Zu Recht hatte schon Hugo Ball in seinem 1924 verfaßten Essay Carl Schmitts Politische Theologie gerade die »inquisitorische Intelligenz« des großen Gelehrten gerühmt. Der fühlte sich erkannt und befand noch Jahrzehnte später, dies sei ein »großartiger, brillanter Aufsatz gewesen, wie ich ihn in meinem Leben kaum zum zweiten Mal erhalten habe.«
Als »Theologe der Jurisprudenz« legitimierte sich Schmitt aus den Ursprungsmächten der modernen Rechtswissenschaft selbst: der römischen Kirche und dem römischen Recht. Nach einem Jahrhundert erbitterter Religionskriege kam der Auszug der Juristen aus der depotenzierten Kirche in den souveränen Staat zwar einem »Exodus von einem heiligen Berg in den Bereich des Profanen« gleich, doch hatten sie manche Heiligtümer mit sich genommen und besetzten seither theologisch geräumte Positionen. Insofern nimmt es nicht wunder, daß »alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe« sind.
In seiner Begriffssoziologie rekonstruierte Schmitt den historischen Prozeß der Bedeutungsübertragung zwischen Grundbegriffen beider Disziplinen, wodurch sich etwa der »allmächtige Gott« zum »omnipotenten Gesetzgeber« verweltlichte, und in eins damit analysierte er deren systematische Struktur, um charakteristische Bedeutungsanalogien, wie die zwischen dem »Ausnahmezustand« der Staatsrechtslehre und dem »Wunder « der Theologie, sichtbar zu machen. Die säkulare Fortgeltung theologischer Kategorien beschränkte sich indessen nicht auf juristische und politische Begriffe, sondern erstreckte sich auf den neuzeitlichen Säkularisierungsprozeß im ganzen. Dieser vollzog sich nicht einfach als »Entgöttlichung und Entchristlichung der Welt«, sondern immer auch als »Selbstermächtigung des Menschen« zu innerweltlichem Heilsstreben. Humanistisch wurde ein evolutionärer oder auch revolutionärer Fortschrittsglaube gestiftet, der doch »nur säkularisiertes Judentum und Christentum war und seine ›Eschata‹ von dort bezog.« Wenn das ökonomische »Zeitalter der Sekurität« zunächst von einer »dumpfen Religion der Technizität« geprägt war, welcher das »Paradies einer technisierten Erde und einer durchorganisierten Menschheit« vor Augen stand, so sollte nach den Erschütterungen des Ersten Weltkrieges eine politische Mobilisierung religiöser Endzeitvorstellungen zunehmend an die Stelle ihrer ökonomischen Neutralisierung treten.
Mit seiner 1922 erschienenen Politischen Theologie setzte Schmitt, der durch die deutsche Revolution von 1918 aus seinem liberalen Schlummer gerissen wurde, ein leuchtendes Fanal, das als programmatische Erwiderung auf diese epochale Herausforderung verstanden werden muß. Immerhin hatte er seinen wirkmächtigen Begriff dem geistigen Waffenarsenal Bakunins entwendet, dessen »anti-theologischer« Anarchismus ihm das wahre Wesen der marxistischen Revolution zu erschließen schien. Noch in seinen späten Gesprächen mit Jacob Taubes zeigte Schmitt »Furcht und Angst vor dem Sturm, der im säkularisierten messianischen Pfeil des Marxismus lauerte.«
Aber nicht nur der Marxismus, auch der mit ihm brüderlich verfeindete Nationalsozialismus war, was Schmitt unterschätzte, erfüllt von einem chiliastischen Messianismus jüdischen Ursprungs: Der revolutionären Mission der proletarischen Klasse, ein Zeitalter des Friedens und der Gerechtigkeit zu erkämpfen, stellte das auserwählte Volk der Deutschen den Kampf um ein Tausendjähriges Reich entgegen. So zog gerade im liberalen »Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen« ein neues »politisch-theologisches Zeitalter« herauf, welches schließlich in einen europäischen und weltweiten Bürgerkrieg zwischen den politischen Bruderreligionen mündete. Für Schmitt wiederholten sich in diesem Kampf der Ideologien »mit säkularen Parolen und in globalen Dimensionen« nur die Konfessionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts.
Bereits gegen Ende des Weimarer Interregnums wurde ihm zur unumstößlichen Gewißheit, daß eine heillose Welt, in der die zu einer politischen Existenz verurteilte Menschheit sich notwendig in Freund- und Feind-Gruppierungen zerspalten mußte, allein durch die heilsame Herrschaft eines autoritären Staates erträglich zu gestalten sei. Dieser würde absoluten Gehorsam fordern und dafür absolutistischen Schutz bieten, im Ernstfall aber seine Souveränität in der Schlichtung des Bürgerkrieges und der Wiederherstellung des Friedens bewähren. Nicht ganz zu Unrecht sah Helmut Schelsky in Schmitt »den deutschen Hobbes des 20. Jahrhunderts«. Indessen hatte der liberale Verfall des »Leviathan« vom dezisionistischen Ordnungsstaat zu einem mechanisierten Staatsbetrieb, der das gebändigte Übel indirekter religiöser und sozialer Gewalten erneut hervorbrechen ließ, längst die politische Legitimationskrise der europäischen Neuzeit offenbart.
Schmitt mußte es naheliegen, der durch die »judenchristlich« inspirierte deutsche Reformation eingeläuteten Trennung von Religion und Staat das europäische Ordnungsdenken des römischen Katholizismus mahnend vorzuhalten, dessen »heidenchristliche« Einheit von Kirche und Reich bis dahin allen historischen Umwälzungen getrotzt hatte. Bei aller Affinität zu dem reaktionären Staatstheologen Donoso Cortés verkannte er jedoch nicht, daß dessen Glaubenskampf für die Wahrheit der Kirche unweigerlich den Frieden im Staate bedrohen würde. Angesichts solcher Gefahr empfahl Schmitt einen etatistisch geläuterten und in »politische Form« gebrachten Katholizismus, der freilich das Opfer jener notorisch in Wahrheitsfanatismus überschießenden Glaubensgehalte erbringen mußte, die bereits die schlimmsten Religionskriege entfesselt hatten, und deren eschatologischer Glutkern nunmehr den permanenten Terror revolutionärer Bürgerkriegsparteien entflammte. Um so entschlossener suchte Schmitt nach einer Instanz, die diesen hybriden Beschleunigern des Menschheitsfortschritts Einhalt gebieten könnte. »Konservativ-heidnische« Forderungen nach »haltenden Mächten« waren bereits im Umkreis der Konservativen Revolution erhoben worden, aber Schmitt stieß erst 1932 bei Paulus auf deren »authentisch-christliches Modell«.
Im zweiten Brief an die Thessalonicher weist der Apostel die Naherwartung des messianischen Zeitalters, die zugleich Angst und Schrecken vor der Apokalypse auslöste, als Irrlehre zurück und erteilt der Gemeinde die Belehrung, vor Christi Wiederkunft werde erst der große Abfall von Gott eintreten und der Widersacher erscheinen, und auch dieser werde vorerst noch »zurückgehalten«. Diese rätselhafte Macht eines »Aufhalters« (»Katechon«), die seit Tertullian und Hippolyt mit dem Römischen Reich identifiziert wurde, schien einer bis ins hohe Mittelalter wirkenden Reichstheologie den Aufschub der Endzeit zu gewährleisten. Die aufgrund der Parusieverzögerung eingetretene »eschatologische Lähmung« der historischen Perspektive des frühen Christentums war auch Schmitt eine Lehre, den »Katechon« als einen »heilsgeschichtlichen Halt« anzuerkennen, welcher die »geschichtliche Idee von Europa vor der Verzweiflung bewahren« könnte. Allerdings brachte Schmitts große Illusion, das »Dritte Reich« zu katechontischen Diensten verpflichten zu können, den »Kronjuristen« zu Fall, denn die »völkische Bewegung« des antichristlich-revolutionären Nationalsozialismus fühlte sich von Schmitts katholisch-etatistischer Idee eines »totalen Staates« zu Recht »aufgehalten«. Ernüchtert zog sich Schmitts Politische Theologie nach der deutschen Katastrophe auf die metapolitische Doktrin eines nicht mehr an Kirche, Staat oder Reich gebundenen Aufhalters zurück, wodurch auch sein persönliches Credo eine reduzierte und resignierte Gestalt annahm: »Ich glaube an den Katechon «. In der Tat konnte ein heroisch zugerüstetes Christentum, welches nur mehr »das Ende aufzuhalten und den Bösen niederzuhalten« hatte, in seinem Wesenskern »keine Moral, keine Bußpredigt und keine Religion« mehr sein.
Nirgends fand Schmitt seinen schwarzen Katholizismus so schlagend versinnbildlicht wie in Dostojewskis Legende vom Großinquisitor. Zur Zeit der schrecklichsten Inquisition, im Sevilla des 16. Jahrhunderts, erscheint Christus. Der greise Großinquisitor läßt den von der Menge bejubelten Wundertäter in den Kerker sperren und hält dem immerfort Schweigenden eine lange Rede: Christus habe zu hoch von den Menschen gedacht und ihnen eine Freiheit geschenkt, der sie nicht gewachsen gewesen seien und die sie nur zu Aufruhr, Anarchie und Atheismus verführt habe. Aus Liebe und Mitleid mit den Menschen mußte er darum selbst einen Pakt mit dem Teufel schließen: »Dostojewskis Großinquisitor bekennt, den Versuchungen des Satans gefolgt zu sein, weil er weiß, daß der Mensch von Natur böse und niedrig ist, ein feiger Rebell, der eines Herren bedarf, und weil nur der römische Priester den Mut findet, die ganze Verdammnis auf sich zu nehmen, die zu solcher Macht gehört.« Weil der Kardinal, ganz wie Schmitt, sich an die Inkarnation Christi als »ein historisches Ereignis von unokkupierbarer Einmaligkeit« hält, muß er Christi Wiederkunft zur Häresie erklären, denn nur als Aufhalter Christi ad maiorem Dei gloriam kann die Kirche die Menschen vor sich selbst schützen und ihnen das allein zuträgliche Herdenglück von Frieden und Sicherheit gewähren. In einem von untergründiger Verzweiflung diktierten Imperativ des Großinquisitors liegt Schmitts ganze »katholische Verschärfung« beschlossen: »Warum bist Du gekommen, uns zu stören? – Geh, und komm nie, nie mehr wieder!«
Wenn, einer Einsicht Günter Maschkes zufolge, Schmitts gesamtes Werk insgeheim die fiktive Konfrontation zwischen dem »vollendeten Reformator « Hobbes und dem katholischen Theokraten Cortés in sich austrägt, dann wächst der Figur des Großinquisitors eine um so bedeutsamere Mittlerrolle zu. Schmitt selbst resümiert: »Wer ist dem Großinquisitor Dostojewskis näher: die römische Kirche oder der Souverän des Thomas Hobbes? Reformation und Gegenreformation erweisen sich als richtungsverwandt«, denn »Hobbes spricht aus, was Dostojewskis Großinquisitor tut: die Wirkung Christi im sozialen und politischen Bereich unschädlich machen; das Christentum ent-anarchisieren, ihm aber im Hintergrunde eine gewisse legitimierende Wirkung zu belassen.«
Unter solcher katechontischen Verpanzerung des Christentums findet sich dessen frohe Botschaft als honorige, aber obsolete Utopie begraben. Bereits Hobbes erhob mit »Jesus is the Christ« als einer Papismus und Puritanismus politisch neutralisierenden Friedensformel kaum mehr einen christlichen Wahrheitsanspruch, und im gegenrevolutionären Denken nach Cortés trat ein katholischer Agnostizismus zutage, der schließlich in Maurras’ Bekenntnis gipfelte: »Je suis athée, mais je suis catholique.« Für Armin Mohler gibt es auch bei Schmitt nur mehr ein »Christentum ohne Christus«, und Taubes fürchtete in Schmitt sogar einer »Inkarnation« des Dostojewskischen Großinquisitors selbst gegenüberzustehen. Dessen »Geheimnis« enthüllt das Ende der Legende: Der Kardinal hat den Glauben an Gott verloren und harrt doch auf seinem noch keineswegs verlorenen Posten aus, denn um der Menschen willen gilt es, den ordo mit aller Macht aufrechtzuerhalten, und sei es durch Priesterbetrug.
In geistiger Vereinsamung, in die ihn sein verschärfter Katholizismus eingestandermaßen getrieben hatte, laborierte Schmitt an seiner Politischen Theologie II, die mit einer späten Replik auf Erik Petersens 1935 angestrengte »Erledigung jeder Politischen Theologie« einsetzt und sodann in eine aktuelle Kritik an Hans Blumenbergs philosophischer Legitimation der Neuzeit übergeht. Am Schluß der 1970 erschienenen Selbstapologie jedoch begegnet Schmitt in Gestalt des existentiellsten theologischen Feindes seiner eigensten Frage wieder: Schon der junge Schmitt hatte sich zuweilen zum Gnostiker und sogar zum Atheisten erklärt, der allenfalls an einen »boshaften Schöpfer dieser Welt« noch glauben mochte. Der späte Schmitt stellt sich endlich offen der Herausforderung, seinen illusionslosen Katholizismus vor gnostischer oder atheistischer Weltverzweiflung zu bewahren.
Ein Wort des alten Kirchenlehrers Gregor von Nazianz taugt ihm vorzüglich dazu, die Heillosigkeit der Welt auf den theologischen Begriff zu bringen: »Das Eine – to Hen – ist immer in Aufruhr – stasiatson – gegen sich selbst – pros heauton.« Gemäß dem dialektischen Doppelsinn des griechischen Ausdrucks stasis, der zugleich »Ruhe« und »Aufruhr« bedeutet, entwickelt Schmitt aus diesem inneren Widerstreit des Göttlichen »eine wahre politisch-theologische ›Stasiologie‹«. Nur so ließ sich der bestechenden Irrlehre der Gnosis, daß »ein allmächtiger, allwissender und allgütiger Gott für die von ihm geschaffene Welt nicht mit einem Erlösergott identisch sein kann«, überzeugend Paroli bieten. Unerschrocken spricht Schmitt die Wahrheit aus, über welche die kirchliche Dogmatik scholastisch betrügt: daß das Problem der Theodizee nicht lösbar ist, solange der tiefste Grund des unde malum nicht in Gott selbst gesucht wird. Indem Schmitt die gnostische Zerrissenheit in die Einheit Gottes zurückbannt, widersteht er der Versuchung eines radikalen dualistischen Zerfalls, der Marcion in seinem Mythos des Kalten Krieges zwischen einem liebenden Erlösergott und einem strengen Schöpfergott erlegen war. Aber unweigerlich muß Schmitts Überspannung des »Gottmenschen« Christus zu dessen inwendiger Spaltung führen: in einen dank der Kirche siegreichen »Gott«, und in einen gegen dessen Herrschaft in urprotestantischer Heilssuche leidend rebellierenden »Menschen«.
So bereitet der göttliche Aufruhr den menschlichen Fall in die heillose Säkularität allemal selbst vor und beschwört letztlich noch die Selbstermächtigung des neuzeitlichen Menschen herauf. Gleichwohl kann der Stifter dieser »Pseudo-Religion der absoluten Humanität«, deren Wesen sich in den apokalyptischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts offenbarte, nur der »Sohn des Verderbens, der Widersacher« sein, der sich »in den Tempel Gottes setzt und sich als Gott ausgibt.« Indem Schmitts »Stasiologie « noch die Herrschaft des Antichristen aus der Zwiespältigkeit des Einen Christus hervorgehen läßt, versöhnt sie den scheiternden Katechon wiederum mit dem göttlichen Heilsplan.