Blick in den neuen Merkur

Karl Otto Hondrich (1937-2007) ist ein Beispiel dafür, daß es der Soziologie auch heute noch möglich sein sollte, die Wirklichkeit in den Blick zu nehmen und den "herrschaftsfreien Diskurs" in den Bereich der Fabel zu verbannen. Bis zuletzt hat es Hondrich verstanden, Einsichten zu formulieren, in denen die uns umgebende Welt wiederzuentdecken war. Beispielsweise als er das Prinzip der Demokratie gefährdet sah, wenn den Interessen der Einheimischen kein Vorrang vor denen der Zugewanderten mehr eingeräumt würde.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

In sei­ner Abschieds­vor­le­sung (2005), die im Mer­kur abge­druckt ist, benennt er eine ent­schei­den­de Erkennt­nis, die sei­ne Hoch­schät­zung für “Lern­sys­te­me” erklärt:

Nach 1989 fiel es mir wie Schup­pen von den Augen: Der Glau­be an das Ende der Natio­nal­staa­ten war ein Irr­glau­be, viel­leicht der größ­te, dem ich poli­tisch auf­ge­ses­sen bin. Mit dem Weg­bre­chen der sowje­ti­schen und jugo­sla­wi­schen Impe­ri­en ord­ne­ten sich die Staa­ten neu. Die einen mit Gewalt, die ande­ren wie von Geis­ter­hand bewegt. Alle gehorch­ten sie dem­sel­ben Prin­zip: Die poli­ti­schen Gren­zen suchen sich die sozio­kul­tu­rel­len Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­füh­le und Gren­zen – und ras­ten in ihnen ein.

Hond­rich gibt zu, etwas gelernt zu haben und kann daher dif­fe­ren­zie­ren. Gänz­lich undif­fe­ren­ziert preist uns dage­gen Otfried Höf­fe, Pro­fes­sor für Phi­lo­so­phie in Tübin­gen, das “Prin­zip Sub­si­dia­ri­tät” als “eine neue Ant­wort des Staa­tes auf die Zei­ten der Glo­ba­li­sie­rung” an. Wenn man Höf­fe glau­ben darf, ist es um Euro­pa gut bestellt, weil es sich die­ses gran­dio­se Prin­zip der Selbst­ver­ant­wor­tung auf die Fah­nen geschrie­ben hat. Das lei­tet er aus der Tat­sa­che ab, daß Euro­pa von den Natio­nal­staa­ten gegrün­det wur­de und die Ent­mach­tung die­ser daher “sub­si­di­är” erfolge.

Und legi­ti­ma­to­risch gese­hen blei­ben die Bür­ger­schaf­ten der eigent­li­che Sou­ve­rän; die von ihnen gegrün­de­ten Ein­zel­staa­ten behal­ten den Rang von Primärstaaten.

Soll das jetzt ein Trost sein? Oder will Höf­fe damit ein­fach noch ein­mal unter­strei­chen, daß er zwi­schen Wunsch und Rea­li­tät nicht unter­schei­den kann? In jedem Fall ist das poli­ti­sche Phi­lo­so­phie wie sie nicht sein soll.

Glück­li­cher­wei­se hat der Mer­kur noch etwas mehr zu bie­ten. Franz Krom­ka zeigt sich in sei­ner Unter­su­chung des Nei­des als kon­se­quen­ter Markt­wirt­schaft­ler, da die­se in der Lage sei, die Miss­gunst zu begren­zen und sogar zum Wett­be­werb anzu­spor­nen. Frank Her­tel, ein Sozio­lo­ge, der sei­nen Lebens­un­ter­halt als Arbei­ter in einer Groß­bä­cke­rei ver­die­nen muß (also kei­ne “Feld­stu­die”), kommt ange­sichts sei­ner Kol­le­gen zu der ernüch­tern­den Einsicht:

In mei­ner Fabrik herrscht die Dumm­heit. Sie wird unter­stützt von der Faul­heit, dem Wahn­sinn, der Krank­heit und der Unord­nung. Wir haben Mit­ar­bei­ter, die seit zehn Jah­ren in Deutsch­land leben und kaum deutsch kön­nen. Es gibt Leu­te, die über gro­ßen Geld­man­gel kla­gen und sich einen Neu­wa­gen für 20000 Euro auf Kre­dit kau­fen. Es gibt bei uns Über­ge­wich­ti­ge, die in einer Schicht zwei Liter Cola trin­ken. Bie­tet unser Land nicht alle Chan­cen, die man nut­zen kann, wenn man intel­li­gent genug ist? Die Aus­län­der kön­nen deutsch ler­nen, die Armen zwei Kilo­me­ter zum Arbeits­platz mit dem Fahr­rad fah­ren, die Dicken statt Cola Was­ser trin­ken. Ist das so schwer? Es ist die Dumm­heit, die im Weg steht.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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