Die Rückkehr des Generationenromans

Die Zeit berichtete letzte Woche über einen literarischen Trend, der vielleicht tatsächlich eine Zeitenwende markiert.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Als Kron­zeu­gen die­nen drei Bücher von “Roman­de­bü­tan­ten jen­seits der 50”, die alle­samt jedoch kei­ne unbe­schrie­be­nen Blät­ter sind und deren Metier eigent­lich der Film ist: da wären der Schau­spie­ler Josef Bier­bich­ler (Jahr­gang 1948), der Film­re­gis­seur Oskar Roeh­ler (Jahr­gang 1959) und der Dreh­buch­au­tor Eugen Ruge (Jahr­gang 1954).

Sie haben auto­bio­gra­phi­sche Fami­li­en­ro­ma­ne geschrie­ben, in denen

… sie ihre Vor­fah­ren nicht zur Rechen­schaft zie­hen, son­dern sich ein­rei­hen in die patri­li­nea­re Drei­ei­nig­keit aus Groß­va­ter, Vater und Sohn. Die stol­ze Vater­lo­sig­keit, aus der die Autoren der alten Bun­des­re­pu­blik ihr Kapi­tal mach­ten, ist einer Sehn­sucht nach genea­lo­gi­scher Kon­ti­nui­tät gewi­chen. Das ein­sa­me Ich, vor weni­gen Jahr­zehn­ten noch der melan­cho­li­sche Allein­er­näh­rer des deut­schen Gegen­warts­ro­mans, ist sei­ner über­le­ge­nen Ein­sam­keit müde gewor­den und sucht nach sei­nem ver­lo­re­nen Schat­ten: sei­ner Herkunft.

Die Autorin des über­aus lesens­wer­ten Arti­kels, Iris Radisch (1959 gebo­ren und Mut­ter von drei Kin­dern), stellt die­sen Trend in einen wei­ten Kon­text, der sich bis auf die Zäsur von 1945 hin erstreckt:

Es war ein­mal, und es ist noch gar nicht so lan­ge her, da war die Stim­mung in den deut­schen Roma­nen eisig. Das hat­te etwas mit den Frös­ten der Frei­heit zu tun. Damals nahm der deut­sche Roman­held “Abschied von den Eltern” wie eine berühm­te Erzäh­lung von Peter Weiss aus dem Jahr 1961 heißt.

Die Pio­nie­re die­ser lite­ra­ri­schen Mode waren die Kin­der des Exis­ten­zia­lis­mus. Es waren eltern­lo­se Jung­ge­sel­len wie der Frem­de von Albert Camus und der Ein­zel­gän­ger von Eugè­ne Ionesco. Bald dar­auf insze­nier­te sich die Grup­pe 47 als her­kunfts­lo­se Jugend, die auf den Rui­nen der Väter bei null wie­der anzu­fan­gen glaub­te, mit nichts als einer Müt­ze, einem Man­tel und einer Pfei­fe im Mund­win­kel. Peter Weiss’ Erzäh­lung ende­te mit den Wor­ten: »Ich war auf dem Weg, auf der Suche nach dem eige­nen Leben.«

Der Selbst­ent­wurf der ers­ten Nach­kriegs­ge­nera­ti­on als eine abstam­mungs­lo­se Ansamm­lung von Mona­den ist einer der erfolg­reichs­ten Grün­dungs­my­then der Bun­des­re­pu­blik. Der noma­di­sie­ren­de Ein­zel­gän­ger war der lite­ra­ri­sche Lieb­lings­held der auf­stre­ben­den bun­des­deut­schen Ange­stell­ten­ge­sell­schaft. Wenn es stimmt, dass jede Zeit ihre eige­nen Mär­chen braucht, dann lie­fer­te die Mona­den-Lite­ra­tur den pas­sen­den Begleit­text zur expan­die­ren­den Pri­vat­wirt­schaft. Ihre Lieb­lings­schrift­stel­ler waren der jun­ge Peter Hand­ke und der jun­ge Botho Strauß, deren genia­li­sche Hel­den so ver­einsamt waren, dass ihnen schon das nächt­li­che Kna­cken der Küh­ler­hau­ben von gepark­ten Autos tröst­lich erschien. Der fros­ti­ge Zau­ber, den die­se Elfen­bein­be­woh­ner in ihren Roma­nen ver­brei­te­ten, umflor­te die rea­le Ein­sam­keit einer künf­ti­gen Sing­le­ge­sell­schaft, die ziel­stre­big dabei war, auf eine groß­städ­ti­sche Schei­dungs­ra­te von 50 Pro­zent zuzusteuern.

Und, soll­te man hin­zu­fü­gen, auf einen dra­ma­ti­schen Absturz der Gebur­ten­ra­ten, der lang­fris­tig nichts weni­ger als den Kol­laps des Staa­tes und das bio­lo­gi­sche Ende Deutsch­lands bedeu­ten wird. Zwi­schen dem Trau­ma der tota­len Nie­der­la­ge des Zwei­ten Welt­kriegs und der kom­men­den Nie­der­la­ge der auf ihren Trüm­mern errich­te­ten Gesell­schafts­ord­nung besteht ein Zusam­men­hang, der viel­leicht erst jetzt, da es fünf vor zwölf ist (man­che sagen fünf nach zwölf), deut­lich sicht­bar wird.

Thors­ten Hinz hat mit sei­nem Büch­lein “Lite­ra­tur aus der Schuld­ko­lo­nie” einen wich­ti­gen Bau­stein zum Ver­ständ­nis die­ser “See­len­ge­schich­te” der Deut­schen geschrie­ben. Radischs bemer­kens­wer­ter Satz: “Der Selbst­ent­wurf der ers­ten Nach­kriegs­ge­nera­ti­on als eine abstam­mungs­lo­se Ansamm­lung von Mona­den ist einer der erfolg­reichs­ten Grün­dungs­my­then der Bun­des­re­pu­blik”, ver­weist auf eine Dimen­si­on, die weit über das bloß Lite­ra­ri­sche (und “Pri­vat­wirt­schaft­li­che”) hinausweist.

Das Ide­al der “abstam­mungs­lo­sen Mona­de” (oder, wie Radisch andeu­tet, auch: des abstam­mungs­lo­sen Noma­den) hat eine dia­lek­ti­sche Kehr­sei­te, die an einem all­zu deut­schen Nagel hängt, in der näm­lich die deut­sche Abstam­mung als etwas mit Schuld und Schan­de Beleg­tes ange­se­hen wird, das es fort­lau­fend zu ent­süh­nen und letzt­lich abzu­strei­fen gilt. Das ist aber letzt­lich ein Pro­zeß, der erst mit dem bio­lo­gi­schen Tod der Deut­schen als Volk an sein Ende gelan­gen kann. Bis dahin wird die Men­ge des Auf­zu­lö­sen­den so lan­ge erwei­tert wer­den, bis wirk­lich allem, was noch steht, das “Mark aus den Kno­chen gebla­sen” sein wird, wie Arnold Geh­len sagen wür­de. In die­ser fata­len Spi­ra­le der per­pe­tu­el­len Selbst­auf­lö­sung befin­den sich die Deut­schen heu­te wei­ter­hin. Wenn sie eine Zukunft haben wol­len, wird ihnen nichts ande­res übrig­blei­ben, als sich mit ihrer Ver­gan­gen­heit auszusöhnen.

Radisch spricht tref­fend von “einer Gegen­wart, die alles pul­ve­ri­siert, was ihr zu nahe kommt”, in der “die Fami­li­en­chro­nik oder der Hei­mat­film wie der legen­dä­re von Edgar Reitz ein wider­stän­di­ger Ana­chro­nis­mus” ist.

Das ein­sa­me Ich, vor weni­gen Jahr­zehn­ten noch der melan­cho­li­sche Allein­er­näh­rer des deut­schen Gegen­warts­ro­mans, ist sei­ner über­le­ge­nen Ein­sam­keit müde gewor­den und sucht nach sei­nem ver­lo­re­nen Schat­ten: sei­ner Herkunft.

Der vom Selbst­ver­wirk­li­chungs­wahn sei­ner 68er-Eltern trau­ma­ti­sier­te Ich-Erzäh­ler in Oskar Roeh­lers Roman Her­kunft sucht Schutz bei der Genea­lo­gie wie der klei­ne Oskar Mat­zer­ath unter den Röcken der kaschu­bi­schen Matro­nen. »Ich trug etwas in mir, außer­halb mei­ner Lebens­er­fah­rung«, heißt sei­ne Erfolgs­mel­dung am Ende der lan­gen und ent­beh­rungs­rei­chen lite­ra­ri­schen Rück­kehr in den Schoß des Her­kom­mens, die die­ser Roman unter­nimmt. »Es lag in den Genen, ich spür­te es ganz genau. Es gab da etwas, außer­halb von mir, das Schutz und weit ent­fern­te Sicher­heit bot.«

Eine so wohl­wol­len­de Dar­stel­lung der Fami­lie und des Fami­li­en­zu­sam­men­halts hat es sonst nur im Fern­se­hen gege­ben. In der deut­schen Lite­ra­tur war so viel Freund­lich­keit nach Wal­ter Kem­pow­ski sel­ten. Doch nun ist die Fami­lie bei Oskar Roeh­ler sogar eine gene­tisch geschütz­te Über­le­bens­ni­sche und das Objekt einer hei­ßen kind­li­chen Sehn­sucht. Im bäu­er­li­chen Fami­li­en­pan­ora­ma Josef Bier­bich­lers ist sie der unan­greif­ba­re Sou­ve­rän. Und auch im viel­stim­mi­gen Fami­li­en­por­trät Eugen Ruges ist sie durch das Able­ben ihres Wirts­tie­res, der DDR, in die­sem spe­zi­el­len Fall schwer ange­schla­gen, doch lite­ra­risch gerettet.

Dabei ist die 68er-revi­sio­nis­ti­sche Rou­te, die Oskar Roeh­ler ein­schlägt, gera­de­zu pro­vo­kant (und gar nicht so über­ra­schend, wenn man sei­ne Fil­me ver­folgt hat), und erin­nert stark an Sophie Dan­nen­bergs furio­se Gene­ral­ab­rech­nung “Das blei­che Herz der Revo­lu­ti­on” aus dem Jahr 2005.

Roeh­lers Buch schließt Frie­den über uralte Grä­ben hin­weg. Sein Held hadert zwar mit den Eltern. Mit sei­nem Vater Rolf, der die Mut­ter vor den Augen des Kin­des »auf der neu­en Sie­mens-Wasch­ma­schi­ne vögelt« und die RAF-Kas­se umsich­ti­ger als sei­nen Sohn betreut. Und mit sei­ner exzen­tri­schen Schrift­stel­ler-Mut­ter, die lie­ber vor der Grup­pe 47 als im Kin­der­zim­mer tätig wird. Doch fin­det er Halt und Gebor­gen­heit bei sei­nem Nazi-Opa Erich, der »aus­spuckt, wenn er das Wort Bun­des­re­pu­blik hört«, und sein Leben im Wesent­li­chen allein mit sei­nen Brief­mar­ken aus dem Deut­schen Reich ver­bringt, aber in sei­nem Eigen­heim, mit sei­nem Opel Rekord vor der Tür und der stum­men Frau in der Küche genau das Aro­ma uner­schüt­ter­li­cher Ver­läss­lich­keit ver­strömt, das ein Opfer lin­ker Ver­wahr­lo­sung braucht.

Nach­dem die rea­len Zeit­zeu­gen des Zwei­ten Welt­krie­ges bei­na­he rest­los ver­schwun­den sind, nähern sich die schrei­ben­den Enkel wie­der ihren Groß­vä­tern, indem sie gera­de jene Sekun­där­tu­gen­den neu bewer­ten, die ihre Väter zur Ver­zweif­lung brach­ten: die refle­xi­ons­lo­se Zähig­keit, die Steh­auf-Qua­li­tä­ten, das Immer-wei­ter-Machen, ohne Rück­sicht auf sich selbst und auf ande­re. Opa Erich pro­du­ziert Gar­ten­zwer­ge und inter­es­siert sich vor allem für Brief­mar­ken. Vater Rolf pro­du­ziert Bücher und inter­es­siert sich vor allem für Sex. Der Held unse­rer Zeit heißt neu­er­dings wie­der Opa Erich.

Nicht nur Oskar Roeh­ler, auch Michel Hou­el­le­becq und alle ande­ren vom Selbst­ver­wirk­li­chungs­be­stre­ben ihrer Eltern ver­stör­ten Kin­der der zwei­ten Nach­kriegs­ge­nera­ti­on wären für einen sol­chen soli­den Brief­mar­ken-Opa dank­bar gewe­sen, mit dem sie nicht nur Omas Abend­brot­schnit­ten, son­dern auch ein paar grund­sätz­li­che Ansich­ten über die west­eu­ro­päi­schen Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gun­gen tei­len: Das »Gesocks, das stän­dig Ver­än­de­rung will«, die Kör­ner-und-Gemü­se-Fres­ser, die Topf­lap­pen­häk­ler, die lang­haa­ri­gen Jesus­lat­schen­trä­ger, die durch ver­kehrs­be­ru­hig­te Stra­ßen schlur­fen – die gehö­ren, so psal­mo­diert Roeh­lers Alter Ego, »die Müll­kip­pe der Geschich­te heruntergespült«.

Josef Bier­bich­ler, ein Vete­ran des “Neu­en Deut­schen Films” der Sieb­zi­ger Jah­re, und neben­bei wasch­ech­ter Land­wirt, beschreibt den aus dem Ruder lau­fen­den Indi­vi­dua­lis­mus eben­falls als Ursa­che des fami­liä­ren und gesell­schaft­li­chen Zerfalls:

Auch die sprach­wuch­ti­ge Fami­li­en­chro­nik von Josef Bier­bich­ler erzählt von einer Fami­lie, die es am Ende des Buches nicht mehr geben wird. Das Geschlecht der »See­wir­te«, die Gene­ra­ti­on um Gene­ra­ti­on ihr Erbe ange­tre­ten und den See­gast­hof wei­ter­ge­führt haben, wird mit dem Enkel zu Ende gehen, von dem zu befürch­ten ist, dass er den See­gast­hof nicht mehr stan­des­ge­mäß wei­ter­füh­ren wird. Denn der Enkel, ein Kind der Wohl­stands­ge­sell­schaft und Pro­fi­teur des auf­kom­men­den Frem­den­ver­kehrs, hat die höhe­re katho­li­sche Schu­le besucht, wo er zwar, wie zu erwar­ten, vom »mön­ch­le­ri­schen Sper­ma« gequält, aber auch mit dem ver­der­be­ri­schen Selbst­ver­wirk­li­chungs­ge­dan­ken ange­steckt wur­de. Und wo die­ser aus­bricht, ist das Fami­li­en­er­be in Gefahr. »Der Ich-Gedan­ke«, sagt Bier­bich­ler im Inter­view in sei­nem Gast­haus am Starn­ber­ger See, in dem er selbst ohne Fami­lie wie ein letz­ter Bud­den­brook lebt, »war den Bau­ern ganz fremd.«

Auch die­ses Buch, das aus einer breu­ghel­schen Wim­mel­per­spek­ti­ve erzählt, in der alles und jeder wich­tig und unwich­tig zugleich wird, will das moder­ne Ich und sei­ne Zen­tral­per­spek­ti­ve nicht ken­nen. Groß­va­ter, Vater und Sohn ste­hen wie ein Mann auf einer Zeit­ach­se, die unver­rück­bar zu sein schien, bevor sie zer­brach. Der Roman geht noch ein­mal vor die­se Bruch­stel­le zurück und erzählt von der Fami­lie als einem leben­di­gen Orga­nis­mus, in dem kei­ner für sich allein und jeder nur für den ande­ren ist, wer er ist, und tut, was er tut.

Eine Freun­din aus Öster­reich wies mich auf die­sen bemer­kens­wer­ten Arti­kel hin, und wie es der Zufall will, hat­te ich kurz zuvor einen Traum gehabt: ich sah mei­nen Groß­va­ter väter­li­cher­seits, der vor einem Jahr­zehnt gestor­ben ist, leben­dig und mit bei­nah jugend­li­cher Fri­sche in sei­nem alten Haus arbei­ten, das über 200 Jah­re alt und heu­te noch steht. Mei­ne Groß­el­tern haben dar­in seit den Drei­ßi­ger Jah­ren gelebt, mein Vater hat dort sei­ne Kind­heit ver­bracht. Wie es im Traum oft pas­siert, wun­der­te ich mich nicht lan­ge über sei­ne Auf­er­ste­hung – sind die Toten denn jemals tot in unse­rem Inne­ren? Er führ­te mich in das Haus, in ein woh­lig-alt­mo­disch ein­ge­rich­te­tes Zim­mer, das ich zu mei­ner Über­ra­schung noch nie in mei­nem Leben gese­hen hat­te. Und plötz­lich hat­te ich eine selt­sa­me, mys­ti­sche Erkennt­nis: mein Groß­va­ter und mein Vater waren ein- und die­sel­be Per­son, in unter­schied­li­cher Gestalt inkar­niert, und auch ich war mit ihnen identisch.

Erst die­sen Som­mer habe ich das Ver­säum­nis nach­ge­holt, Josephs Roths gewal­ti­gen Roman “Radetz­ky­marsch” aus dem Jah­re 1932 zu lesen. Mit­ten in der Lek­tü­re, am Tag der kirch­li­chen Hoch­zeit mei­nes treu­es­ten Wie­ner Freun­des, des­sen Toch­ter den Namen Zita trägt, starb der letz­te Thron­fol­ger Otto von Habs­burg im 99. Lebens­jahr.  Es gibt vor­be­stimm­te Bücher, deren Lek­tü­re man aus einer merk­wür­di­gen Scheu her­aus lan­ge auf­schiebt, weil man ahnt, daß man viel Kraft brau­chen wird, um sie aufzunehmen.

Mir fiel beson­ders auf, wie Roth den Unter­gang der Habs­bur­ger-Mon­ar­chie als Zusam­men­bruch einer patri­ar­cha­len Kon­ti­nui­tät schil­dert. Die Haupt­fi­gu­ren des Romans, die Trot­tas, ent­stamm­ten wie mei­ne Fami­lie väter­li­cher­seits einem slo­we­ni­schen Bau­ern­ge­schlecht. 1859 ret­tet der jun­ge Leut­nant Joseph Trot­ta in der Schlacht von Sol­fe­ri­no dem Kai­ser das Leben, indem er sich in die Schuß­bahn einer Kugel wirft. Dabei wird er selbst getrof­fen und ent­geht nur knapp dem Tod.

Trot­ta fühl­te sein Herz im Hal­se. Die Angst vor der unaus­denk­ba­ren, der gren­zen­lo­sen Kata­stro­phe, die ihn selbst, das Regi­ment, die Armee, den Staat, die gan­ze Welt ver­nich­ten wür­de, jag­te glü­hen­de Frös­te durch sei­nen Körper.

Zum Dank wird Trot­ta in den erb­li­chen Adels­stand erho­ben und nun erst wirk­lich zum “Öster­rei­cher” gemacht. Der Dienst am Kai­ser­reich wird fort­an zur rai­son d’êt­re der Trot­tas, der “Spar­ta­ner unter den Öster­rei­chern” (Roth). So wie der Kai­ser Franz Joseph I. zum Über­va­ter des Rei­ches wird, das solan­ge ste­hen wird, solan­ge er lebt, und der Gott­va­ter im Him­mel über ihm thront und den apos­to­li­schen Segen gewährt, so wird Joseph von Trot­ta zum Minia­tur-Kai­ser und stif­ten­den Patri­ar­chen der Fami­lie, der gebie­te­risch über dem Leben sei­nes Enkels Carl Joseph als etwas tyran­ni­sches, weil uner­reich­ba­res Ide­al thront.

Der Haupt­eil des Roma­nes behan­delt das Dra­ma zwi­schen ihm und sei­nem Vater, dem Bezirks­haupt­mann Franz von Trot­ta, dem stren­gen und pflicht­ge­treu­en Reprä­sen­tan­ten der alten Ord­nung, die bereits tod­ge­weiht und inner­lich morsch ist, und deren Über­tra­gung auf den Sohn nicht mehr gelingt: die­ser schlägt eine Offi­ziers­lauf­bahn ein, die sei­ner Natur nicht liegt, er ver­liert sich in Alko­hol, Spiel­schul­den und Affä­ren mit älte­ren Frau­en, die das Alter sei­ner Mut­ter haben, die früh starb. Ehe es ihm gelingt, auch inner­lich erwach­sen zu wer­den, ist sei­ne Zeit und jene der Welt, die er zu tra­gen bestimmt ist, abge­lau­fen.  In den ers­ten Mona­ten des Welt­kriegs von 1914 fällt Carl Joseph, sein Vater stirbt zwei Jah­re spä­ter,  am Tag der Bei­set­zung des grei­sen Kai­sers, mit des­sen Tod auch die k.u.k‑Monarchie end­gül­tig stürzt.

Ich habe nie ver­stan­den, wie­so “das Patri­ar­chat” ein so schlech­tes Image bekom­men konn­te, wie es heu­te im Wes­ten hat. Meis­tens ist es nur ein dum­mes, von einem vul­gä­ren Femi­nis­mus in die Mün­der der Nach­plap­pe­rer geleg­tes Schlag­wort, das haupt­säch­lich ver­leum­de­ri­schen Zwe­cken dient.

Es sind aber die Väter und das väter­li­che Prin­zip, die die Welt auf ihren Schul­tern tra­gen, und nie­mals wird es anders sein. Vie­le jun­ge Män­ner, die an einer mas­ku­li­ni­täts­feind­li­chen und eff­emi­ni­sie­ren­den Gesell­schaft lei­den, wol­len heu­te wie­der Män­ner wer­den, aber sie wer­den ihr Ziel nie errei­chen, wenn sie nicht auch zugleich Väter sein wol­len.  In sei­nem Roman “Man and Boy” schrieb der 1953 gebo­re­ne bri­ti­sche Schrift­stel­ler Tony Par­sons über die Geburt sei­nes Sohnes:

Jetzt habe ich also dazu bei­getra­gen, daß ein neu­er Mensch in die­se Welt kom­men konn­te. Heu­te bin ich das gewor­den, was mein Vater sein Leben lang war. Heu­te bin ich ein Mann geworden.

Um auf den Trend des Gene­ra­tio­nen­ro­ma­nes (der deut­sche Doku­men­tar­film war ihm um eini­ge Jah­re vor­aus) und die dar­in gebau­te Brü­cke zu den Groß­vä­tern zurück­zu­kom­men: daß die “patri­li­nea­re” Ket­te heu­te in einer schwe­ren, bei­spiel­lo­sen Kri­se steckt, ist ein bedenk­li­ches Zei­chen für den Zustand unse­rer Zivi­li­sa­ti­on. Es mag sein, daß wir heu­te wie­der dort ange­langt sind, wo vor hun­dert Jah­ren Roths unglück­se­li­ger Carl Joseph von Trot­ta stand, und daß der “Tod schon sei­ne kno­chi­gen Hän­de” auch über unse­ren “Kel­chen” kreuzt.

Just die­ser Tage, als der Zeit-Arti­kel von Iris Radisch erschein, las ich auch die Kor­rek­tu­ren für die von mir mit­ver­ant­wor­te­te, dem­nächst erschei­nen­de Samm­lung von Auf­sät­zen des nor­we­gi­schen Blog­gers “Fjord­man” Peder Jen­sen.  In sei­nem Essay “Die vater­lo­se Zivi­li­sa­ti­on”, den wir in den Band auf­ge­nom­men haben, hat er die Lage glän­zend ana­ly­siert. Dies ist sei­ne Schlußfolgerung:

Die Abwe­sen­heit der Vater­schaft hat eine Gesell­schaft vol­ler sozia­ler Patho­lo­gien geschaf­fen, und der Man­gel an männ­li­chem Selbst­ver­trau­en hat uns für unse­re Fein­de zur leich­ten Beu­te gemacht. Wenn der Wes­ten über­le­ben soll, müs­sen wir wie­der ein gesun­des Maß an männ­li­cher Auto­ri­tät gel­tend machen. Dazu müs­sen wir den Sozi­al­staat zurück­fah­ren. Viel­leicht müs­sen wir auch eini­ge der Exzes­se des west­li­chen Femi­nis­mus zurückfahren.

Die neu­en Bücher:
Josef Bier­bich­ler: Mit­tel­reich
Oskar Roeh­ler: Her­kunft
Eugen Ruge: In Zei­ten des abneh­men­den Lichts

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.