Melanie Mühl: Die Patchwork-Lüge

Die Beiträge der jungen FAZ-Redakteurin Melanie Mühl gefielen bislang durch ihren neugierig hinterfragenden Gestus,...

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

eine deut­li­che eige­ne Posi­ti­ons­be­stim­mung las man nicht – bis zu ihrem 2010 erschie­ne­nen Arti­kel über das »geheu­chel­te Fami­li­en­glück« der Patch­work-Exis­ten­zen. Stau­nens­wert dezi­diert – man­cher fand: ein­sei­tig – ging sie hier mit dem zusam­men­ge­stupf­ten »Fami­li­en­mo­dell der Zukunft« ins Gericht.

Mühls Buch (treff­lich zeit­gleich) flan­kie­rend, führt Char­lot­te Roches Ver­kaufs­schla­ger Schoß­ge­be­te vor, zu wel­chen Skru­peln, Beschä­di­gun­gen und gar Haß­phan­ta­sien sol­che medi­al halb als mun­ter, halb als cool dar­ge­stell­ten Mann-Frau-Kin­der-Stief-Kom­bi­na­tio­nen füh­ren kön­nen. Anders als bei der etwa gleich­alt­ri­gen Roche bleibt bei Mühl offen, ob ihre wohl­durch­dach­te Pole­mik gegen das Fami­li­en­flick­werk (der Ter­mi­nus Patch­work-Fami­lie wur­de 1990 erfun­den) auf per­sön­li­chen Erfah­run­gen beruht oder was sonst sie zu ihrem durch-und-durch-kon­ser­va­ti­ven Plä­doy­er für die her­kömm­li­che Kern­fa­mi­lie bewo­gen hat.

Die Idea­li­sie­rung des trü­ge­ri­schen Patch­work­idylls, als des­sen pro­mi­nen­te Ver­tre­ter sie neben Film­stars vor allem die fröh­li­che Prä­si­den­ten­fa­mi­lie Wulff aufs Korn nimmt, ent­fal­te durch Foto­stre­cken ( Boris Beckers »per­fek­tes Patch­work­glück« mit vier Kin­dern drei­er Frau­en und der­glei­chen) in ein­schlä­gi­gen Zeit­schrif­ten und vor allem durch unge­zähl­te Fern­seh­for­ma­te eine sub­ku­ta­ne Wir­kung, die Spu­ren in unse­rem Bewußt­sein hin­ter­lie­ße, näm­lich: »Ich-Opti­mie­rung« ist jeder­zeit mög­lich, und sei es durch »Partner«-Wechsel trotz gemein­sa­mer Kinder.

Fern­seh­ma­cher setz­ten der tat­säch­li­chen Ver­un­si­che­rung durch auf­ge­ge­be­ne Lie­bes­ver­hält­nis­se eine erfun­de­ne Kuschel­welt ent­ge­gen, die uns nahe­le­ge, die »Wirk­lich­keit anhand fik­tio­na­ler Bau­plä­ne umzu­deu­ten«. Mühl zählt Seri­en auf und refe­riert Film­hand­lun­gen vol­ler (posi­tiv kon­no­tier­ter) Patch­work-Akro­ba­ten, um fest­zu­stel­len: Die Nor­mal­fa­mi­lie zün­det allen­falls bei den Simpsons – näm­lich als Karikatur.

Vor eini­gen Jahr­zehn­ten habe man sich noch ein­ge­stan­den, wie schmerz­haft Schei­dun­gen gera­de für Kin­der sein kön­nen. Daß davon heu­te ganz sel­ten die Rede ist (abge­se­hen von Roches hun­dert­tau­send­fach gele­se­nem ful­mi­nan­tem Buch!), rei­he sich ein in die gül­ti­ge Phi­lo­so­phie eines any­thing goes mit ihrem trü­ge­ri­schen Dau­er-Cre­do des Indi­vi­du­ums, daß das »Eigent­li­che« erst noch kom­me. Die gän­gi­ge Defi­ni­ti­on einer Ehe als »Team« wer­te den Gat­ten als fle­xi­blen Fak­tor, der einer Logik des Markt­ge­sche­hens und der Dau­er-eva­lu­ie­rung unter­wor­fen wer­de. »Wir berech­nen die Lie­be: Tut mir der ande­re gut? Hilft er mir, mich selbst zu fin­den? Zahlt er sich aus?«

Im Fal­le der Ver­nei­nung, ätzt Mühl, tausch­ten wir ihn aus wie ein Mobil­te­le­fon oder eine Kame­ra, deren Funk­tio­nen wir in Wahr­heit weder aus­ge­schöpft noch durch­schaut haben. Zah­len und Sta­tis­ti­ken, die das Leid der Patch­work-Opfer ver­deut­li­chen könn­ten, spart sich die Autorin. Es ist auch frag­lich, ob sol­cher­art Empi­rie hier wei­ter­hül­fe. Daß man als Schei­dungs­kind erfolg­reich und ver­mö­gend wer­den kann (wie Roche mit ihren sta­tis­tisch uner­faß­ten Sui­zid­plä­nen) steht ja außer Frage.

(Mela­nie Mühl: Die Patch­work-Lüge. Eine Streit­schrift, Mün­chen: Han­ser 2011. 171 S., 17.40 €)

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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