10. Oktober 2011
Melanie Mühl: Die Patchwork-Lüge
Ellen Kositza
Die Beiträge der jungen FAZ-Redakteurin Melanie Mühl gefielen bislang durch ihren neugierig hinterfragenden Gestus, eine deutliche eigene Positionsbestimmung las man nicht – bis zu ihrem 2010 erschienenen Artikel über das »geheuchelte Familienglück« der Patchwork-Existenzen. Staunenswert dezidiert – mancher fand: einseitig – ging sie hier mit dem zusammengestupften »Familienmodell der Zukunft« ins Gericht.
Die Idealisierung des trügerischen Patchworkidylls, als dessen prominente Vertreter sie neben Filmstars vor allem die fröhliche Präsidentenfamilie Wulff aufs Korn nimmt, entfalte durch Fotostrecken ( Boris Beckers »perfektes Patchworkglück« mit vier Kindern dreier Frauen und dergleichen) in einschlägigen Zeitschriften und vor allem durch ungezählte Fernsehformate eine subkutane Wirkung, die Spuren in unserem Bewußtsein hinterließe, nämlich: »Ich-Optimierung« ist jederzeit möglich, und sei es durch »Partner«-Wechsel trotz gemeinsamer Kinder.
Fernsehmacher setzten der tatsächlichen Verunsicherung durch aufgegebene Liebesverhältnisse eine erfundene Kuschelwelt entgegen, die uns nahelege, die »Wirklichkeit anhand fiktionaler Baupläne umzudeuten«. Mühl zählt Serien auf und referiert Filmhandlungen voller (positiv konnotierter) Patchwork-Akrobaten, um festzustellen: Die Normalfamilie zündet allenfalls bei den Simpsons – nämlich als Karikatur.
Vor einigen Jahrzehnten habe man sich noch eingestanden, wie schmerzhaft Scheidungen gerade für Kinder sein können. Daß davon heute ganz selten die Rede ist (abgesehen von Roches hunderttausendfach gelesenem fulminantem Buch!), reihe sich ein in die gültige Philosophie eines anything goes mit ihrem trügerischen Dauer-Credo des Individuums, daß das »Eigentliche« erst noch komme. Die gängige Definition einer Ehe als »Team« werte den Gatten als flexiblen Faktor, der einer Logik des Marktgeschehens und der Dauer-evaluierung unterworfen werde. »Wir berechnen die Liebe: Tut mir der andere gut? Hilft er mir, mich selbst zu finden? Zahlt er sich aus?«
Im Falle der Verneinung, ätzt Mühl, tauschten wir ihn aus wie ein Mobiltelefon oder eine Kamera, deren Funktionen wir in Wahrheit weder ausgeschöpft noch durchschaut haben. Zahlen und Statistiken, die das Leid der Patchwork-Opfer verdeutlichen könnten, spart sich die Autorin. Es ist auch fraglich, ob solcherart Empirie hier weiterhülfe. Daß man als Scheidungskind erfolgreich und vermögend werden kann (wie Roche mit ihren statistisch unerfaßten Suizidplänen) steht ja außer Frage.
(Melanie Mühl: Die Patchwork-Lüge. Eine Streitschrift, München: Hanser 2011. 171 S., 17.40 €)
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