bestimmte politisch und ideologisch der Kalte Krieg die Lage. Aber hinter den Kulissen bahnte sich ein Wandel an. Auf der Außenministerkonferenz in Genf – dem letzten Versuch der Alliierten, unter Einbeziehung von BRD und DDR eine Lösung der Deutschen Frage herbeizuführen – war es zu einer Annäherung zwischen der Sowjetunion und den USA gekommen. Der Begriff »détente« – »Entspannung« kam in Gebrauch, womit faktisch die Übereinkunft der Supermächte gemeint war, sich gegenseitig den Bestand ihrer Einflußgebiete (in Europa) zu garantieren und keinen gewaltsamen Versuch zur Destabilisierung des gegnerischen Zentrums zu machen. In den Vereinigten Staaten sollte der neugewählte Präsident Kennedy kurz darauf das Projekt der grand society, der inneren Reformen und des sozialen Umbaus der Gesellschaft, verkünden, in der UdSSR wurde mit einer vorsichtigen Liberalisierung des Systems experimentiert.
Wer in der Bundesrepublik diese Entwicklung begrüßte, war naiv, nahm die Parolen zum Nennwert, durchschaute die dahinter stehenden Interessen nicht oder war entschlossen, seine eigenen unter den veränderten Bedingungen voranzubringen. Das galt vor allem für die »’45er«, eine Bezeichnung, die Carl Schmitt den Profiteuren des deutschen Zusammenbruchs angeheftet hatte, deren Triumph wesentlich beschnitten worden war durch die Zwänge des Ost-West-Konflikts: die Plausibilität des Antikommunismus einerseits, die Notwendigkeit, der Liberalisierung Grenzen zu ziehen, um die Verteidigungsfähigkeit zu sichern andererseits. Jetzt löste sich der Konsens, der bis zum Ende der fünfziger Jahre bestimmend gewesen war, auf – ein Vorgang, der nicht nur mit dem Nachdrängen der jungen Generation und dem Wirtschaftswunder zu tun hatte, sondern auch mit der neuen politischen Lage. Wenn Schmitt das »Erkenne die Lage!« zur ersten Forderung politischer Analyse erhoben hatte, ergab sich daraus aber keineswegs zwingend nur eine denkbare Reaktion.
Das Gemeinte kann man an den 1959 erschienenen Büchern von Reinhart Koselleck und Hanno Kesting ablesen, die zu den begabtesten Schülern Schmitts in der Nachkriegszeit gehörten. Was Kosellecks Kritik und Krise mit Kestings Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg verband, war die Aufnahme eines entscheidenden Theorems von Schmitt: daß die politische Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert nicht anders zu erklären sei als durch die Annahme eines Zersetzungsprozesses jener Staatlichkeit, die gerade erst mit der Befriedung der Konfessionen gewonnen worden war. Grund für die Zersetzung sei der Aufstieg neuer »Zwischengewalten« gewesen, die zwar anders operierten als die Kirche oder die Feudalherren des Mittelalters, aber für den Staat ungleich gefährlicher waren. Sie kombinierten ihre ökonomische Macht nämlich mit einem neuen Glauben – dem an den »Fortschritt« –, der sich nicht mehr durch die üblichen Methoden abweisen ließ.
Koselleck und Kesting gehörten auch zum Freundeskreis von Nicolaus Sombart, mit dem sie im Chaos der Nachkriegszeit bei Alfred Weber das Studium in Heidelberg begonnen hatten. Durch Sombart war der Kontakt zu Schmitt vermittelt worden, der über kein Amt mehr verfügte, aber einen bemerkenswerten Einfluß auf Teile der jungen westdeutschen Intelligenz ausübte. Die drei betrachteten sich vor allem als Überlebende, Davongekommene; sie bildeten eine Clique, die zusammen lebte, feierte, soff, lernte, debattierte und sich halb im Spaß, halb im Ernst »Archiv für Raumplanung und Weltbürgerkrieg « nannte. Man pflegte einen sehr intensiven Austausch, nahm an den Ferienseminaren Teil, die Schmitts »Hof« (Dirk van Laak) veranstaltete, und besuchte regelmäßig den »geheime[n] Principe im unsichtbaren Reich deutscher Geistigkeit«, wie Kesting Schmitt bezeichnete.
Allerdings zeigte sich früh, daß Sombarts Leichtfertigkeit in deutlichem Gegensatz zu den Anstrengungen von Koselleck und Kesting stand, die nach einem Neuansatz suchten und dabei von Schmitt die entscheidenden Anregungen erhielten. Nur entschied sich der eine für den verdeckten, der andere für den offenen Angriff – ein Sachverhalt, der nicht sofort erkennbar wurde, wie man der Polemik von Jürgen Habermas gegen Kosellecks Buch, seinem relativen Wohlwollen gegenüber Kestings entnehmen kann. Jedenfalls war für Koselleck typisch das Verklausulierte in Wortwahl und Argumentation, die Art, Ungeheuerlichkeiten – zum Beispiel den Einfluß der Freimaurerei auf die Vorbereitung der Französischen Revolution – zu präsentieren, aber die Schlußfolgerung abzuschneiden oder ins Harmlose umzubiegen. Demgegenüber neigte Kesting zu einer Unverhohlenheit, die selbst in der vergleichsweise freien Atmosphäre der Zeit etwas Halsbrecherisches hatte. Vor allem lehnte er die dogmatische Auffassung ab, daß sich der Sinn des historischen Prozesses in der deutschen Niederlage offenbart habe. Kesting vertrat vielmehr die Ansicht, daß seit der Aufklärung eine globale Auseinandersetzung zwischen ideologischen Lagern geführt werde, jeweils bewaffnet mit einer Geschichts- als Bürgerkriegsphilosophie. Dabei siegten zuletzt die feindlichen Brüder der linken Partei (kapitalistische Demokratie und Sowjetsystem) über die rechte Partei (zuletzt in Gestalt von Faschismus und Nationalsozialismus), deren Bündnis dann angesichts des Triumphes über den gemeinsamen Feind zerfiel. Noch beunruhigender als diese Deutung war Kestings Feststellung, daß der von den Alliierten behauptete Kampf im Namen der Menschheit nur ein leicht durchschaubares Ideologem sei, mit dem man jede eigene Untat zu decken glaubte: »Die Interessen einer relativ kleinen Schicht stellen sich dar als die Interessen der Allgemeinheit und Menschheit selbst. Nach der Logik von Begriff und Gegenbegriff hat das die Folge, daß der Gegner dieser Interessen zu einem Gegner der Allgemeinheit und des Menschengeschlechts gestempelt wird. Auf diese Weise entfalten humanitäre Begriffe eine außerordentliche Kraft der Diskriminierung«.
Man muß die veristische Neigung Kestings nicht nur auf den Einfluß Schmitts, sondern auf eine charakterliche Disposition zurückführen, die nach Aussage seiner Schwester – der Literaturwissenschaftlerin Marianne Kesting – früh erkennbar war. Sie sei jedenfalls schon darin zur Geltung gekommen, daß Kesting wegen dauernder Widersetzlichkeit aus der HJ entfernt wurde. Eine Rolle mag auch der familiäre Hintergrund gespielt haben. Kesting wurde am 12. Dezember 1925 in der Nähe von Gelsenkirchen geboren und stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Der Vater war allerdings literarisch und musisch außerordentlich interessiert und hielt Abstand zum NS-Regime. Die beiden letzten Kriegsjahre diente Kesting als Soldat, an den Folgen einer Verwundung litt er lebenslang. Erst nach der Entlassung aus vierjähriger britischer Kriegsgefangenschaft konnte er dann ein Studium der »Orientierungswissenschaften« Soziologie, Philosophie und Geschichte aufnehmen. Wie stark ihn dabei Schmitt beeinflußte, war schon an seiner (nicht publizierten) Dissertation über »Utopie und Eschatologie«, dann aber vor allem an seinem Hauptwerk Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg zu sehen.
Trotz der tief pessimistischen Sicht, die in diesem Buch zum Ausdruck kam, hat Kesting mit einem gewissen Geschick seine berufliche Laufbahn verfolgt. Nach einiger Zeit an der Sozialforschungsstelle der Universität Münster, wo er mit empirischen Untersuchungen zu den in der Arbeiterschaft verbreiteten Leitvorstellungen befaßt war, wurde er 1957 Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Ulm und nahm erheblichen Einfluß auf deren wissenschaftliche Ausrichtung, gab diese Stelle dann wieder auf und leitete 1959 kurz das Kulturressort der Frankfurter Rundschau. 1962 kehrte Kesting in den akademischen Bereich zurück und ging als Assistent Arnold Gehlens nach Speyer. Dort habilitierte er sich mit einer Arbeit über Öffentlichkeit und Propaganda (die erst posthum veröffentlicht wurde). Gegen die außerordentlich einflußreiche These von Habermas über das Wesen »kritischer Öffentlichkeit« entwickelte Kesting die Auffassung, dass so etwas wie eine »öffentliche Meinung« im strengen Sinn niemals existiert habe, nicht existiere und auch zukünftig nicht existieren werde. Wer behaupte, im Namen der Öffentlichkeit zu sprechen – ganz gleich, ob er an der Macht sei oder in der Opposition stehe –, tue das immer in manipulativer Absicht. Es handele sich nur um ein Mittel, dessen sich die konkurrierenden Eliten bedienten, um ihre Ansprüche zu legitimieren.
Kestings Sicht der Dinge war vor allem an Schmitt und Gehlen, aber auch an Pareto, Sorel und Lenin – den bewunderten Meistern »politischer Illusionslosigkeit« – geschult. Man konnte ihn mit einem gewissen Recht auch dem in den sechziger Jahren einflußreichen »Technokratischen Konservatismus« zurechnen. Ein Sachverhalt, der an verschiedenen Aufsätzen dieser Zeit über die Entwicklung und Unumgänglichkeit der Propaganda in modernen Industriestaaten abzulesen war, vor allem aber in seinem dritten Buch Herrschaft und Knechtschaft, das 1973 erschien. Es handelt sich bei dem Titel um eine Anspielung auf das Kapitel über Herr und Knecht in Hegels Phänomenologie des Geistes, anhand dessen er die These entwickelt, daß die Vorstellung von der unumschränkten Herrschaft des Herrn und der unumschränkten Knechtschaft des Knechts so niemals gestimmt habe (wegen der Dialektik ihrer Beziehung) und seit der Französischen Revolution gar keine brauchbare Interpretationsmöglichkeit mehr biete, um den Gang der Geschichte zu verstehen. Faktisch habe die Partei der Knechte im größeren Teil der Intelligenz einen Verbündeten oder eine Führung gewonnen, die unter Hinweis auf das Soziale maßgeblichen ideologischen Einfluß nehme und seit dem 19. Jahrhundert dazu beitragen habe, nicht nur das Innenleben der Staaten, sondern auch deren Außenbeziehungen maßgeblich zu bestimmen. Das Spektrum der Reaktionen auf diese Herausforderung reichte von der Revolutionsverhinderung mittels Fabrikgesetzgebung und öffentlicher Arbeitsbeschaffung über Bismarcks Sozialreformen bis zu Disraelis Sozialimperialismus und wurde im 20. Jahrhundert globalisiert, aber inhaltlich nur unwesentlich ergänzt um die totalitären Konzepte roter oder brauner Machart und das, was organisierter Massenkonsum oder die allgemeine Sozialdemokratisierung bewirkten. Daß diese Analyse in der Atmosphäre der siebziger Jahre keine Zustimmung fand, lag auf der Hand. Das von Kesting identifizierte Problem, daß der Gesamtprozeß, »wenn nicht den vollständigen Sieg des Knechts, so doch den seiner Mythologie« mit sich brachte, was jeden Versuch zum Scheitern verurteilte, die »Herkunft aus dem 18. Jahrhundert« hinter sich zu lassen, war den tonangebenden Kreisen ebenso unlieb wie Kestings Hinweis auf die Ausweglosigkeit einer Situation, in der hinter dem Jargon des Sozialen alle anderen – im eigentlichen Sinn politischen – Probleme verschwunden zu sein schienen, aber in Wirklichkeit nur kaschiert waren.
Daß Kesting diese Perspektive nicht erst unter dem Eindruck der linken Kulturrevolution entwickelt hatte, erhellt daraus, daß der Text von Herrschaft und Knechtschaft eigentlich auf eine dreiteilige Sendung für das Abendstudio des Hessischen Rundfunks zurückging, die bereits 1962 ausgestrahlt worden war. Kesting hat am Text selbst nichts geändert, auch nicht die Schlußaussage, in der es hieß, daß vielleicht doch die Erfahrung des Weltbürgerkriegs und der fehlgeschlagenen eschatologischen Erwartung zur »Überwindung des furchtbaren Mythos« helfen könnten; dazu noch das Hegel-Zitat: »Das Gerede verstummt vor den ernsten Wiederholungen der Geschichte.« Ohne Zweifel hat Kesting die »ernsten Wiederholungen der Geschichte« ebenso gefürchtet wie erhofft. Aus seiner Sicht, wie aus der der meisten Konservativen seiner Zeit, konnte nur der Ernstfall, wenn nicht die Eliten, dann doch die Massen zur Vernunft bringen.
Daß auch diese letzte Hoffnung trog, hat Kesting in seinen letzten Lebensjahren bitter erfahren. Als er 1968 endlich einen Ruf an die Universität Bochum erhielt und ein Ordinariat für Soziologie übernahm, wurde er des neuen Amtes nicht froh. Hatte er sich bis dahin politisch noch eine gewisse Zurückhaltung auferlegt – zwischenzeitlich war er sogar Stadtverordneter für die FDP gewesen –, so ließ er angesichts der Studentenrevolte jede Zurückhaltung fahren. Er agierte mit großer Schärfe gegen die studentische Linke wie gegen den Opportunismus seiner Kollegen und war im Lehrkörper rasch vollständig isoliert. Er schloß sich früh dem Kreis um die Zeitschrift Criticón an und entwickelte einen zunehmend polemischen Ton; in seinen Vorlesungen soll er angesichts der terroristischen Bedrohung offen für die Errichtung eines autoritären Regimes nach dem Muster von Salazars Portugal gesprochen haben.
Wie skeptisch Kesting die Überlebensfähigkeit der Bundesrepublik beurteilte, war auch dem Beitrag zu entnehmen, den er 1974 in der Festschrift zum 70. Geburtstag seines Lehrers Gehlen veröffentlichte. Es handelte sich noch einmal um das Thema der politischen Täuschung und Selbsttäuschung und um ein Plädoyer für die »Fähigkeit zu sehen. Zu sehen, was vor jedermanns Augen liegt, aber, aus welchen Gründen immer, aus Verstrickung in Traditionen, in Vorurteile, nicht zuletzt in Ideologien selbst und zumal von den Beteiligten übersehen wird.« Ein Jahr später starb Hanno Kesting, gerade fünfzigjährig, an den Folgen einer mißglückten Operation.