Autorenportrait Michel Houellebecq

pdf der Druckfassung aus Sezession 43/ August 2011

Über den französischen Skandalautor Michel Houellebecq gibt es – abgesehen von der soliden Studie einer österreichischen Wissenschaftlerin – noch keine gründlichen Arbeiten, die sich seinem schriftstellerischen Werk der letzten 20 Jahre widmen.

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

Häu­fig sind hin­ge­gen lang­wei­li­ge Psy­cho­gram­me des Feuil­le­tons, die aus dem Werk Hou­el­le­becqs und aus sei­nem Habi­tus Kom­ple­xe her­aus­le­sen. Ver­weist die­ser Autor nicht auf sei­ne schwe­re Kind­heit, wenn er sei­ne Roman­fi­gu­ren an den päd­ago­gi­schen Expe­ri­men­ten der 68er lei­den läßt? Beweist er nicht sein Min­der­wer­tig­keits­ge­fühl durch sei­ne Haß­ari­en auf den Islam, Frau­en und Schwu­le und auch dadurch, daß er bis auf sei­nen letz­ten Roman Kar­te und Gebiet in jeder Erzäh­lung einen buck­li­gen Ver­lie­rer von neben­an als Prot­ago­nis­ten ein­ge­setzt hat? Kom­pen­siert er also nicht lite­ra­risch sei­ne unüber­seh­ba­ren Defi­zi­te? Hou­el­le­becq – der dau­er­de­pres­si­ve Ket­ten­rau­cher, der noch nie Erfolg bei Frau­en gehabt hat und des­halb in irgend­ei­nem dunk­len Win­kel geis­tig mas­tur­biert. Und Lite­ra­tur­papst Mar­cel Reich-Rani­cki zähl­te gar nach und wuß­te im »Lite­ra­ri­schen Quar­tett« über den Roman Ele­men­tar­teil­chen zu berich­ten, daß dar­in das Wort »Ona­nie­ren« sehr oft vor­kom­me, wäh­rend Goe­the das Wort »Lie­be« am häu­figs­ten ein­ge­setzt habe. So weit, so wenig, und wie so oft kam bei Reich-Rani­cki nach einem sol­chen Bon­mot nicht mehr viel. Er frag­te nicht danach, wel­che Grün­de die von Goe­the unter­schie­de­ne Wort­wahl haben könn­te. Auch der Ver­fas­ser einer Hou­el­le­becq-Bio­gra­phie, Denis Demon­pi­on, streift das Werk des Schrift­stel­lers allen­falls, weiß dafür aber, daß die­ser in Wirk­lich­keit Michel Tho­mas hei­ße, even­tu­ell ein fal­sches Geburts­da­tum (1956 oder 1958?) ange­ge­ben habe und zu sei­ner Mus­te­rung »geschminkt wie eine Nut­te« erschie­nen sein soll.

Das ist alles Fir­le­fanz. Wich­tig wäre, das Werk des Schrift­stel­lers zu ent­rät­seln. Und der Schlüs­sel dafür liegt in einer phi­lo­so­phi­schen Grund­ein­sicht, der sich jeder Kon­ser­va­ti­ve unse­rer Zeit stel­len muß. In einem Brief­wech­sel mit Bern­hard-Hen­ri Lévy schreibt Hou­el­le­becq näm­lich: »Wenn es nun aber auch nur einen ein­zi­gen Gedan­ken gibt, der alle mei­ne Roma­ne durch­zieht …, dann ist es wohl der von der abso­lu­ten Unum­kehr­bar­keit jedes Ver­falls­pro­zes­ses, der ein­mal ein­ge­setzt hat. Mag die­ser Ver­fall nun eine Freund­schaft, eine Fami­lie, ein Paar, eine grö­ße­re gesell­schaft­li­che Grup­pe oder eine gan­ze Gesell­schaft betref­fen … : Alles, was ver­lo­ren ist, ist ein für alle Mal ver­lo­ren. Es ist mehr als orga­nisch, es ist wie ein uni­ver­sel­les Gesetz, das auch für unbe­weg­te Objek­te gilt; es ist buch­stäb­lich entro­pisch. Jemand, der so sehr von der Unum­kehr­bar­keit jedes Ver­falls, jedes Ver­lusts über­zeugt ist, wür­de nicht im Traum an Reak­ti­on den­ken. Wenn ein sol­cher Mensch auch nie­mals Reak­tio­när sein wird, so ist er wie­der­um ganz natur­ge­mäß ein Kon­ser­va­ti­ver.« Um bei Reich-Rani­ckis Erb­sen­zäh­le­rei zu blei­ben: Hou­el­le­becq wid­met sich sehr wohl dem The­ma »Lie­be«. Er hat jedoch erkannt, daß ein roman­ti­sie­ren­der Blick auf sie unan­ge­bracht sei. Die tech­ni­sche Zivi­li­sa­ti­on set­ze sie einem zwangs­läu­fi­gen Ver­fall aus, und wir dürf­ten uns kei­ner Illu­si­on hin­ge­ben: Die­ser Ver­fall habe erst begon­nen. Wenn die Bio­tech­no­lo­gie in eini­gen Jahr­zehn­ten zur Blü­te gereift sei, set­ze sich die Tren­nung von Fort­pflan­zung und Sex voll­ends durch.

Die­ser Ver­falls­pro­zeß nun ist der Kern des Lebens­wer­kes von Hou­el­le­becq, am deut­lichs­ten sicht­bar in Die Mög­lich­keit einer Insel von 2005. Kon­se­quen­ter­wei­se ist der gera­de erst ver­öf­fent­lich­te Roman Kar­te und Gebiet kei­ne neu­er­li­che Varia­ti­on des gro­ßen The­mas mehr, kein wei­te­res Vor­an­tas­ten, son­dern eine iro­ni­sche Dar­stel­lung des­sen, der da tas­tet: Hou­el­le­becq schil­dert das Leben des Künst­lers Jed Mar­tin, der durch Foto­gra­fien von Miche­lin-Land­kar­ten berühmt wird. Nach die­sem Erfolg hört er mit der Foto­kunst auf und beginnt, Gemäl­de von Men­schen mit ein­fa­chen Beru­fen anzu­fer­ti­gen. Dies führt ihn schließ­lich zu einem gewis­sen Michel Hou­el­le­becq, der zurück­ge­zo­gen in Irland lebt und den Mar­tin bit­tet, einen Bei­trag für einen Aus­stel­lungs­ka­ta­log zu ver­fas­sen. Der Hou­el­le­becq des Romans wil­ligt ein und erhält als Bezah­lung ein von Mar­tin gemal­tes Por­trait sei­ner selbst geschenkt. Eini­ge Jah­re spä­ter wer­den Hou­el­le­becq und sein Hund grau­sam umge­bracht. Nach lan­ger Suche wird das Por­trait Mar­tins gefun­den und für zwölf Mil­lio­nen Euro ver­kauft. Der Künst­ler selbst erprobt in sei­nem letz­ten Schaf­fens­drit­tel schließ­lich eine wei­te­re Kunst­form. Er filmt den Zer­falls­pro­zeß von Gegen­stän­den, die er in ver­dünn­te Schwe­fel­säu­re gelegt hat.

Der ech­te Hou­el­le­becq erhielt für die­sen Roman 2010 den Prix Gon­court, den wich­tigs­ten Lite­ra­tur­preis Frank­reichs. Die meis­ten Kri­ti­ker waren sich einig, daß der Skan­dal­schrift­stel­ler nun end­lich auf den rich­ti­gen Weg gefun­den habe: End­lich kei­ne Tira­den mehr gegen Mus­li­me, Schwu­le oder Frau­en, statt des­sen ein Künst­ler­ro­man, der mit ein biß­chen Zynis­mus und leich­ter Gesell­schafts­kri­tik der Kul­tur­schi­cke­ria im Mun­de zer­geht. Man liegt nicht falsch, wenn man ver­mu­tet, daß von Hou­el­le­becq die­se Auf­nah­me und Wir­kung kal­ku­liert wor­den war. Das, was er in sei­nem Leben zu sagen hat­te, hat­te er nun ein­mal in Die Mög­lich­keit einer Insel zusam­men­ge­faßt und abschlie­ßend for­mu­liert. In Kar­te und Gebiet reflek­tiert er des­halb sei­ne eige­ne Ver­gäng­lich­keit und bringt durch den gewalt­sa­men Tod sei­nes Alter ego sei­ne Ver­mu­tung zum Aus­druck, daß es für sein künst­le­ri­sches Werk wohl das bes­te wäre, wenn ein Irrer ihn umbräch­te: Solch ein Ende wäre der Dün­ger für die Mythen­bil­dung um sei­ne Person.

Auf die Fra­ge von Jed Mar­tin »Schrei­ben Sie nicht mehr?« ant­wor­tet der fik­ti­ve Hou­el­le­becq, ein Gedicht über sei­nen Hund Pla­ton sei womög­lich »das letz­te über­haupt«. Er habe »inzwi­schen mit der Welt als Nar­ra­ti­on abge­schlos­sen – der Welt der Roma­ne und Fil­me und auch der Welt der Musik. Ich inter­es­sie­re mich jetzt nur noch für die Welt als Anein­an­der­rei­hung – in Poe­sie und Male­rei.« Die­ses Selbst­be­kennt­nis fin­det sich auch in dem Brief­wech­sel mit dem Bern­hard-Hen­ri Lévy, den der Spie­gel jüngst als den bekann­tes­ten und wohl auch umstrit­tens­ten Intel­lek­tu­el­len Frank­reichs bezeich­ne­te. Hou­el­le­becq, der auch als Lyri­ker in Erschei­nung tritt, sieht sei­nen Schaf­fen­s­hö­he­punkt über­schrit­ten und doku­men­tiert jetzt – weil sich noch kein Mör­der gefun­den hat – sei­nen eige­nen Ver­fall als Schrift­stel­ler. Dies gelingt ihm so bril­lant, daß ihn das Feuil­le­ton nun bei­na­he ein­hel­lig hofiert und dabei nicht ein­mal regis­triert, wie sehr es mit die­ser Ehr­erbie­tung Hou­el­le­becq in die Kar­ten spielt. Denn der Schrift­stel­ler hat dies in sei­nem Roman vor­her­ge­se­hen. Dort, wo Jed Mar­tin künst­le­risch beginnt, näm­lich bei der Akzep­tanz der Welt »mit einer gewis­sen Iro­nie«, ist Hou­el­le­becq jetzt ange­langt. Er ver­deut­licht das bereits mit dem Ein­gangs­zi­tat: »Die Welt ist mei­ner über­drüs­sig, / Und ich bin es ihrer glei­cher­ma­ßen.« (Karl, Her­zog von Orléans)

Es wäre nun ein Feh­ler, die­se Ein­sicht in eine aus­ge­schöpf­te Kraft mit einer künst­le­ri­schen Erschöp­fung zu ver­wech­seln. Viel­mehr gelingt es Hou­el­le­becq, eine Medi­en- und Arbeits­phi­lo­so­phie des Ver­falls zu skiz­zie­ren. Denn nicht das Kunst­werk ver­liert im Zeit­al­ter sei­ner tech­ni­schen Repro­du­zier­bar­keit sei­ne Aura, wie der Phi­lo­soph Wal­ter Ben­ja­min fälsch­li­cher­wei­se ange­nom­men hat. Wäre dies so, hät­te Jed Mar­tin nicht einen so immensen Erfolg haben dür­fen, und das Pro­blem wür­de sich im wesent­li­chen auf einen Bedeu­tungs­ver­lust der Kunst beschrän­ken. Die Lage ist viel schlim­mer: Der Mensch ver­liert im tech­ni­schen Zeit­al­ter die Ori­en­tie­rung über die Arbeit, die eigent­lich zu tun wäre. Statt etwas tätig auf­zu­bau­en, betei­ligt er sich unbe­wußt an der Abschaf­fung des Men­schen durch den Men­schen. Die­sen Punkt steu­ert Hou­el­le­becq am Ende von Kar­te und Gebiet an: Die Video­in­stal­la­tio­nen über den Zer­fall der Din­ge beschreibt der Autor als »nost­al­gi­sches Nach­sin­nen über das Ende des indus­tri­el­len Zeit­al­ters in Euro­pa und über den ver­gäng­li­chen Cha­rak­ter aller von Men­schen­hand gefer­tig­ten Din­ge«. Doch nicht nur die Din­ge zer­fal­len. Viel ent­schei­den­der ist, daß sich »die Bil­der der Men­schen, die Jed im Lauf sei­nes irdi­schen Lebens beglei­tet haben, ver­wit­tern, sich zer­set­zen, in Fet­zen auf­lö­sen und in den letz­ten Video­fil­men gleich­sam zum Sym­bol der all­ge­mei­nen Ver­nich­tung der Men­schen­gat­tung wer­den«. Der Mensch kann nur sich selbst ver­nich­ten, ver­fügt aber nicht über genü­gend Gewalt­po­ten­ti­al, auch sei­ne Umwelt zu zer­stö­ren. »Die Vege­ta­ti­on trägt den end­gül­ti­gen Sieg davon«, been­det Hou­el­le­becq sei­nen Roman und lächelt damit über die Anti-Atom­kraft- und Kli­ma­hys­te­ri­ker, die die Gefah­ren für die Umwelt höher ein­schät­zen als die für den Men­schen selbst.

So ganz kann Hou­el­le­becq am Schluß also dann doch nicht von sei­nem Lebens­the­ma las­sen, das er in Die Mög­lich­keit einer Insel aus­for­mu­liert hat. In die­sem Roman ima­gi­nier­te der vor sei­ner Schrift­stel­ler­kar­rie­re als Infor­ma­ti­ker täti­ge Hou­el­le­becq die Zukunft einer Gesell­schaft, die durch den Fort­schritt der Tech­nik den Tod über­wun­den hat und sexu­el­le Fort­pflan­zung nicht mehr kennt. Die Neo-Men­schen wer­den statt des­sen von Zeit zu Zeit über eine Art Update rege­ne­riert. Sie haben eine tur­bu­len­te Pha­se der Geschich­te (unter ande­rem Umwelt­ka­ta­stro­phen, aber auch eth­ni­sche Kon­flik­te und Reli­gi­ons­krie­ge) über­lebt, weil sie das Leben mit einem unfehl­ba­ren Sicher­heits­sys­tem, einem auto­no­men Kom­mu­ni­ka­ti­ons­netz sowie einem bio­tech­no­lo­gi­schen Fort­pflan­zungs­pro­gramm per­fek­tio­niert haben. Das Haupt­merk­mal der neu­en Men­schen­gat­tung ist das völ­li­ge Feh­len eines frei­en Wil­lens und somit auch der indi­vi­du­el­len Gefüh­le. Die Grün­dungs­vä­ter die­ser Gesell­schaft haben es sich zum Ziel gesetzt, das sozia­le Ver­hal­ten so zu regu­lie­ren, daß es genau­so vor­her­seh­bar ist »wie das Funk­tio­nie­ren eines Kühlschranks«.Noch deut­lich kras­ser, als es Frank Lis­son in sei­nem Homo Abso­lu­tus. Nach den Kul­tu­ren beschreibt, hat die­se »Bra­ve New World« (Aldous Hux­ley) die kul­tu­rel­le Krea­ti­vi­tät aus­ge­merzt, um die Men­schen unter Aus­schal­tung jeg­li­chen bösen Trie­bes funk­tio­nie­ren zu las­sen. Doch weil die Welt nie mathe­ma­tisch auf­geht, fin­den sich auch in die­ser extrem mate­ria­lis­ti­schen Gesell­schaft Indi­vi­du­en, bei denen die Rechen­for­meln ver­sa­gen. Der Prot­ago­nist Dani­el (und zwar das 25. Update des ursprüng­li­chen Dani­el 1 aus unse­rer Gegen­wart) ver­läßt sei­ne vor­pro­gram­mier­te Sphä­re, nach­dem er den Lebens­be­richt von Dani­el 1 gele­sen hat. Die­ser ließ ihn erken­nen, wie sehr Lie­be, Dra­ma­tik, Leid und selbst das Böse im Men­schen das Leben berei­chern und viel­fäl­ti­ger machen. Doch die Flucht aus der mono­to­nen Wirk­lich­keit der Zukunft kann nur miß­lin­gen, weil jeder Ver­such, der Wirk­lich­keit zu ent­kom­men, schei­tern muß. Dani­el trifft auf eine zurück­ge­blie­be­ne mensch­li­che Spe­zi­es, die in den vor­an­ge­gan­ge­nen Jahr­hun­der­ten gemäß der »öko­lo­gi­schen« Ideo­lo­gie gelebt hat und deren Anhän­ger sich so über die Gene­ra­tio­nen zu archai­schen Wil­den zurück­ent­wi­ckelt haben. Dani­el fin­det kei­nen Anschluß an die­se Wil­den, und der Geschlechts­akt mit einer von ihnen schei­tert aus hygie­ni­schen Gründen.

Hou­el­le­becq erteilt somit der »Zurück auf die Bäume«-Vision von abso­lu­ter Aut­ar­kie eine kla­re Absa­ge. Der Mensch kön­ne sich nicht abkap­seln, weil er lang­fris­tig nur als Gemein­schafts­we­sen über­le­bens­fä­hig sei. Er blei­be damit in der Moder­ne zwangs­läu­fig »uner­löst«, da es kei­nen Weg in eine bes­se­re Welt gebe. Im Gegen­teil: Alle Ideo­lo­gen, die antre­ten, um den Men­schen das Para­dies auf Erden zu besche­ren, rich­ten zuletzt das Leben nur noch unmensch­li­cher (im Sin­ne von: der Natur des Men­schen weni­ger gemäß) ein. Das hat Hou­el­le­becq zwan­zig Jah­re lang in sei­nen Erzäh­lun­gen Stück für Stück her­aus­ge­ar­bei­tet, um am Ende alle Tei­le zusam­men­zu­fü­gen. In Aus­wei­tung der Kampf­zo­ne (1994) rech­ne­te er mit den angeb­li­chen Errun­gen­schaf­ten der sexu­el­len Revo­lu­ti­on ab. Der in jeder Hin­sicht mit­tel­mä­ßi­ge Prot­ago­nist gelangt dar­in zu der Ein­sicht, daß die Eman­zi­pa­ti­on für ihn ein Ver­lust­ge­schäft bedeu­tet. »In einem völ­lig libe­ra­len Sexu­al­sys­tem haben eini­ge ein abwechs­lungs­rei­ches und erre­gen­des Sexu­al­le­ben; ande­re sind auf Mas­tur­ba­ti­on und Ein­sam­keit beschränkt.« Damit schaf­fe »der sexu­el­le Libe­ra­lis­mus die Aus­wei­tung der Kampf­zo­ne; ihre Aus­deh­nung auf alle Alters­klas­sen und Gesell­schafts­klas­sen«. Hou­el­le­becq wit­tert hin­ter die­ser für jeder­mann erzwun­ge­nen Aus­wei­tung eine Ver­leug­nung der Natur und einen Tota­li­ta­ris­mus der Kör­per­lich­keit. Wenn der Mensch sich stän­dig selbst prä­sen­tie­re, wie ihm dies bei­spiels­wei­se sozia­le Netz­wer­ke im Inter­net abver­lang­ten, so dro­he dadurch die Lie­be unwahr­schein­li­cher zu wer­den. Es ent­wick­le sich in per­sön­lichs­ten und intims­ten Fra­gen eine »Öko­no­mie der Auf­merk­sam­keit«, die auf­grund von geschür­ten Über­er­war­tun­gen zu infla­tio­nä­ren Ent­täu­schun­gen füh­ren müs­se. In Platt­form (2001) tüf­tel­te Hou­el­le­becq an die­ser Unwahr­schein­lich­keit wei­ter, indem er auf den numi­no­sen Cha­rak­ter der Lie­be abhebt. Die­se sei auch vom grau­sams­ten und sub­tils­ten Regime nicht aus­zu­mer­zen, weil sie urplötz­lich in Erschei­nung trete.

Das Krei­sen um der­lei The­men wur­de häu­fig als pure Por­no­gra­phie miß­ver­stan­den. Viel­leicht ist es aber nur eine wir­kungs­vol­le Arbeits­tech­nik Hou­el­le­becqs. »Er will sein Buch flach, grob und häß­lich machen, so daß es sich zum gro­ßen Roman ver­hält wie die schmut­zi­gen Graf­fi­ti auf einem Brü­cken­pfei­ler an der Auto­bahn zu den bedeu­ten­den Wer­ken der bil­den­den Kunst«, nähert sich der Jour­na­list Tho­mas Stein­feld die­ser Erzähl­stra­te­gie. Der »Skan­dal­schrift­stel­ler« zeich­net »schmut­zi­ge Graf­fi­ti«, weil die Zeit der erha­be­nen Kunst unum­stöß­lich abge­lau­fen ist. Der Kul­tur­ver­fall zwingt einen Künst­ler, der die Gegen­wart und Zukunft erfas­sen möch­te, zu Aus­drucks­for­men, die sein Wesen in aller Deut­lich­keit ver­kör­pern. Des­halb nutzt Hou­el­le­becq einer­seits den »por­no­gra­phi­schen« und ande­rer­seits den wis­sen­schaft­li­chen Stil. In dem spä­ter ver­film­ten Roman Ele­men­tar­teil­chen (1998) ist dies auf die Spit­ze getrie­ben. Die Rah­men­hand­lung ist eine Vor­le­sung, in deren Mit­tel­punkt die Brü­der Bru­no und Micha­el Djer­zinski ste­hen. Letz­te­rer ist ein Wis­sen­schaft­ler, der an der Über­win­dung von Tod und sexu­el­ler Fort­pflan­zung arbeitet.

Hou­el­le­becq kri­ti­siert in sei­nen Wer­ken das am Hori­zont dräu­en­de, bio­po­li­ti­sche Para­dig­ma einer »will­kom­me­nen Pas­si­vi­tät«, ein »Sich-Erre­gen-Las­sen, Sich-Hei­len-Las­sen, Sich-Erbau­en-Las­sen, Sich-Ver­si­chern-Las­sen« (Peter Sloterdijk).Die dabei ein­ge­setz­ten Anthro­po­tech­ni­ken von Staat, Wis­sen­schaft und Wirt­schaft füh­ren zu einer mas­si­ven Kon­trol­le des Kör­pers und Beein­flus­sung der Psy­che. Mit­te der sieb­zi­ger Jah­re ver­faß­te Hou­el­le­becq gemein­sam mit eini­gen Kom­mi­li­to­nen Das Hand­buch der spi­ri­tu­el­len Erzie­hung der Stu­den­ten. Dar­in steht als kur­zer Leit­satz: »Unpo­li­tisch sein – ist immer kon­ser­va­tiv.« Blickt man nun auf sein Lebens­werk, wird klar, daß es immer eine grund­le­gen­de Kon­ti­nui­tät gege­ben hat. Unpo­li­tisch und kon­ser­va­tiv sein, das bedeu­tet »leben las­sen« und den Ver­fall sowie Tod als etwas Unum­gäng­li­ches anzu­er­ken­nen. Wer dage­gen glaubt, die­se unum­stöß­li­chen Gren­zen ver­schie­ben zu kön­nen, der führt die »blin­den Gesell­schaf­ten / Bis an den Rand des Todes, / Der Kör­per ächzt und brüllt«. Was bleibt dann von der Gat­tung Mensch noch übrig? »Die letz­ten Teil­chen / Trei­ben in der Stil­le / Und die Lee­re for­mu­liert / In der Nacht ihr Vor­han­den­sein« (aus dem Gedicht »Der Brunnen«).

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

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