behalten hat, weiß, daß die Lage ziemlich hoffnungslos ist: Geburtenschwund, Überfremdung und Bildungsverfall haben unser Land todkrank gemacht. Im Vergleich dazu ist das, was durch den Zusammenbruch und die Neuordnung des Finanz- und Wirtschaftssystems auf uns zukommen könnte, eine lösbare Aufgabe.
Wir werden Vermögen verlieren und aus der Substanz leben, aber im Kern nicht angegriffen sein, wenn das Übermäßige wieder maßvoll wird. Kindermangel und Überfremdung indes kann man nicht überwinden wie eine Wirtschaftskrise: Diese Entwicklungen haben die Identität unseres Volkes und vor allem seine Regenerationsfähigkeit schon so sehr verändert, daß es nicht mehr zu agieren, sondern nur noch zu reagieren vermag. Seltsam ist, daß es nicht viele Deutsche gibt, die das mögliche Ende einer tausend Jahre alten Kontinuität so quält, daß sie Fragen stellen. Wie wollen wir leben? Welche Spielräume bleiben uns noch? Was darf keinesfalls verlorengehen?
Im Gegenteil: Das mündige Volk läßt sich alle paar Wochen durch einen Skandal von diesen existentiellen Fragen seiner Zukunftsfähigkeit ablenken. Und in ihren intelligenteren Einzelvertretern sind die Deutschen von einer solchen individualisierten Schläue, daß bereits fünfzehnjährige Gymnasiasten ihre jähe Lust an der Entlarvung der großen Lügen unserer Zeit einem Karrierekalkül opfern.
Anfang der achtziger Jahre saß ich als kleiner Klassensprecher staunend in den Schülerratssitzungen vor langhaarigen, strickenden Oberstufenvertretern, die für Nicaragua Geld sammelten und das konservative Kollegium einer konservativen Lateinschule in einer konservativen oberschwäbischen Stadt unausgesetzt provozierten. Vor welchen Elfern und Zwölfern säße ich heute?
Wohl nicht vor solchen, die das gefühlslinke Kollegium eines Unesco-Partner-Gymnasiums in einer angegrünten, energieneutralen Stadt unausgesetzt von rechts provozierten: mit einer energiegeladenen Rudelbildung in den Pausen, gut präpariert im Unterricht, mit konservativen Meinungshemden, sehr kurzen Haaren und einem militärischen »Jawoll« auf jede Zurechtweisung von weiter oben – aufgeladen mit dem Furor einer einzigen großen Frage: Warum habt Ihr unsere Zukunft verspielt?
Ellen Kositza sagt immer, daß es kaum etwas gibt, worüber sie sich stärker wundert, als über dieses Fehlen intelligenter, rechter Provokateure unter den Schülern. Ist in diesem Fall die anthropologische Konstante der Empörungs- und Widerspruchslust an ihr Ende gekommen? Oder gibt es diese innere Pflicht zur Aufmüpfigkeit nur dann, wenn noch Dynamik in einer Generation steckt, wenn es beinahe nicht schnell genug gehen kann, die Alten aufs Altenteil zu schicken?
Von alledem ist nichts zu spüren. Die braven Mädchen und Bübchen scheinen mit gepudertem Hintern nicht mehr nach dem möglichst größten Schock zu suchen, den sie mit einer einzigen Frage bei ihrem Lehrer auslösen könnten. Ihre Frage lautet vielmehr: Was tut mir später gut, wenn ich bedenke, daß das Internet nichts von meinen frühen Taten und meinem Jugendzorn vergißt?
Wer so fragt, wird im Leben über jedes Stöckchen springen, das ihm einer hinhält. Dabei gibt es einen simplen, immateriellen Grund, auf das Spätere zu pfeifen, wenn man nach sich selbst auf der Suche ist. Henry de Montherlant nennt ihn in seinem »Brief eines Vaters an seinen Sohn«. Ich zitiere: »Das Wesentliche ist allein die Lebenshöhe. Sie wird Dir alles ersetzen. Darunter verstehe ich das Losgelöstsein, denn wie könnte man Höhe gewinnen, ohne sich loszulösen? Diese Lebenshöhe wäre Dir Heimat genug, hättest Du keine andere. Sie wird Dir Dein Vaterland ersetzen, wenn es Dir eines Tages fehlen sollte. Man muß einfach unsinnig hoch stehen; man stürzt dann zwar leichter und viel tiefer hinab. Aber was wäre man denn ohne diese menschliche Höhe!«
Im Club der toten Dichter ermuntert der Lehrer seine Schüler, auf die Pulte zu steigen und neu zu sehen. Dieses Losgelöstsein, diese Sezession ist nicht auf eine Lebensphase beschränkt. Für die »Lage«-Ausgabe der Sezession schrieben Autoren, die ihre im intellektuellen Milieu nicht wohlgelittene Meinung keinesfalls auf jugendlichen Übermut zurückgeführt sehen möchten; sie sehen vielmehr in eben dieser Meinung den Beweis für den eigenen, klaren Blick inmitten einer begrifflichen und diskursiven Nebellandschaft. Vielleicht stehen sie auf ihren Tischen, während sie schreiben. So genau kenne ich unsere Autoren nicht.
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