Denn es handelt sich um die Bezeichnung eines Computerfreaks, Strebers, Hochbegabten – vielleicht ein Akronym für Non Emotionally Responding Dude, etwa »emotional nicht ansprechbarer Typ« – in der Jugendkultur. Nerds sind also Außenseiter, diejenigen, die »nicht dazugehören«, Leute, die man meidet, weil sie nicht so sind wie man selbst. Mir begegnete er zum ersten Mal in einem Bericht über junge Frauen in den neuen schicken Vierteln von Berlin. Sie stammen aus bürgerlichen Elternhäusern, wachsen in betont liberaler Atmosphäre auf, besuchen ein humanistisches Gymnasium, sind selbstbewußt, fleißig, angepaßt; ihre Freizeit verbringen sie vor allem mit der Jagd auf Modetrends, geben erhebliche Summen für neue Kleidung bestimmter Marken aus, wissen, welche Blogs zum Thema angesagt sind. Manche schneidern selbst und richten sich im Design wie ihrem Musikgeschmack an den sechziger Jahren aus. Die Tendenz trennt sie von anderen Gruppen Jugendlicher, die andere Vorbilder haben, aber der Aufwand für die Individualisierung ihres Äußeren trennt sie vor allem von den Nerds. An dem Beispiel lassen sich drei wichtige Aspekte von Identität illustrieren: die Notwendigkeit der Abgrenzung, die Verankerung im Affektiven und die Vorstellung davon, eine Identität zu haben, wie man andere Charakteristika hat, bei gleichzeitigem Bewußtsein, daß der erreichte Zustand unbefriedigend ist, weshalb die Identität erst in Zukunft vollständig verwirklicht sein kann. Abgesehen von solchen, mehr oder weniger konsensfähigen, Feststellungen ist nur schwer über Identität zu sprechen. Es handelt sich um einen »weichen« Begriff, in vieler Hinsicht unklar, ohne brauchbaren Bezug auf die Bestimmung in der klassischen Philosophie oder Mathematik, selbst in der Psychologie von vielen umgangen oder gemieden. Manches spricht dafür, daß es sich um ein Ersatzwort für »Seele« oder »Bewußtsein« handelt, die man aber meidet, weil sie nicht das schwer Abgrenzbare, Fließende, Bewegliche von Identität zum Ausdruck bringen, und auch nicht den Konnex zwischen individueller und kollektiver Identität.
Die Verknüpfung zwischen dem »Ich bin!« und »Ich sollte sein!« und dem »Wir sind!« und »Wir sollten sein!« bestätigt jeder Blick in Geschichte, Gesellschaftswissenschaft, Anthropologie, Ethnologie. Erik H. Erikson, der in der Nachkriegszeit mit seinen Arbeiten eine erste Welle des Interesses an Identität auslöste, sprach über das Zusammenspiel von »Ich-Identität« und »Gruppenidentität«. Das erklärt sich in erster Linie daraus, daß für den Menschen, anders als für das Tier und anders als für Gott, Identität ein Problem ist: Unsere Sonderstellung unter den Lebewesen und das Fehlen einer funktionstüchtigen Instinktbasis zwingen uns dazu, eine Identität auszubilden, die uns aber eben nicht zur »ersten«, sondern bloß zur »zweiten Natur« werden kann. Das erklärt weiter eine gewisse Formschwäche menschlicher Identität. Das »Ich bin ich« des indischen Atman können wir im Ernst nicht wiederholen. Entfremdung gegenüber dem Selbst ist unsere Grunderfahrung. Wir sind nicht nur den Krisen ausgesetzt, die das Individuum im Verlauf von Kindheit und Adoleszenz, beim Eintritt in die Selbständigkeit und in das Alter, erleidet, sondern müssen auch fertig werden mit der Infragestellung jener Verbände, denen wir angehören, wie Familie, Stand, Kirche, Regiment, Bund, Firmenbelegschaft, Verein, Kommune, Region, Volk, Rasse.
Daß wir uns dem nicht entziehen können, hängt auch damit zusammen, daß die Gruppenidentität die Ich-Identität bedingt, daß sie – nach einer Formulierung Franz Oppenheimers – »vorsozial« ist, während das Selbstbewußtsein des Ichs »sozial« ist. Einen Hinweis auf diesen Zusammenhang findet man in der Rückhaltlosigkeit, mit der der einzelne in seinem Kollektiv aufgeht – eine Bereitschaft, die man an primitiven Gruppen gut beobachten kann, weil sie noch ungehemmt leisten, was man von gemeinsamer Identität erwarten kann: 1. Das Angebot eines stimmigen Weltbildes, das 2. den »Legitimitätsglauben« (Max Weber) der Mitglieder nährt und die »Zeitverwirrung« (Erik H. Erikson) des einzelnen mildert, 3. die Festlegung von Grenzen zwischen Oben und Unten, Innen und Außen, 4. die Organisation der entscheidenden zwischenmenschlichen Beziehungen, vor allem der sexuellen, 5. die Einrichtung ritueller Praktiken, die den Zusammenhalt stärken.
Daß trotz solcher Funktionstüchtigkeit soziale Einheiten problematisch werden, zerfallen oder in andere Gestalt übergehen, gehört zur menschlichen Grunderfahrung. Allerdings spricht vieles für die Wahrnehmung, daß der Prozeß der Modernisierung, vor allem in seiner Schlußphase, die wir als Globalisierung bezeichnen, kollektive Identitäten einem bis dato unbekannten Verschleiß aussetzt. Das Tempo der Veränderungen wirkt zerreibend auf das Selbst-Verständnis von Gruppen, das seine Widerstandskraft aus der langen Dauer bezieht, und die Konfrontation mit immer neuen, immer anderen Existenzformen stellt die Einheitlichkeit, die Homogenität in Frage, die die kollektive Identität durch Absetzung, durch Behauptung ihrer Alternativlosigkeit erreicht hat.
Wie man diesen Vorgang bewerten soll, ist durchaus umstritten. Ulrich Beck, einer der einflußreichsten Sozialwissenschaftler der Gegenwart, warnt vor Dramatisierung. Er illustriert seine Auffassung in einem Essay anhand der flüchtigen Bekanntschaft mit einem dänischen Geschäftsmann, der sich als »Weltbürger« versteht, Englisch wie seine zweite Muttersprache beherrscht, den kalkulierbaren Komfort von Kettenhotels zu schätzen weiß, die Möglichkeit genießt, in Frankreich indisch und in Indien italienisch zu essen, dem Handelsbarrieren ein Greuel sind, der mit »Europa« aber nichts anfangen kann, obwohl er die Segnungen der EU zu schätzen weiß, der sich zu Weihnachten durchaus als Christ fühlt, sozialdemokratisch wählt und gleichzeitig einer Bürgerinitiative angehört, um den weiter wachsenden Zustrom von Einwanderern zu verhindern.
Der Mann ist nicht allein, sondern Teil einer zahlenmäßig wachsenden Gruppe, die dem, was Beck das »Melange-Prinzip« nennt, folgt; also kein Problem darin sieht, daß die Menge der Gruppenidentitäten unaufhörlich wächst, daß sie sich überschneiden, und vielfach in der Schwebe bleibt, welcher man verpflichtet ist, welcher nicht.
Weder die Überschneidung von Identitäten noch die daraus resultierenden Konflikte sind etwas Neues. Jede Dissidenz und jede Sezession beruhte auf der Infragestellung einer Identität und dem – gelungenen oder gescheiterten – Versuch, eine Alternative ins Leben zu rufen. Die Zahl der Beispiele ist groß: Sokrates, der dem Nomos der Stadt den Gehorsam unter Berufung auf seine innere Stimme verweigerte, die ihm sagte, wer er eigentlich sein sollte; Siddharta, der die Pflichten des Sohns, des Ehemanns, des Fürsten ablehnte, um ein Leben als Bettelmönch und Weiser zu führen und schließlich eine Weltreligion zu stiften; der römische Beamte im Gallien der Völkerwanderungszeit, der seinen Söhnen gotische Vornamen gab, um sich den neuen Herren genehm zu machen; der Ketzer, der auch vor der Inquisition behauptete, daß man sich die kosmischen Prozesse nach dem Muster gerinnender Milch vorstellen müsse; der Beamte, der zuerst dem König, dann der Republik, dann dem Kaiser, dann wieder dem König Treue schwor; die Bauernjungen im Sizilien des späten 19. Jahrhunderts, die mit dem Ruf »Lauft! Das Vaterland ist hinter euch her!« flohen, wenn sie eingezogen werden sollten; oder jener Henri Curiel, aus einer jüdischen Bankiersfamilie in Ägypten stammend, Kommunist, im französischen Exil einer der Hauptorganisatoren und ‑finanziers des algerischen, dann des palästinensischen Untergrunds. Das alles sind Beispiele dafür, daß die Vorstellung von dem, was unsere Identität ausmacht, nicht ganz festgelegt werden kann und daß die Loyalitätsforderung des größeren Ganzen niemals absolute Bedeutung hat, sondern nur relative, also beziehungsweise. Wenn die Zahl der denkbaren Beziehungen wächst, wächst zwingend auch die Zahl denkbarer kollektiver Identitäten. Nur die Trägheit des historischen Prozesses und die Beschränktheit des menschlichen Aktionsradius haben in der Vergangenheit dafür gesorgt, daß Fälle wie die genannten Ausnahmefälle blieben. Das Leben der meisten war von »wohltuender Fraglosigkeit« (Arnold Gehlen) bestimmt. Sie waren verortet, gebunden, unterwarfen sich praktisch immer dem, was das Man verlangte. Die Infragestellung der Normalidentitäten in Europa seit dem Zeitalter der Glaubensspaltung hat der moderne Staat zu korrigieren gewußt, indem er sie einerseits stabilisierte, andererseits er-setzte, durch das, was man im genauen Sinn »nationale Identität« nennen kann. Zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde nationale Identität zur ausschlaggebenden Identität, sie mediatisierte alle anderen Gruppenidentitäten, weil mit ihrer Hilfe durchzusetzen war, daß die Loyalität zuerst dem Staat, nicht Vater und Mutter, Blutsverwandten, dem Pfarr- oder Brotherrn, nicht der Partei oder Klasse gehörte. Dieses Modell hat sich als erstaunlich stabil erwiesen, mindestens die inneren Konflikte minimieren zu können. Dabei wurde zwar auch auf Zwangsmittel gesetzt, doch in erster Linie mit den Mitteln der großen erzieherischen Institutionen – Schule und Armee – gearbeitet, um die Nation »in den Herzen« (Jean-Jacques Rousseau) zu verankern. Trotzdem spricht Beck von einer dahinterstehenden »Gefängnistheorie« der Identität, die sich im Grunde nur gewaltsam durchsetzen ließ. Diese dunkle Folie erlaubt es ihm, die Gegenwart in einem zwar nicht ganz ungetrübten, aber doch freundlichen Licht erscheinen zu lassen. Zwar sieht er die Gefahr massenhafter Desorientierung des neuen Nomadentums und die Überforderung durch die Begegnung mit immer anderem, verwirft außerdem die Idee eines Weltstaates als politischer Überorganisation, aber er vertraut doch darauf, daß die Menschen »sich ihr Identitätsmosaik, ihre Bindungen« selbst zusammenfügen können.
Nur am Rande spricht Beck von den Gefahren des »Fundamentalismus«, den er interessanterweise definiert als krampfartiges Festhalten an einer einmal gegebenen Identität. In diesem Sinn erscheint etwa der Islamismus als inadäquate weil vormoderne Fixierung auf eine Gruppenzugehörigkeit. Verknüpft ist die Zurückweisung weiter mit der Annahme, daß adäquat die Aufgabe solcher Fixierung wäre, zugunsten eines modernen Konzepts, das die Glaubensorientierung entweder ablehnt oder mit anderen Identitätsangeboten zu einem patchwork verknüpft.
Dabei werden von Beck zwei entscheidende Faktoren übersehen: zum einen, daß Fundamentalismus eine spezifisch moderne Erscheinung ist, zum anderen, daß die Existenz der »Sowohl-als-auch-Lebensformen«, von denen er spricht, nur in Phasen der Transformation denkbar sind. Es ist deshalb darauf hinzuweisen, daß alle Fundamentalismen sich – gekonnt – moderner Mittel bedienen und auch keineswegs ein Zurück anstreben, sondern ein eigenes Zukunftsmodell entwerfen, das allerdings die Pluralisierungstendenz der modernen Welt ausschließt. Wenigstens an diesem Punkt berühren sie sich mit den klassischen totalitären Bewegungen und Regimen, deren Erfolg eben weder aus Rückständigkeit oder ökonomischen Verwerfungen zu erklären ist, sondern aus der Reaktion auf eine Infragestellung kollektiver Identität. Die Tatsache, daß alle Faschismen in erster Linie Nationalismen waren, hat damit zu tun, daß die Beleidigung und Beschädigung nationaler Identität mit einer Radikalkur geheilt werden sollte. Auch die religiösen oder pseudoreligiösen Züge der Bewegungen und Regime weisen in diese Richtung und auf eine Parallele zum Hindu- oder zum islamischen Fundamentalismus hin, zu deren Zielen immer die vollständige Integration der einzelnen gehört, um die Identität nicht nur zu sichern, sondern ihr jene Ausstrahlungskraft zu verleihen, die als ursprünglich angenommen wird.
Man sollte das als Warnung verstehen, eine Warnung davor, daß das dauerhafte Nebeneinander sich widersprechender Gruppenidentitäten aus politischen Gründen schwer vorstellbar ist. Wenn man mit Carl Schmitt davon ausgeht, daß jede Entgegensetzung latent politisch ist und sich die Latenz enthüllt, sobald die Entgegensetzung einen gewissen Intensitäts-grad erreicht, dann stellt sich zwingend die Frage, was geschieht, sobald aus verschiedenen Gruppenidentitäten einander ausschließende Loyalitätsforderungen folgen. Was gemeint ist, kann man nicht nur an den failed states ablesen, wo die Zugehörigkeit zu Clan, Stamm oder Religionsgruppe die Verpflichtung auf eine wie immer vorgestellte Nation ausschließt. Zu denken ist auch an die Macht der großen Verbrechersyndikate Lateinamerikas, die etwa in Mexiko oder Brasilien wie Staaten im Staat agieren, mit eigenen Streitkräften, Spionagenetzen, Sozialeinrichtungen, Gesetzen; an der Bildung ethnischer Brückenköpfe in Großbritannien, wo die Migrantenquote im öffentlichen Dienst auch dazu führt, daß sich eine junge Muslima zweimal überlegt, ob sie der Polizei die drohende Zwangsverheiratung anzeigt; an den bisher nur wortreichen Appell des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan, der die in Deutschland lebenden Türken auffordert, wohl die Vorteile der deutschen Staatsbürgerschaft in Anspruch zu nehmen aber doch ihr Volkstum festzuhalten; oder an die Kommentkämpfe zwischen Jugendbanden in den Ballungszentren aller europäischen Länder und Nordamerikas, die ihre Identität aus einer Mischung von Völkischem und Fantasy-Elementen beziehen, wo man uralte Totems neben Ghettokleidung sieht und die Kampfgesänge als Rap ertönen. Daß die auf dem Feld der Identitätspolitik lauernden Gefahren kaum erkannt werden, hat mit dem postmodernen Verständnis von Identität zu tun. Von einer Theorie kann man nicht sprechen, es geht eher um ein Werbekonzept für »Verschiedenheit« – diversity. Hatte man lange Zeit in kollektiver Identität nur ein Relikt gesehen, meint man jetzt das Potential nutzen zu können, das in der immer neuen Erfindung des Gruppen-Selbst liegt. Vorausgesetzt wird allerdings, daß es unverbindlich bleibt, keine Machtansprüche durchgesetzt werden, jede Identität nicht nur leicht zu konstruieren, sondern auch leicht zu dekonstruieren ist, Teil einer Merkmalsmenge, mit der sich der Mensch von Fall zu Fall versieht und die angesichts der verschwimmenden Grenze zwischen Realität und Virtualität immer bunter und phantasievoller ausfallen kann. Die dahinter stehenden Annahmen über die Gesetzmäßigkeit sozialer Prozesse überbieten sogar den von Beck vertretenen Optimismus. Allerdings ist der Nachdruck, mit dem entsprechende Vorstellungen in der westlichen Welt propagiert werden, auch als Indiz zu werten, wie groß die Besorgnis ist, daß das Kalkül nicht aufgehen könnte. Es gibt eine Ahnung, daß kollektive Identität eine ernstere Sache ist, daß sie nicht einem Oberflächen‑, sondern einem elementaren, das heißt anthropologischen Bedürfnis entspricht.
Mit dieser Feststellung ist selbstverständlich nichts gesagt über die Erfolgsaussichten eines bestimmten Entwurfs kollektiver Identität. Dessen wichtigste Ursache ist ein Elitegefühl, letztlich die Vorstellung, zu einer Gemeinschaft von Auserwählten zu gehören. Dieses Empfinden kann sich mit objektiven Gegebenheiten (Abstammung, kulturelle Zugehörigkeit) verbinden, aber in historischer Zeit ging es vor allem um ein willkürliches Moment, eine gewisse überindividuelle Anschauung von großer Attraktivität. Die wirkt zuerst auf eine Minorität – und oft bleibt es dabei –, aber unter bestimmten Umständen strahlt sie auf die Masse aus, weckt diese aus ihrer üblichen Lethargie und durchdringt sie mit einem neuen Pathos, einer Vorstellung von dem, was sie ausmacht und wozu sie imstande sein könnte. Damit verbunden ist immer ein Prozeß der Vereinheitlichung, der sozialen und kulturellen Disziplinierung, der heute meistens abwertend beschrieben wird. Tatsächlich handelt es sich aber um jenes In-Form-Bringen, das überhaupt erst historische Existenz möglich macht. Ein Letztes: Der Anthropologe Michael Tomasello hat die Theorie entwickelt, daß der Erfolg unserer Spezies ganz wesentlich auf spezifischen Formen der Kooperation beruht, Kooperation innerhalb eines sozialen Verbandes, der sich hinreichend deutlich von anderen unterscheidet und Merkmale aufweist, die geeignet sind, um als Signale verstanden zu werden. Der Verschiedenheit der Sprachen, die sich parallel zur Differenzierung der Menschheit entwickelte, kommt in dem Zusammenhang große Bedeutung zu. Fest steht jedenfalls, daß die Signale uns sagen, ob wir dazugehören oder nicht. Dabei liegt auf der Hand, daß sich im Zuge der geschichtlichen Entwicklung nicht nur die Größe der Gruppen, sondern auch die Menge und der Charakter der Signale verändert hat. Die europäischen Nationen dürften so etwas wie einen Grenzwert des Erreichbaren bezeichnen, das heißt, sie stifteten Identitäten, die sich auf zahlenmäßig starke Kollektive bezogen, deren Einheit nur noch symbolisch zu erleben war. Trotzdem gelang es den Nationen, eine außergewöhnlich starke, bindende Kraft zu entfalten. Vieles spricht dafür, daß es damit vorbei ist. Das heißt aber nicht, daß die Frage kollektiver Identität erledigt wäre. Sie stellt sich vielmehr mit neuer Dringlichkeit, weil der Zustand des Sowohl-als-auch, an den wir uns fast gewöhnt hatten, keine Dauer hat. Wenn das Interregnum zu Ende geht, gilt es, neu oder wieder zu bestimmen, wer wir sind, wer wir sein sollten.