Als Kronzeugen dienen drei Bücher von “Romandebütanten jenseits der 50”, die allesamt jedoch keine unbeschriebenen Blätter sind und deren Metier eigentlich der Film ist: da wären der Schauspieler Josef Bierbichler (Jahrgang 1948), der Filmregisseur Oskar Roehler (Jahrgang 1959) und der Drehbuchautor Eugen Ruge (Jahrgang 1954).
Sie haben autobiographische Familienromane geschrieben, in denen
… sie ihre Vorfahren nicht zur Rechenschaft ziehen, sondern sich einreihen in die patrilineare Dreieinigkeit aus Großvater, Vater und Sohn. Die stolze Vaterlosigkeit, aus der die Autoren der alten Bundesrepublik ihr Kapital machten, ist einer Sehnsucht nach genealogischer Kontinuität gewichen. Das einsame Ich, vor wenigen Jahrzehnten noch der melancholische Alleinernährer des deutschen Gegenwartsromans, ist seiner überlegenen Einsamkeit müde geworden und sucht nach seinem verlorenen Schatten: seiner Herkunft.
Die Autorin des überaus lesenswerten Artikels, Iris Radisch (1959 geboren und Mutter von drei Kindern), stellt diesen Trend in einen weiten Kontext, der sich bis auf die Zäsur von 1945 hin erstreckt:
Es war einmal, und es ist noch gar nicht so lange her, da war die Stimmung in den deutschen Romanen eisig. Das hatte etwas mit den Frösten der Freiheit zu tun. Damals nahm der deutsche Romanheld “Abschied von den Eltern” wie eine berühmte Erzählung von Peter Weiss aus dem Jahr 1961 heißt.
Die Pioniere dieser literarischen Mode waren die Kinder des Existenzialismus. Es waren elternlose Junggesellen wie der Fremde von Albert Camus und der Einzelgänger von Eugène Ionesco. Bald darauf inszenierte sich die Gruppe 47 als herkunftslose Jugend, die auf den Ruinen der Väter bei null wieder anzufangen glaubte, mit nichts als einer Mütze, einem Mantel und einer Pfeife im Mundwinkel. Peter Weiss’ Erzählung endete mit den Worten: »Ich war auf dem Weg, auf der Suche nach dem eigenen Leben.«Der Selbstentwurf der ersten Nachkriegsgeneration als eine abstammungslose Ansammlung von Monaden ist einer der erfolgreichsten Gründungsmythen der Bundesrepublik. Der nomadisierende Einzelgänger war der literarische Lieblingsheld der aufstrebenden bundesdeutschen Angestelltengesellschaft. Wenn es stimmt, dass jede Zeit ihre eigenen Märchen braucht, dann lieferte die Monaden-Literatur den passenden Begleittext zur expandierenden Privatwirtschaft. Ihre Lieblingsschriftsteller waren der junge Peter Handke und der junge Botho Strauß, deren genialische Helden so vereinsamt waren, dass ihnen schon das nächtliche Knacken der Kühlerhauben von geparkten Autos tröstlich erschien. Der frostige Zauber, den diese Elfenbeinbewohner in ihren Romanen verbreiteten, umflorte die reale Einsamkeit einer künftigen Singlegesellschaft, die zielstrebig dabei war, auf eine großstädtische Scheidungsrate von 50 Prozent zuzusteuern.
Und, sollte man hinzufügen, auf einen dramatischen Absturz der Geburtenraten, der langfristig nichts weniger als den Kollaps des Staates und das biologische Ende Deutschlands bedeuten wird. Zwischen dem Trauma der totalen Niederlage des Zweiten Weltkriegs und der kommenden Niederlage der auf ihren Trümmern errichteten Gesellschaftsordnung besteht ein Zusammenhang, der vielleicht erst jetzt, da es fünf vor zwölf ist (manche sagen fünf nach zwölf), deutlich sichtbar wird.
Thorsten Hinz hat mit seinem Büchlein “Literatur aus der Schuldkolonie” einen wichtigen Baustein zum Verständnis dieser “Seelengeschichte” der Deutschen geschrieben. Radischs bemerkenswerter Satz: “Der Selbstentwurf der ersten Nachkriegsgeneration als eine abstammungslose Ansammlung von Monaden ist einer der erfolgreichsten Gründungsmythen der Bundesrepublik”, verweist auf eine Dimension, die weit über das bloß Literarische (und “Privatwirtschaftliche”) hinausweist.
Das Ideal der “abstammungslosen Monade” (oder, wie Radisch andeutet, auch: des abstammungslosen Nomaden) hat eine dialektische Kehrseite, die an einem allzu deutschen Nagel hängt, in der nämlich die deutsche Abstammung als etwas mit Schuld und Schande Belegtes angesehen wird, das es fortlaufend zu entsühnen und letztlich abzustreifen gilt. Das ist aber letztlich ein Prozeß, der erst mit dem biologischen Tod der Deutschen als Volk an sein Ende gelangen kann. Bis dahin wird die Menge des Aufzulösenden so lange erweitert werden, bis wirklich allem, was noch steht, das “Mark aus den Knochen geblasen” sein wird, wie Arnold Gehlen sagen würde. In dieser fatalen Spirale der perpetuellen Selbstauflösung befinden sich die Deutschen heute weiterhin. Wenn sie eine Zukunft haben wollen, wird ihnen nichts anderes übrigbleiben, als sich mit ihrer Vergangenheit auszusöhnen.
Radisch spricht treffend von “einer Gegenwart, die alles pulverisiert, was ihr zu nahe kommt”, in der “die Familienchronik oder der Heimatfilm wie der legendäre von Edgar Reitz ein widerständiger Anachronismus” ist.
Das einsame Ich, vor wenigen Jahrzehnten noch der melancholische Alleinernährer des deutschen Gegenwartsromans, ist seiner überlegenen Einsamkeit müde geworden und sucht nach seinem verlorenen Schatten: seiner Herkunft.
Der vom Selbstverwirklichungswahn seiner 68er-Eltern traumatisierte Ich-Erzähler in Oskar Roehlers Roman Herkunft sucht Schutz bei der Genealogie wie der kleine Oskar Matzerath unter den Röcken der kaschubischen Matronen. »Ich trug etwas in mir, außerhalb meiner Lebenserfahrung«, heißt seine Erfolgsmeldung am Ende der langen und entbehrungsreichen literarischen Rückkehr in den Schoß des Herkommens, die dieser Roman unternimmt. »Es lag in den Genen, ich spürte es ganz genau. Es gab da etwas, außerhalb von mir, das Schutz und weit entfernte Sicherheit bot.«
Eine so wohlwollende Darstellung der Familie und des Familienzusammenhalts hat es sonst nur im Fernsehen gegeben. In der deutschen Literatur war so viel Freundlichkeit nach Walter Kempowski selten. Doch nun ist die Familie bei Oskar Roehler sogar eine genetisch geschützte Überlebensnische und das Objekt einer heißen kindlichen Sehnsucht. Im bäuerlichen Familienpanorama Josef Bierbichlers ist sie der unangreifbare Souverän. Und auch im vielstimmigen Familienporträt Eugen Ruges ist sie durch das Ableben ihres Wirtstieres, der DDR, in diesem speziellen Fall schwer angeschlagen, doch literarisch gerettet.
Dabei ist die 68er-revisionistische Route, die Oskar Roehler einschlägt, geradezu provokant (und gar nicht so überraschend, wenn man seine Filme verfolgt hat), und erinnert stark an Sophie Dannenbergs furiose Generalabrechnung “Das bleiche Herz der Revolution” aus dem Jahr 2005.
Roehlers Buch schließt Frieden über uralte Gräben hinweg. Sein Held hadert zwar mit den Eltern. Mit seinem Vater Rolf, der die Mutter vor den Augen des Kindes »auf der neuen Siemens-Waschmaschine vögelt« und die RAF-Kasse umsichtiger als seinen Sohn betreut. Und mit seiner exzentrischen Schriftsteller-Mutter, die lieber vor der Gruppe 47 als im Kinderzimmer tätig wird. Doch findet er Halt und Geborgenheit bei seinem Nazi-Opa Erich, der »ausspuckt, wenn er das Wort Bundesrepublik hört«, und sein Leben im Wesentlichen allein mit seinen Briefmarken aus dem Deutschen Reich verbringt, aber in seinem Eigenheim, mit seinem Opel Rekord vor der Tür und der stummen Frau in der Küche genau das Aroma unerschütterlicher Verlässlichkeit verströmt, das ein Opfer linker Verwahrlosung braucht.
Nachdem die realen Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges beinahe restlos verschwunden sind, nähern sich die schreibenden Enkel wieder ihren Großvätern, indem sie gerade jene Sekundärtugenden neu bewerten, die ihre Väter zur Verzweiflung brachten: die reflexionslose Zähigkeit, die Stehauf-Qualitäten, das Immer-weiter-Machen, ohne Rücksicht auf sich selbst und auf andere. Opa Erich produziert Gartenzwerge und interessiert sich vor allem für Briefmarken. Vater Rolf produziert Bücher und interessiert sich vor allem für Sex. Der Held unserer Zeit heißt neuerdings wieder Opa Erich.
Nicht nur Oskar Roehler, auch Michel Houellebecq und alle anderen vom Selbstverwirklichungsbestreben ihrer Eltern verstörten Kinder der zweiten Nachkriegsgeneration wären für einen solchen soliden Briefmarken-Opa dankbar gewesen, mit dem sie nicht nur Omas Abendbrotschnitten, sondern auch ein paar grundsätzliche Ansichten über die westeuropäischen Emanzipationsbewegungen teilen: Das »Gesocks, das ständig Veränderung will«, die Körner-und-Gemüse-Fresser, die Topflappenhäkler, die langhaarigen Jesuslatschenträger, die durch verkehrsberuhigte Straßen schlurfen – die gehören, so psalmodiert Roehlers Alter Ego, »die Müllkippe der Geschichte heruntergespült«.
Josef Bierbichler, ein Veteran des “Neuen Deutschen Films” der Siebziger Jahre, und nebenbei waschechter Landwirt, beschreibt den aus dem Ruder laufenden Individualismus ebenfalls als Ursache des familiären und gesellschaftlichen Zerfalls:
Auch die sprachwuchtige Familienchronik von Josef Bierbichler erzählt von einer Familie, die es am Ende des Buches nicht mehr geben wird. Das Geschlecht der »Seewirte«, die Generation um Generation ihr Erbe angetreten und den Seegasthof weitergeführt haben, wird mit dem Enkel zu Ende gehen, von dem zu befürchten ist, dass er den Seegasthof nicht mehr standesgemäß weiterführen wird. Denn der Enkel, ein Kind der Wohlstandsgesellschaft und Profiteur des aufkommenden Fremdenverkehrs, hat die höhere katholische Schule besucht, wo er zwar, wie zu erwarten, vom »mönchlerischen Sperma« gequält, aber auch mit dem verderberischen Selbstverwirklichungsgedanken angesteckt wurde. Und wo dieser ausbricht, ist das Familienerbe in Gefahr. »Der Ich-Gedanke«, sagt Bierbichler im Interview in seinem Gasthaus am Starnberger See, in dem er selbst ohne Familie wie ein letzter Buddenbrook lebt, »war den Bauern ganz fremd.«
Auch dieses Buch, das aus einer breughelschen Wimmelperspektive erzählt, in der alles und jeder wichtig und unwichtig zugleich wird, will das moderne Ich und seine Zentralperspektive nicht kennen. Großvater, Vater und Sohn stehen wie ein Mann auf einer Zeitachse, die unverrückbar zu sein schien, bevor sie zerbrach. Der Roman geht noch einmal vor diese Bruchstelle zurück und erzählt von der Familie als einem lebendigen Organismus, in dem keiner für sich allein und jeder nur für den anderen ist, wer er ist, und tut, was er tut.
Eine Freundin aus Österreich wies mich auf diesen bemerkenswerten Artikel hin, und wie es der Zufall will, hatte ich kurz zuvor einen Traum gehabt: ich sah meinen Großvater väterlicherseits, der vor einem Jahrzehnt gestorben ist, lebendig und mit beinah jugendlicher Frische in seinem alten Haus arbeiten, das über 200 Jahre alt und heute noch steht. Meine Großeltern haben darin seit den Dreißiger Jahren gelebt, mein Vater hat dort seine Kindheit verbracht. Wie es im Traum oft passiert, wunderte ich mich nicht lange über seine Auferstehung – sind die Toten denn jemals tot in unserem Inneren? Er führte mich in das Haus, in ein wohlig-altmodisch eingerichtetes Zimmer, das ich zu meiner Überraschung noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Und plötzlich hatte ich eine seltsame, mystische Erkenntnis: mein Großvater und mein Vater waren ein- und dieselbe Person, in unterschiedlicher Gestalt inkarniert, und auch ich war mit ihnen identisch.
Erst diesen Sommer habe ich das Versäumnis nachgeholt, Josephs Roths gewaltigen Roman “Radetzkymarsch” aus dem Jahre 1932 zu lesen. Mitten in der Lektüre, am Tag der kirchlichen Hochzeit meines treuesten Wiener Freundes, dessen Tochter den Namen Zita trägt, starb der letzte Thronfolger Otto von Habsburg im 99. Lebensjahr. Es gibt vorbestimmte Bücher, deren Lektüre man aus einer merkwürdigen Scheu heraus lange aufschiebt, weil man ahnt, daß man viel Kraft brauchen wird, um sie aufzunehmen.
Mir fiel besonders auf, wie Roth den Untergang der Habsburger-Monarchie als Zusammenbruch einer patriarchalen Kontinuität schildert. Die Hauptfiguren des Romans, die Trottas, entstammten wie meine Familie väterlicherseits einem slowenischen Bauerngeschlecht. 1859 rettet der junge Leutnant Joseph Trotta in der Schlacht von Solferino dem Kaiser das Leben, indem er sich in die Schußbahn einer Kugel wirft. Dabei wird er selbst getroffen und entgeht nur knapp dem Tod.
Trotta fühlte sein Herz im Halse. Die Angst vor der unausdenkbaren, der grenzenlosen Katastrophe, die ihn selbst, das Regiment, die Armee, den Staat, die ganze Welt vernichten würde, jagte glühende Fröste durch seinen Körper.
Zum Dank wird Trotta in den erblichen Adelsstand erhoben und nun erst wirklich zum “Österreicher” gemacht. Der Dienst am Kaiserreich wird fortan zur raison d’être der Trottas, der “Spartaner unter den Österreichern” (Roth). So wie der Kaiser Franz Joseph I. zum Übervater des Reiches wird, das solange stehen wird, solange er lebt, und der Gottvater im Himmel über ihm thront und den apostolischen Segen gewährt, so wird Joseph von Trotta zum Miniatur-Kaiser und stiftenden Patriarchen der Familie, der gebieterisch über dem Leben seines Enkels Carl Joseph als etwas tyrannisches, weil unerreichbares Ideal thront.
Der Haupteil des Romanes behandelt das Drama zwischen ihm und seinem Vater, dem Bezirkshauptmann Franz von Trotta, dem strengen und pflichtgetreuen Repräsentanten der alten Ordnung, die bereits todgeweiht und innerlich morsch ist, und deren Übertragung auf den Sohn nicht mehr gelingt: dieser schlägt eine Offizierslaufbahn ein, die seiner Natur nicht liegt, er verliert sich in Alkohol, Spielschulden und Affären mit älteren Frauen, die das Alter seiner Mutter haben, die früh starb. Ehe es ihm gelingt, auch innerlich erwachsen zu werden, ist seine Zeit und jene der Welt, die er zu tragen bestimmt ist, abgelaufen. In den ersten Monaten des Weltkriegs von 1914 fällt Carl Joseph, sein Vater stirbt zwei Jahre später, am Tag der Beisetzung des greisen Kaisers, mit dessen Tod auch die k.u.k‑Monarchie endgültig stürzt.
Ich habe nie verstanden, wieso “das Patriarchat” ein so schlechtes Image bekommen konnte, wie es heute im Westen hat. Meistens ist es nur ein dummes, von einem vulgären Feminismus in die Münder der Nachplapperer gelegtes Schlagwort, das hauptsächlich verleumderischen Zwecken dient.
Es sind aber die Väter und das väterliche Prinzip, die die Welt auf ihren Schultern tragen, und niemals wird es anders sein. Viele junge Männer, die an einer maskulinitätsfeindlichen und effeminisierenden Gesellschaft leiden, wollen heute wieder Männer werden, aber sie werden ihr Ziel nie erreichen, wenn sie nicht auch zugleich Väter sein wollen. In seinem Roman “Man and Boy” schrieb der 1953 geborene britische Schriftsteller Tony Parsons über die Geburt seines Sohnes:
Jetzt habe ich also dazu beigetragen, daß ein neuer Mensch in diese Welt kommen konnte. Heute bin ich das geworden, was mein Vater sein Leben lang war. Heute bin ich ein Mann geworden.
Um auf den Trend des Generationenromanes (der deutsche Dokumentarfilm war ihm um einige Jahre voraus) und die darin gebaute Brücke zu den Großvätern zurückzukommen: daß die “patrilineare” Kette heute in einer schweren, beispiellosen Krise steckt, ist ein bedenkliches Zeichen für den Zustand unserer Zivilisation. Es mag sein, daß wir heute wieder dort angelangt sind, wo vor hundert Jahren Roths unglückseliger Carl Joseph von Trotta stand, und daß der “Tod schon seine knochigen Hände” auch über unseren “Kelchen” kreuzt.
Just dieser Tage, als der Zeit-Artikel von Iris Radisch erschein, las ich auch die Korrekturen für die von mir mitverantwortete, demnächst erscheinende Sammlung von Aufsätzen des norwegischen Bloggers “Fjordman” Peder Jensen. In seinem Essay “Die vaterlose Zivilisation”, den wir in den Band aufgenommen haben, hat er die Lage glänzend analysiert. Dies ist seine Schlußfolgerung:
Die Abwesenheit der Vaterschaft hat eine Gesellschaft voller sozialer Pathologien geschaffen, und der Mangel an männlichem Selbstvertrauen hat uns für unsere Feinde zur leichten Beute gemacht. Wenn der Westen überleben soll, müssen wir wieder ein gesundes Maß an männlicher Autorität geltend machen. Dazu müssen wir den Sozialstaat zurückfahren. Vielleicht müssen wir auch einige der Exzesse des westlichen Feminismus zurückfahren.
Die neuen Bücher:
Josef Bierbichler: Mittelreich
Oskar Roehler: Herkunft
Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts