diesen anderthalb Tagen mußte die “Sezession im Netz” ihr Gesellenstück in der Disziplin “Binnenpluralismus” einreichen. Nun denn:
Es sind in Lichtmesz und Weißmann zwei grundsätzlich unterschiedliche Formen der metapolitischen Äußerung aneinandergeraten, die seit Jahren in der Sezession nebeneinander herlaufen, ihre Lichtpunkte setzen und den eigentümlichen, unverwechselbaren und in seinen besten Momenten suggestiven Stil unseres Projekts hervorbringen.
1. Der Strategie-Denker: Sein Feld ist die metapolitische Analyse, und er schreibt in dem Bewußtsein, daß Einfluß vor allem etwas mit Macht zu tun habe: Wer an prominenter Stelle veröffentlichen kann, mag weniger klug, weniger treffend, weniger durchdringend geschrieben haben als jener glänzende Blogger, der allenfallsein paar tausend (immerhin!) Leser erreicht – Macht hat er, Einfluß besitzt er, denn er kann hunderttausenden Lesern oder Zuschauern sagen, was er für richtig hält; Macht hat, wer deutschlandweite Gedenkminuten ansetzen oder verhindern kann; keine Macht hat, wer auf einen Anteil an der Macht pochen muß – und ihn sich nicht einfach nehmen kann.
Weißmann ist ein Strategie-Denker, ich habe viel von ihm gelernt: Er betont nicht ohne Grund die Klugheit und eine gewisse Veröffentlichungsstrategie als Voraussetzung dafür, jenseits eines “Milieus” Einfluß zu gewinnen. Er ist in der Sache hart und im Ton lageorientiert. Das bedeutet: Er läßt sich diesen Ton nicht von seinem Gemütszustand diktieren. Wenn nötig, dann legt er einen Text für ein paar Stunden in den Gefrierschrank. Seine Feder ist kühl.
2. Der Ausdrucks-Typ, expressiv, künstlerisch, im Kern nicht zu vereinnahmen, pendelnd zwischen Phasen des Blätterns im großen Buch des Lebens und jähem intensivem Ausbruch. Das formal, habituell und stilistisch Mitreißende ist sein Metier, ist das Metier eines Martin Lichtmesz – zornig lichtet er den Nebel und drischt ein paar Orientierungspfähle in den Boden. Er überzeugt nicht nur, er überwältigt. Er liegt mir sehr, das muß ich nicht betonen, und seine Weise, mit dem zivilreligiösen Schweigeritual abzurechnen, ist kein Grund für eine Distanzierung.
Solche Texte nämlich machen aus der Sezession einen gespannten Bogen: Die Strategie-Denker sind das Holz, die Ausdrucks-Typen sind die Sehne (und ich gebe meine interne Bogen-oder Sehne-Liste nicht heraus; wer genau liest, kann selber zusortieren). Muß ich noch sagen, daß ich beide – den Strategie-Denker und den Ausdrucks-Typ – für unverzichtbar halte, und daß der Bogen bloß ein Stock wäre, wenns die Sehne nicht gäbe, die Sehne bloß eine Schnur ohne das widerständige Holz?
Mit anderen Worten: Binnenpluralismus. Wer das jüngste Heft der Sezession liest, weiß, daß ich dies forciere – die Auseinandersetzung, die Debatte, Töne aus der gesamten Bandbreite der Klaviatur. Und: Selten bekam ich mehr Post als auf dieses Heft.
Dies und der Zuwachs an Abonnenten und Internet-Lesern bestätigt, daß der Bogen nicht in der Ecke stehen darf, sondern gespannt werden muß. Nur dann lese ich (als der stets erste und gründlichste Leser) unsere Zeitschrift unter dem Eindruck, wieder etwas Unverzichtbares, Unverwechselbares in der Hand zu halten.
Georg Mogel
Sag mal, verehrtes Publikum:
Bist du wirklich so dumm?
So dumm, daß in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbstellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Rechsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte...
Sag mal, verehrtes Publikum:
Bist du wirklich so dumm - ?
Kurt Tucholsky