was heutzutage wirklich wichtig ist und wo die Entscheidungen für die Zukunft fallen. Dies hat Methode; ja mehr noch: Diese Skandalokratie hat sich als ein neues Herrschaftssystem etabliert. Für meinen Vortrag in Stuttgart in der letzten Woche habe ich dazu zwölf Thesen formuliert, die ich auch an dieser Stelle vorstellen möchte.
- In kollektiv traumatisierten Nationen werden Skandale besonders energisch diskutiert und verlangen von den politischen Eliten außerordentliche Konsequenzen. Symptomatisch sind zudem kollektive Gesten der Buße. Nationen mit einem gesunden Selbstbewußtsein neigen hingegen dazu, die Skandale maßvoll zu sanktionieren oder sie sogar auszusitzen.
- Der Skandal ist ein Makroritual in den Medien, das dazu dient, die „Gesellschaft“ auf ein neues Leitthema einzustimmen und auf politische Veränderungen vorzubereiten. Mit dem Makroritual wird die Moralität dieses Vorgehens legitimiert und festgelegt, wer zur politischen Öffentlichkeit dazugehört und wer nicht.
- Die Enthüllung von Skandalen läuft heute in den Massenmedien quasi in Echtzeit ab und produziert so Gerüchte und Spekulationen am laufenden Band. Personalfragen sind dabei immer wichtiger als die Sache selbst. Im Internetzeitalter ist dabei im Vorteil, wer anonym denunziert. Angreifbar ist, wer mit seinem Gesicht und Namen für kantige Positionen einsteht.
- Diese Enthüllungen in Echtzeit setzen die Politik unter enormen Handlungsdruck, den es ansonsten in der Konsensdemokratie nicht gibt. Politische Konsequenzen werden deshalb meistens bereits dann gezogen, wenn die Ermittlungen bzw. die Aufklärung des Skandals noch nicht abgeschlossen sind. Es ist also zum Zeitpunkt der politischen Beschlüsse noch unklar, was nur ein öffentliches Gerücht ist und was der Wahrheit entspricht.
- Wir leben in einer entpolitisierten, entideologisierten Konsensdemokratie, die sich von den Ursprüngen des Parlamentarismus entfernt hat und kontroverse Debatten nicht mehr kennt. Doch diese Konsensdemokratie kennt einen Modus, mit Hilfe dessen sich alle Parteien auf ein neues Ziel einschießen können. Dies ist der Skandal, der einen Ausnahmezustand konstituiert, in dem sofortige politische Kehrtwenden durchgesetzt werden können.
- Diese Herrschaft des Skandals (Skandalokratie) gefährdet den Rechtsstaat und setzt ihn zuweilen außer Kraft. In der Skandalokratie fällt die „Rechts-Ordnung“ auseinander. Das Recht wird notfalls suspendiert, um die alte Ordnung zu bestätigen oder eine neue auf den Weg zu bringen. Dazu braucht es Legitimitätsverfahren, die über den Legalitätsglauben hinausgehen.
- Sobald die Skandale keine Einzelfälle mehr sind, sondern vielmehr einer den nächsten jagt, befinden wir uns in einem permanenten Ausnahmezustand, der medial geschaffen wurde. In diesem geht es zwar nicht um die nackte Existenz, sehr wohl aber um tief sitzende Existenzängste.
- Diese Existenzängste werden gebändigt, indem die Öffentlichkeit ein Normalitätsversprechen abgibt. Dieses lautet: Nur wenn jetzt endlich durchgegriffen wird, könnt ihr weiter in Wohlstand, Frieden und Sicherheit leben. Massengesellschaften brauchen ein genaues Bild von Normalität und scheuen Diskontinuitäten. Dies begünstigt ein lineares Geschichtsbild.
- Große Skandale lassen Verschwörungstheorien entstehen.
- Das Krisenmanagement in allen wesentlichen Politikfeldern ist in Deutschland desaströs. Aus diesem Grund suchen sich die Eliten emotional besetzte Felder, wo sie besser punkten können.
- Die Skandalokratie verdrängt in der öffentlichen Wahrnehmung die eigentlichen Herausforderungen unserer Zeit und ist damit eine Debattenverhinderungskultur. Es findet ein Informations-Overkill bei gleichzeitigem Totschweigen der Hintergründe und Ursachen von Problemen statt. Souverän ist folglich, wer mediale Ausnahmezustände auslösen und steuern kann und wem es gelingt, im normalen Tagesgeschäft politische Entscheidungen und Debatten zu verhindern.
- Unsere Wahrnehmung ist so sehr von Boulevardisierung, Personalisierung, Ritualisierung, Beschleunigung der Neuigkeiten sowie Virtualisierung bzw. Anonymisierung geprägt, daß diese eigentlichen Herausforderungen nur auf die Agenda kommen, wenn jemand sie skandalös thematisiert. Neben moralischen Verfehlungen und tatsächlichen Straftaten reicht in traumatisierten Nationen häufig bereits eine direkte Schilderung der Wirklichkeit.
Landser
1. Die beiden Links führen zur Seite des Verlages, aber nicht zu irgendwelchen Literaturhinweisen. Das war wohl nicht so gemeint, oder?
2.Wie sind "kollektiv traumatisierte Nationen" (These 1)eigentlich definiert? Fallen bspw. auch Russland, Japan oder Ruanda darunter? Wenn nein, warum nicht? Wenn ja, sind von dort ebenfalls Probleme mit der "Skandalokratie" bekannt? Oder ist mit "kollektiv traumatisierten Nationen" doch nur die BRD gemeint? Dann sollte man das auch so sagen.
3. Die These, der Skandal diene dazu, ", die „Gesellschaft“ auf ein neues Leitthema einzustimmen und auf politische Veränderungen vorzubereiten" (These 2), impliziert, daß es eine Art von gesteuerter Medienberichterstattung gibt. Beweise dafür? Außerdem übersieht diese These, daß es ökonomische Gründe für eine skandalträchtige Berichterstattung gibt. Kurz gesagt: Skandale verkaufen sich eben gut. Medienunternehmen sind zuerst mal Wirtschaftsunternehmen.
4. Das die Konsensdemokratie "entideologisiert" ist (These 5), scheint mir alles andere als richtig. Das Gegenteil ist der Fall. Wir leben in hochgradig ideologischen Verhältnissen. Das Problem ist, daß die Ideologie(n) nicht als solche daherkomm(t)(en)! Was anderes sind denn z.B. gender mainstreaming oder der sogenannte Umweltschutz?
5. Zu These 8: Welche "Öffentlichkeit" ist hier gemeint? Wer gibt ein "Normalitätsversprechen ab? Die Medien? Die Politik?
Und übrigens glaube ich nicht, daß nur Massengesellschaften ein genaues Bild von Normalität brauchen und Diskontinuitäten scheuen. Das scheint mir eher allgemein menschlich zu sein.
6. Die "Eliten" (These 10)suchen sich nicht deshalb emotional besetzte Felder, weil das Krisenmanagement in allen wesentlichen Politikfeldern desaströs ist, sondern andersrum ist's richtig. Das Krisenmanagement ist deshalb so desatrös, weil allgemein gern auf emotional besetzte Felder ausgewichen wird. Und das deshalb, weil die rein sachliche Ebene so schwierig und verworren ist (oder erscheint). Oder anders gesagt: Mit Moral (oder dem Anschein einer solchen) läßt sich heutzutage leichter punkten als mit komplizierter Sacharbeit/-politik.
7. In These 12 heißt es: " Neben moralischen Verfehlungen und tatsächlichen Straftaten reicht in traumatisierten Nationen häufig bereits eine direkte Schilderung der Wirklichkeit" zur Skandalisierung. Das glaube ich allerdings nicht. Nicht die Schilderung der Wirklichkeit wirkt skandalisierend, sondern eher der Umstand, daß die skandalöse Wirklichkeit thematisiert wird; also der Umstand der Thematisierung ist in aller Regel doch schon das Skandalon. Und genau deswegen wird ja auch in der Regel nicht über die skandalösen Umstände gesprochen, sonder über den, der es gewagt hat, diese zu benennen (z.B. Homann od. eine gewisse TV-Moderatorin od. eine gewisse Richterin).