoffnungslosigkeit. Hendrik erteilt einem blitzgescheiten Arbeiterjungen kostenlosen Privatunterricht, und wenn dieser Knabe bisher beim Philosophen in der Küche saß, um eine heiße Schokolade zu trinken, dann kommt jener nun sehr gern zum Hausbesuch, weil die große Schwester seines Schülers beim Bauer arbeitet und nicht mit wertlosen Geldbündeln, sondern mit Eiern und Gemüse, Speck und Milch ausbezahlt wird.
Wie genau Kunz Zeitungen und Alltagsberichte der damaligen Zeit ausgewertet hat, zeigt auch seine Schilderung einer frühen antisemitischen Ausschreitung im Berliner Scheunenviertel. 140 Milliarden Mark kostete am 5. November 1923 ein Brot, und als das Gerücht die Runde machte, ein jüdischer Händler habe einen Arbeitslosen betrogen, randalierte eine aufgebrachte Menge. Selbst die blutige Verteidigung eines Geschäfts durch einen jüdischen Fleischer beschreibt Kunz exakt entlang historischer Quellen.
Ähnlich gelungen zeichnet der Kettenroman Es geschah in Berlin aus dem Jaron Verlag das Lokalkolorit jener Zeit: Kommissar Kappe löst aus der Feder verschiedener Autoren (unter anderem ist das Krimiurgestein Horst Bosetzky, Kürzel ‑ky, dabei) alle zwei Jahre einen Fall; beginnend 1910, ist er mittlerweile im Zweiten Weltkrieg angekommen. Von Wolfgang Brenner kommt Kappes achter Fall: Stinnes ist tot, im Mittelpunkt steht neben Kappe eine der Töchter des Wirtschaftsbarons, Clärenora Stinnes. Sie steckt in den letzten Vorbereitungen für ihre Weltumrundung per Automobil (das ist historisch, das gelang ihr tatsächlich), und der Leser ist verblüfft über die Modernität des reichen Milieus jenseits der Inflation und des tagtäglichen Hungers. Männerasyle, Hinterhöfe, Straßenstrich, Behörden – und im Hintergrund das geheimgehaltene Dokument eines letzten Gesprächs zwischen Stinnes und Rathenau, in dem der Außenminister das Scheitern der Erfüllungspolitik eingestand und den Deutschen einen zweiten Waffengang empfehlen wollte. Tags darauf wurde er umgebracht …
Man liest diese Krimis mit dem Geschichtsbuch auf dem Schoß und freut sich, wenn Salomon oder Jünger, Bronnen oder Heinz durchblitzen. Oder wenn im Lazarett ein verwundeter Soldat den Kommissaren eine rasch angefertigte Zeichnung reicht (Nach Verdun. Kappes vierter Fall, Berlin 2008. 207 S., 7.95 €). Nur mit Mühe können sie den Namen des mäßig begabten Künstlers entziffern: Adolf Hitler.
Gunnar Kunz: Inflation! Kriminalroman, Erfurt: Sutton 2011. 214 S., 12 €
Wolfgang Brenner: Stinnes ist tot. Kappes achter Fall, Kriminalroman, Berlin: Jaron 2009. 207 S., 7.95 €