alle Beteiligten heucheln, daß sich die Balken biegen, und jeder ein Interesse nicht nur an seinen eigenen Heucheleien hat, sondern auch an denen des jeweiligen Kontrahenten, weil er mit der geheuchelten Empörung über dessen Heuchelei seine eigene befeuert und legitimiert.
Es beginnt mit einem Gedicht, das so schlecht ist, daß man seinem Verfasser seinetwegen nachträglich den Nobelpreis aberkennen müßte, und das bereits durch seinen Titel „Was gesagt werden muss“ einen jener „Tabubrüche“ ankündigt, die darin bestehen, mit heroischem Gestus offene Türen einzurennen.
Quallen zeigen Kante, Huren gefallen sich in ihrer Keuschheit, Wellenreiter gerieren sich als Felsen in der Brandung, ein Dichter redet dem Volk, dem er noch nie aus dem Herzen gesprochen hat, nach einem Munde, der seinerseits die Texte von medialen Souffleuren nachplappert, die just diesen von ihnen selbst soufflierten Text plötzlich nie gehört haben wollen. In den Redaktionsstuben stehen Haare zu Berge, werden Nasen gerümpft, Stirnen gerunzelt, Zähne gefletscht, Brauen hoch- und Mundwinkel heruntergezogen. Ab und zu ein Augenzwinkern. Man will „Gesicht zeigen“, und weil man ein solches nicht hat, behilft man sich mit einer Grimasse.
Dieselben Medien, die den jüdischen Staat Tag für Tag dafür anschießen, daß er nicht bereit ist, in Schönheit zu sterben, und die mit penetrantem vulgärpazifistischem Geraune zu Lasten Israels die politische Urteilsfähigkeit des Volkes systematisch untergraben haben, können sich plötzlich nicht genug über dessen Vulgarität ereifern. Dieselben Massenmedien, die mangels Kompetenz nicht einmal das Kinderspiel fertigbringen zu beweisen, daß Grass in der Sache Unrecht hat, diskutieren folgerichtig nicht, ob das, was er sagt, wahr oder unwahr sei, sondern, ob er es überhaupt sagen darf.
Ja, er darf! Freiheit besteht darin, dummes Zeug reden zu dürfen. Toleranz besteht darin, dummes Zeug mit Argumenten zu kontern, und eben nicht in der Denunziation des Andersdenkenden.
Zumindest dies sei Grass zugutegehalten: Mit seiner Polemik hat er eine der Inkonsistenzen des politkorrekten, d.h. verlogenen BRD-Diskurses offengelegt. Ein Staat wie Israel, der eine kampfstarke Armee unterhält und sie gegen Bedrohungen auch tatsächlich einsetzt (“Militarismus”!), nur solche Einwanderer willkommen heißt, die zum eigenen Volk gehören (“Rassismus!”), Angehörige eines Volkes, das regelmäßig Terroristen hervorbringt, mittels eines Zauns vom eigenen Staatsgebiet aussperrt (“Apartheid!”), sich weigert, Millionen von Moslems die Einwanderung zu erlauben (“Islamophobie!”), und allgemein nicht die geringste Neigung zum nationalen Selbstmord zeigt, muß westlichen Gutmenschen zwangsläufig ein Dorn im Auge sein. Zugleich aber haben dieselben Gutmenschen, und nicht nur sie, die Anbetung des Holocaustgötzen zu einer Staatsreligion erhoben, zu deren Ritualen das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels gehört.
Die aus diesem selbstgeschaffenen Dilemma notwendig resultierende Haltung lautet, das Existenzrecht Israels in stereotypen Phrasen zu bekräftigen, zugleich aber alles zu verurteilen, was Israel zur Sicherung eben dieses Existenzrechts praktisch unternimmt.
Die deutsche Schuldneurose, an deren Festigung Grass zeit seines Lebens nach Kräften mitgearbeitet hat, treibt ihre bizarren Blüten: Weil man unter dem Druck einer permanenten kollektiven Daueranklage gegen das eigene Volk nicht leben kann, sucht man sich durch eine Gegenanklage zu entlasten. Als Quelle dieser Daueranklage hat das kollektive Unbewußte die Juden ausgemacht. Weil es aber tabu ist, gegen „die Juden“ zu polemisieren, sucht man sich in Gestalt des Staates Israel einen Judenersatz, den man mit großer Geste anklagt, wo immer die Political Correctness einen halbwegs vorzeigbaren Vorwand dafür hergibt, stets unter der Versicherung, dies habe selbstverständlich nichts mit irgendwelcher Abneigung gegen die Juden zu tun.
Berufmäßige Kämpfer gegen Antisemitismus durchschauen wohl die darin liegende Heuchelei, begegnen ihr aber, ihrer Mentalität und Ideologie, wohl auch ihrem politischen Auftrag entsprechend, nicht mit Aufklärung, sondern mit einer Gegenheuchelei, indem sie als „Antisemitismus“, d.h. als irrationales und unbegründetes Ressentiment werten, was in Wahrheit sehr wohl nachvollziehbare Gründe hat – für die sie selbst obendrein mitverantwortlich zeichnen.
Nehmen wir den Zentralrat der Juden, dessen Vorsitzender Graumann erst jüngst gefordert hat, die deutsche Fußballnationalmannschaft solle während der bevorstehenden EM einen Abstecher nach Auschwitz machen; seiner Vorgängerin Knobloch fiel zum zwanzigsten(!) Jahrestag des Mauerfalls nichts Besseres ein, als die Sorge zu äußern, die Feierlichkeiten könnten das Gedenken an die Reichskristallnacht in den Hintergrund drängen. Was heißt das?
Das heißt, daß es aus der Sicht des Zentralrats kein Anlaß denkbar ist, der es legitimieren könnte, daß die Deutschen als Volk kollektiv Freude, Stolz oder Selbstachtung empfinden, sofern sie diese Empfindungen nicht sogleich durch einen Kniefall vor dem Gott der Ewigen Schuld wieder zunichte zu machen. Nicht einmal ein Fußballstadion soll der Deutsche ohne sein unsichtbares Büßergewand betreten dürfen. Tut er es trotzdem, so ist dies bereits einer jener „Anfänge“, denen man „wehren“ muß.
Was sagt uns einer, der solches fordert, wenn nicht dies: daß dem deutschen Volk die Freude an der eigenen Existenz ausgetrieben werden soll? Daß die Deutschen aufhören wollen sollen, als Volk zu existieren? Daß die schiere Existenz dieses Volkes ihm Angst macht? Daß sie ihm ein Dorn im Auge ist?
Entgleisungen dieser Art gehören seit Jahrzehnten zum politischen Dauerrepertoire dieses unglückseligen Zentralrats, dem die katastrophalen Folgen seiner Politik nicht einmal dann bewußt zu werden scheinen, wenn man sie ihm unter die Nase reibt:
Nicht aus der Feder rechter Pamphletisten, sondern aus der des „Antisemitismusforschers“ Wolfgang Benz wissen wir, daß es beim Zentralrat der Juden seit Jahren Protestbriefe gegen diese Art von Propaganda regnet. Benz stellt das entsprechende Kapitel seines Buches Was ist Antisemitismus? (Beck Verlag 2005) unter den – ausnahmsweise treffenden – Titel „Der Zorn der Patrioten“, freilich nur, um diesen offenkundig reaktiven Zorn als „Antisemitismus“ zu verteufeln und damit als unbegründet abzutun, obwohl die Gründe nicht nur auf der Hand liegen, sondern auch von ihm selbst genannt und zitiert werden.
Viele Deutsche, auch solche, die es sich kaum selbst eingestehen, geschweige denn den Zentralrat damit konfrontieren würden, empfinden das exzessive Schwingen der Schuld- und Bewältigungskeule als jüdische Kollektivaggression gegen das eigene Volk. Der maßlose „Antizionismus“ speziell der Linken ist nicht zuletzt die subtile Rache der Entwurzelten, denen beigebracht wurde, das eigene Volk zu hassen, verübt an den Stellvertretern derer, die sie dafür verantwortlich machen, daß es ihnen beigebracht wurde.
Ungerecht ist dies insofern, als der Zentralrat der Juden keineswegs die einzige keulenschwingende Institution ist; in Deutschland lebt eine ganze Industrie – die in keiner Weise „jüdisch“ genannt werden kann – davon, den Schuldkult zu zelebrieren; auf Ewiger Flamme läßt sich manches Süppchen kochen.
Keineswegs ungerecht ist es aber insofern, als dieser Zentralrat explizit mit dem Anspruch auftritt, im Namen und in Vertretung der hiesigen Juden zu handeln, mithin durch seine unaufhörliche deutschfeindliche Propaganda ein jüdisches Kollektivinteresse zu vertreten.
Es ist müßig, psychologisierend darüber zu spekulieren, ob es sich hier um bewußte Heuchelei handelt, oder ob der Politik, Feindseligkeit zu provozieren, um sie dann als „Antisemitismus“ zu mißdeuten und zu verdammen, ein unbewußter Rollenzwang zugrundeliegt, also der Wunsch, das eigene verinnerlichte Selbstbild als verfolgte Minderheit zu stabilisieren, das ohne „Antisemitismus“ revisionsbedürftig wäre.
In jedem Fall ist es ausgesprochen billig und bequem, die offensichtliche Dummheit und Doppelbödigkeit von Grass‘ „Israelkritik“ mit der Unterstellung von „Antisemitismus“ zu kontern und mit Grass‘ SS-Vergangenheit in Verbindung zu bringen – so als wüßte man nicht, daß eben diese Vergangenheit ihn zur Überkompensation zu Lasten seiner Nation gedrängt hat. Es ist billig und bequem, diese Kritik nicht als Ausdruck einer Kollektivneurose und insofern als Ergebnis eines jahrzehntelangen Psychokrieges zu deuten, an dem sich der Zentralrat ebenso beteiligt hat wie Grass selbst, wie die Massenmedien, wie die politischen Eliten und wie überhaupt so gut wie Jeder, der einen Platz im Medienzirkus ergattert hat und ihn behalten möchte.
Nein, ich inszeniere mich nicht als „Tabubrecher“, zumal es in einer aufgeklärten Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit und kein Verdienst sein sollte, sich über die Tabus von Götzenanbetern hinwegzusetzen. Aber wenn es angesichts eines verdrucksten und verlogenen, von Täuschung, Heuchelei und Psychofallen gespickten „Diskurses“ tatsächlich etwas gibt, was gesagt werden muß, dann dies.
Thomas Bargatzky
Treffende Analyse! Wer die Dinge auf den Kopf stellt und behauptet, Israel wolle den Iran vernichten und bedrohe den Weltfrieden, wer dem Staat Israel das Recht abspricht, sich in seiner Lage mit Waffen - auch mit deutschen U-Booten - zu verteidigen, will, daß dieser Staat untergeht. Und damit auch die Juden, denn der Staat Israel ist das einzige Land, in dem sie selbst für Ihre Sicherheit sorgen können. Punkt. Ob das 'Antisemitismus' ist oder nicht, ist dann nur noch eine akademische Frage. Tatsache ist, daß die Linke ihren Antisemitismus schon in den 1970er Jahren unter dem Palästinensertuch verbarg, nachdem Israel erfolgreich seine staatliche Existenz mit Waffen verteidigt hatte.