Kollektive Identität

pdf der Druckfassung aus Sezession 43/ August 2011

von Karlheinz Weißmann

Wissen Sie, was ein »Nerd« ist? Ich wußte es bis vor kurzem nicht, obwohl der Begriff schon seit Jahren umläuft. Die Ursache meiner Ahnungslosigkeit war, daß ich keiner community oder peer group angehöre, in der man von »Nerds« spricht.

Denn es han­delt sich um die Bezeich­nung eines Com­pu­ter­freaks, Stre­bers, Hoch­be­gab­ten – viel­leicht ein Akro­nym für Non Emo­tio­nal­ly Respon­ding Dude, etwa »emo­tio­nal nicht ansprech­ba­rer Typ« – in der Jugend­kul­tur. Nerds sind also Außen­sei­ter, die­je­ni­gen, die »nicht dazu­ge­hö­ren«, Leu­te, die man mei­det, weil sie nicht so sind wie man selbst. Mir begeg­ne­te er zum ers­ten Mal in einem Bericht über jun­ge Frau­en in den neu­en schi­cken Vier­teln von Ber­lin. Sie stam­men aus bür­ger­li­chen Eltern­häu­sern, wach­sen in betont libe­ra­ler Atmo­sphä­re auf, besu­chen ein huma­nis­ti­sches Gym­na­si­um, sind selbst­be­wußt, flei­ßig, ange­paßt; ihre Frei­zeit ver­brin­gen sie vor allem mit der Jagd auf Mode­trends, geben erheb­li­che Sum­men für neue Klei­dung bestimm­ter Mar­ken aus, wis­sen, wel­che Blogs zum The­ma ange­sagt sind. Man­che schnei­dern selbst und rich­ten sich im Design wie ihrem Musik­ge­schmack an den sech­zi­ger Jah­ren aus. Die Ten­denz trennt sie von ande­ren Grup­pen Jugend­li­cher, die ande­re Vor­bil­der haben, aber der Auf­wand für die Indi­vi­dua­li­sie­rung ihres Äuße­ren trennt sie vor allem von den Nerds. An dem Bei­spiel las­sen sich drei wich­ti­ge Aspek­te von Iden­ti­tät illus­trie­ren: die Not­wen­dig­keit der Abgren­zung, die Ver­an­ke­rung im Affek­ti­ven und die Vor­stel­lung davon, eine Iden­ti­tät zu haben, wie man ande­re Cha­rak­te­ris­ti­ka hat, bei gleich­zei­ti­gem Bewußt­sein, daß der erreich­te Zustand unbe­frie­di­gend ist, wes­halb die Iden­ti­tät erst in Zukunft voll­stän­dig ver­wirk­licht sein kann. Abge­se­hen von sol­chen, mehr oder weni­ger kon­sens­fä­hi­gen, Fest­stel­lun­gen ist nur schwer über Iden­ti­tät zu spre­chen. Es han­delt sich um einen »wei­chen« Begriff, in vie­ler Hin­sicht unklar, ohne brauch­ba­ren Bezug auf die Bestim­mung in der klas­si­schen Phi­lo­so­phie oder Mathe­ma­tik, selbst in der Psy­cho­lo­gie von vie­len umgan­gen oder gemie­den. Man­ches spricht dafür, daß es sich um ein Ersatz­wort für »See­le« oder »Bewußt­sein« han­delt, die man aber mei­det, weil sie nicht das schwer Abgrenz­ba­re, Flie­ßen­de, Beweg­li­che von Iden­ti­tät zum Aus­druck brin­gen, und auch nicht den Kon­nex zwi­schen indi­vi­du­el­ler und kol­lek­ti­ver Identität.

Die Ver­knüp­fung zwi­schen dem »Ich bin!« und »Ich soll­te sein!« und dem »Wir sind!« und »Wir soll­ten sein!« bestä­tigt jeder Blick in Geschich­te, Gesell­schafts­wis­sen­schaft, Anthro­po­lo­gie, Eth­no­lo­gie. Erik H. Erik­son, der in der Nach­kriegs­zeit mit sei­nen Arbei­ten eine ers­te Wel­le des Inter­es­ses an Iden­ti­tät aus­lös­te, sprach über das Zusam­men­spiel von »Ich-Iden­ti­tät« und »Grup­pen­iden­ti­tät«. Das erklärt sich in ers­ter Linie dar­aus, daß für den Men­schen, anders als für das Tier und anders als für Gott, Iden­ti­tät ein Pro­blem ist: Unse­re Son­der­stel­lung unter den Lebe­we­sen und das Feh­len einer funk­ti­ons­tüch­ti­gen Instinkt­ba­sis zwin­gen uns dazu, eine Iden­ti­tät aus­zu­bil­den, die uns aber eben nicht zur »ers­ten«, son­dern bloß zur »zwei­ten Natur« wer­den kann. Das erklärt wei­ter eine gewis­se Form­schwä­che mensch­li­cher Iden­ti­tät. Das »Ich bin ich« des indi­schen Atman kön­nen wir im Ernst nicht wie­der­ho­len. Ent­frem­dung gegen­über dem Selbst ist unse­re Grund­er­fah­rung. Wir sind nicht nur den Kri­sen aus­ge­setzt, die das Indi­vi­du­um im Ver­lauf von Kind­heit und Ado­les­zenz, beim Ein­tritt in die Selb­stän­dig­keit und in das Alter, erlei­det, son­dern müs­sen auch fer­tig wer­den mit der Infra­ge­stel­lung jener Ver­bän­de, denen wir ange­hö­ren, wie Fami­lie, Stand, Kir­che, Regi­ment, Bund, Fir­men­be­leg­schaft, Ver­ein, Kom­mu­ne, Regi­on, Volk, Rasse.

Daß wir uns dem nicht ent­zie­hen kön­nen, hängt auch damit zusam­men, daß die Grup­pen­iden­ti­tät die Ich-Iden­ti­tät bedingt, daß sie – nach einer For­mu­lie­rung Franz Oppen­hei­mers – »vor­so­zi­al« ist, wäh­rend das Selbst­be­wußt­sein des Ichs »sozi­al« ist. Einen Hin­weis auf die­sen Zusam­men­hang fin­det man in der Rück­halt­lo­sig­keit, mit der der ein­zel­ne in sei­nem Kol­lek­tiv auf­geht – eine Bereit­schaft, die man an pri­mi­ti­ven Grup­pen gut beob­ach­ten kann, weil sie noch unge­hemmt leis­ten, was man von gemein­sa­mer Iden­ti­tät erwar­ten kann: 1. Das Ange­bot eines stim­mi­gen Welt­bil­des, das 2. den »Legi­ti­mi­täts­glau­ben« (Max Weber) der Mit­glie­der nährt und die »Zeit­ver­wir­rung« (Erik H. Erik­son) des ein­zel­nen mil­dert, 3. die Fest­le­gung von Gren­zen zwi­schen Oben und Unten, Innen und Außen, 4. die Orga­ni­sa­ti­on der ent­schei­den­den zwi­schen­mensch­li­chen Bezie­hun­gen, vor allem der sexu­el­len, 5. die Ein­rich­tung ritu­el­ler Prak­ti­ken, die den Zusam­men­halt stärken.

Daß trotz sol­cher Funk­ti­ons­tüch­tig­keit sozia­le Ein­hei­ten pro­ble­ma­tisch wer­den, zer­fal­len oder in ande­re Gestalt über­ge­hen, gehört zur mensch­li­chen Grund­er­fah­rung. Aller­dings spricht vie­les für die Wahr­neh­mung, daß der Pro­zeß der Moder­ni­sie­rung, vor allem in sei­ner Schluß­pha­se, die wir als Glo­ba­li­sie­rung bezeich­nen, kol­lek­ti­ve Iden­ti­tä­ten einem bis dato unbe­kann­ten Ver­schleiß aus­setzt. Das Tem­po der Ver­än­de­run­gen wirkt zer­rei­bend auf das Selbst-Ver­ständ­nis von Grup­pen, das sei­ne Wider­stands­kraft aus der lan­gen Dau­er bezieht, und die Kon­fron­ta­ti­on mit immer neu­en, immer ande­ren Exis­tenz­for­men stellt die Ein­heit­lich­keit, die Homo­ge­ni­tät in Fra­ge, die die kol­lek­ti­ve Iden­ti­tät durch Abset­zung, durch Behaup­tung ihrer Alter­na­tiv­lo­sig­keit erreicht hat.

Wie man die­sen Vor­gang bewer­ten soll, ist durch­aus umstrit­ten. Ulrich Beck, einer der ein­fluß­reichs­ten Sozi­al­wis­sen­schaft­ler der Gegen­wart, warnt vor Dra­ma­ti­sie­rung. Er illus­triert sei­ne Auf­fas­sung in einem Essay anhand der flüch­ti­gen Bekannt­schaft mit einem däni­schen Geschäfts­mann, der sich als »Welt­bür­ger« ver­steht, Eng­lisch wie sei­ne zwei­te Mut­ter­spra­che beherrscht, den kal­ku­lier­ba­ren Kom­fort von Ket­ten­ho­tels zu schät­zen weiß, die Mög­lich­keit genießt, in Frank­reich indisch und in Indi­en ita­lie­nisch zu essen, dem Han­dels­bar­rie­ren ein Greu­el sind, der mit »Euro­pa« aber nichts anfan­gen kann, obwohl er die Seg­nun­gen der EU zu schät­zen weiß, der sich zu Weih­nach­ten durch­aus als Christ fühlt, sozi­al­de­mo­kra­tisch wählt und gleich­zei­tig einer Bür­ger­initia­ti­ve ange­hört, um den wei­ter wach­sen­den Zustrom von Ein­wan­de­rern zu verhindern.

Der Mann ist nicht allein, son­dern Teil einer zah­len­mä­ßig wach­sen­den Grup­pe, die dem, was Beck das »Melan­ge-Prin­zip« nennt, folgt; also kein Pro­blem dar­in sieht, daß die Men­ge der Grup­pen­iden­ti­tä­ten unauf­hör­lich wächst, daß sie sich über­schnei­den, und viel­fach in der Schwe­be bleibt, wel­cher man ver­pflich­tet ist, wel­cher nicht.

Weder die Über­schnei­dung von Iden­ti­tä­ten noch die dar­aus resul­tie­ren­den Kon­flik­te sind etwas Neu­es. Jede Dis­si­denz und jede Sezes­si­on beruh­te auf der Infra­ge­stel­lung einer Iden­ti­tät und dem – gelun­ge­nen oder geschei­ter­ten – Ver­such, eine Alter­na­ti­ve ins Leben zu rufen. Die Zahl der Bei­spie­le ist groß: Sokra­tes, der dem Nomos der Stadt den Gehor­sam unter Beru­fung auf sei­ne inne­re Stim­me ver­wei­ger­te, die ihm sag­te, wer er eigent­lich sein soll­te; Sid­dha­r­ta, der die Pflich­ten des Sohns, des Ehe­manns, des Fürs­ten ablehn­te, um ein Leben als Bet­tel­mönch und Wei­ser zu füh­ren und schließ­lich eine Welt­re­li­gi­on zu stif­ten; der römi­sche Beam­te im Gal­li­en der Völ­ker­wan­de­rungs­zeit, der sei­nen Söh­nen goti­sche Vor­na­men gab, um sich den neu­en Her­ren genehm zu machen; der Ket­zer, der auch vor der Inqui­si­ti­on behaup­te­te, daß man sich die kos­mi­schen Pro­zes­se nach dem Mus­ter gerin­nen­der Milch vor­stel­len müs­se; der Beam­te, der zuerst dem König, dann der Repu­blik, dann dem Kai­ser, dann wie­der dem König Treue schwor; die Bau­ern­jun­gen im Sizi­li­en des spä­ten 19. Jahr­hun­derts, die mit dem Ruf »Lauft! Das Vater­land ist hin­ter euch her!« flo­hen, wenn sie ein­ge­zo­gen wer­den soll­ten; oder jener Hen­ri Curi­el, aus einer jüdi­schen Ban­kiers­fa­mi­lie in Ägyp­ten stam­mend, Kom­mu­nist, im fran­zö­si­schen Exil einer der Haupt­or­ga­ni­sa­to­ren und ‑finan­ziers des alge­ri­schen, dann des paläs­ti­nen­si­schen Unter­grunds. Das alles sind Bei­spie­le dafür, daß die Vor­stel­lung von dem, was unse­re Iden­ti­tät aus­macht, nicht ganz fest­ge­legt wer­den kann und daß die Loya­li­täts­for­de­rung des grö­ße­ren Gan­zen nie­mals abso­lu­te Bedeu­tung hat, son­dern nur rela­ti­ve, also bezie­hungs­wei­se. Wenn die Zahl der denk­ba­ren Bezie­hun­gen wächst, wächst zwin­gend auch die Zahl denk­ba­rer kol­lek­ti­ver Iden­ti­tä­ten. Nur die Träg­heit des his­to­ri­schen Pro­zes­ses und die Beschränkt­heit des mensch­li­chen Akti­ons­ra­di­us haben in der Ver­gan­gen­heit dafür gesorgt, daß Fäl­le wie die genann­ten Aus­nah­me­fäl­le blie­ben. Das Leben der meis­ten war von »wohl­tu­en­der Frag­lo­sig­keit« (Arnold Geh­len) bestimmt. Sie waren ver­or­tet, gebun­den, unter­war­fen sich prak­tisch immer dem, was das Man ver­lang­te. Die Infra­ge­stel­lung der Nor­ma­li­den­ti­tä­ten in Euro­pa seit dem Zeit­al­ter der Glau­bens­spal­tung hat der moder­ne Staat zu kor­ri­gie­ren gewußt, indem er sie einer­seits sta­bi­li­sier­te, ande­rer­seits er-setz­te, durch das, was man im genau­en Sinn »natio­na­le Iden­ti­tät« nen­nen kann. Zwi­schen der Mit­te des 18. und der Mit­te des 20. Jahr­hun­derts wur­de natio­na­le Iden­ti­tät zur aus­schlag­ge­ben­den Iden­ti­tät, sie media­ti­sier­te alle ande­ren Grup­pen­iden­ti­tä­ten, weil mit ihrer Hil­fe durch­zu­set­zen war, daß die Loya­li­tät zuerst dem Staat, nicht Vater und Mut­ter, Bluts­ver­wand­ten, dem Pfarr- oder Brot­herrn, nicht der Par­tei oder Klas­se gehör­te. Die­ses Modell hat sich als erstaun­lich sta­bil erwie­sen, min­des­tens die inne­ren Kon­flik­te mini­mie­ren zu kön­nen. Dabei wur­de zwar auch auf Zwangs­mit­tel gesetzt, doch in ers­ter Linie mit den Mit­teln der gro­ßen erzie­he­ri­schen Insti­tu­tio­nen – Schu­le und Armee – gear­bei­tet, um die Nati­on »in den Her­zen« (Jean-Jac­ques Rous­se­au) zu ver­an­kern. Trotz­dem spricht Beck von einer dahin­ter­ste­hen­den »Gefäng­nis­theo­rie« der Iden­ti­tät, die sich im Grun­de nur gewalt­sam durch­set­zen ließ. Die­se dunk­le Folie erlaubt es ihm, die Gegen­wart in einem zwar nicht ganz unge­trüb­ten, aber doch freund­li­chen Licht erschei­nen zu las­sen. Zwar sieht er die Gefahr mas­sen­haf­ter Des­ori­en­tie­rung des neu­en Noma­den­tums und die Über­for­de­rung durch die Begeg­nung mit immer ande­rem, ver­wirft außer­dem die Idee eines Welt­staa­tes als poli­ti­scher Über­or­ga­ni­sa­ti­on, aber er ver­traut doch dar­auf, daß die Men­schen »sich ihr Iden­ti­täts­mo­sa­ik, ihre Bin­dun­gen« selbst zusam­men­fü­gen können.

Nur am Ran­de spricht Beck von den Gefah­ren des »Fun­da­men­ta­lis­mus«, den er inter­es­san­ter­wei­se defi­niert als krampf­ar­ti­ges Fest­hal­ten an einer ein­mal gege­be­nen Iden­ti­tät. In die­sem Sinn erscheint etwa der Isla­mis­mus als inad­äqua­te weil vor­mo­der­ne Fixie­rung auf eine Grup­pen­zu­ge­hö­rig­keit. Ver­knüpft ist die Zurück­wei­sung wei­ter mit der Annah­me, daß adäquat die Auf­ga­be sol­cher Fixie­rung wäre, zuguns­ten eines moder­nen Kon­zepts, das die Glau­bens­ori­en­tie­rung ent­we­der ablehnt oder mit ande­ren Iden­ti­täts­an­ge­bo­ten zu einem patch­work verknüpft.

Dabei wer­den von Beck zwei ent­schei­den­de Fak­to­ren über­se­hen: zum einen, daß Fun­da­men­ta­lis­mus eine spe­zi­fisch moder­ne Erschei­nung ist, zum ande­ren, daß die Exis­tenz der »Sowohl-als-auch-Lebens­for­men«, von denen er spricht, nur in Pha­sen der Trans­for­ma­ti­on denk­bar sind. Es ist des­halb dar­auf hin­zu­wei­sen, daß alle Fun­da­men­ta­lis­men sich – gekonnt – moder­ner Mit­tel bedie­nen und auch kei­nes­wegs ein Zurück anstre­ben, son­dern ein eige­nes Zukunfts­mo­dell ent­wer­fen, das aller­dings die Plu­ra­li­sie­rungs­ten­denz der moder­nen Welt aus­schließt. Wenigs­tens an die­sem Punkt berüh­ren sie sich mit den klas­si­schen tota­li­tä­ren Bewe­gun­gen und Regi­men, deren Erfolg eben weder aus Rück­stän­dig­keit oder öko­no­mi­schen Ver­wer­fun­gen zu erklä­ren ist, son­dern aus der Reak­ti­on auf eine Infra­ge­stel­lung kol­lek­ti­ver Iden­ti­tät. Die Tat­sa­che, daß alle Faschis­men in ers­ter Linie Natio­na­lis­men waren, hat damit zu tun, daß die Belei­di­gung und Beschä­di­gung natio­na­ler Iden­ti­tät mit einer Radi­kal­kur geheilt wer­den soll­te. Auch die reli­giö­sen oder pseu­do­re­li­giö­sen Züge der Bewe­gun­gen und Regime wei­sen in die­se Rich­tung und auf eine Par­al­le­le zum Hin­du- oder zum isla­mi­schen Fun­da­men­ta­lis­mus hin, zu deren Zie­len immer die voll­stän­di­ge Inte­gra­ti­on der ein­zel­nen gehört, um die Iden­ti­tät nicht nur zu sichern, son­dern ihr jene Aus­strah­lungs­kraft zu ver­lei­hen, die als ursprüng­lich ange­nom­men wird.

Man soll­te das als War­nung ver­ste­hen, eine War­nung davor, daß das dau­er­haf­te Neben­ein­an­der sich wider­spre­chen­der Grup­pen­iden­ti­tä­ten aus poli­ti­schen Grün­den schwer vor­stell­bar ist. Wenn man mit Carl Schmitt davon aus­geht, daß jede Ent­ge­gen­set­zung latent poli­tisch ist und sich die Latenz ent­hüllt, sobald die Ent­ge­gen­set­zung einen gewis­sen Inten­si­täts-grad erreicht, dann stellt sich zwin­gend die Fra­ge, was geschieht, sobald aus ver­schie­de­nen Grup­pen­iden­ti­tä­ten ein­an­der aus­schlie­ßen­de Loya­li­täts­for­de­run­gen fol­gen. Was gemeint ist, kann man nicht nur an den fai­led sta­tes able­sen, wo die Zuge­hö­rig­keit zu Clan, Stamm oder Reli­gi­ons­grup­pe die Ver­pflich­tung auf eine wie immer vor­ge­stell­te Nati­on aus­schließt. Zu den­ken ist auch an die Macht der gro­ßen Ver­bre­cher­syn­di­ka­te Latein­ame­ri­kas, die etwa in Mexi­ko oder Bra­si­li­en wie Staa­ten im Staat agie­ren, mit eige­nen Streit­kräf­ten, Spio­na­ge­net­zen, Sozi­al­ein­rich­tun­gen, Geset­zen; an der Bil­dung eth­ni­scher Brü­cken­köp­fe in Groß­bri­tan­ni­en, wo die Migran­ten­quo­te im öffent­li­chen Dienst auch dazu führt, daß sich eine jun­ge Mus­li­ma zwei­mal über­legt, ob sie der Poli­zei die dro­hen­de Zwangs­ver­hei­ra­tung anzeigt; an den bis­her nur wort­rei­chen Appell des tür­ki­schen Minis­ter­prä­si­den­ten Erdo­gan, der die in Deutsch­land leben­den Tür­ken auf­for­dert, wohl die Vor­tei­le der deut­schen Staats­bür­ger­schaft in Anspruch zu neh­men aber doch ihr Volks­tum fest­zu­hal­ten; oder an die Kom­ment­kämp­fe zwi­schen Jugend­ban­den in den Bal­lungs­zen­tren aller euro­päi­schen Län­der und Nord­ame­ri­kas, die ihre Iden­ti­tät aus einer Mischung von Völ­ki­schem und Fan­ta­sy-Ele­men­ten bezie­hen, wo man uralte Totems neben Ghet­to­klei­dung sieht und die Kampf­ge­sän­ge als Rap ertö­nen. Daß die auf dem Feld der Iden­ti­täts­po­li­tik lau­ern­den Gefah­ren kaum erkannt wer­den, hat mit dem post­mo­der­nen Ver­ständ­nis von Iden­ti­tät zu tun. Von einer Theo­rie kann man nicht spre­chen, es geht eher um ein Wer­be­kon­zept für »Ver­schie­den­heit« – diver­si­ty. Hat­te man lan­ge Zeit in kol­lek­ti­ver Iden­ti­tät nur ein Relikt gese­hen, meint man jetzt das Poten­ti­al nut­zen zu kön­nen, das in der immer neu­en Erfin­dung des Grup­pen-Selbst liegt. Vor­aus­ge­setzt wird aller­dings, daß es unver­bind­lich bleibt, kei­ne Macht­an­sprü­che durch­ge­setzt wer­den, jede Iden­ti­tät nicht nur leicht zu kon­stru­ie­ren, son­dern auch leicht zu dekon­stru­ie­ren ist, Teil einer Merk­mals­men­ge, mit der sich der Mensch von Fall zu Fall ver­sieht und die ange­sichts der ver­schwim­men­den Gren­ze zwi­schen Rea­li­tät und Vir­tua­li­tät immer bun­ter und phan­ta­sie­vol­ler aus­fal­len kann. Die dahin­ter ste­hen­den Annah­men über die Gesetz­mä­ßig­keit sozia­ler Pro­zes­se über­bie­ten sogar den von Beck ver­tre­te­nen Opti­mis­mus. Aller­dings ist der Nach­druck, mit dem ent­spre­chen­de Vor­stel­lun­gen in der west­li­chen Welt pro­pa­giert wer­den, auch als Indiz zu wer­ten, wie groß die Besorg­nis ist, daß das Kal­kül nicht auf­ge­hen könn­te. Es gibt eine Ahnung, daß kol­lek­ti­ve Iden­ti­tät eine erns­te­re Sache ist, daß sie nicht einem Oberflächen‑, son­dern einem ele­men­ta­ren, das heißt anthro­po­lo­gi­schen Bedürf­nis entspricht.

Mit die­ser Fest­stel­lung ist selbst­ver­ständ­lich nichts gesagt über die Erfolgs­aus­sich­ten eines bestimm­ten Ent­wurfs kol­lek­ti­ver Iden­ti­tät. Des­sen wich­tigs­te Ursa­che ist ein Eli­te­ge­fühl, letzt­lich die Vor­stel­lung, zu einer Gemein­schaft von Aus­er­wähl­ten zu gehö­ren. Die­ses Emp­fin­den kann sich mit objek­ti­ven Gege­ben­hei­ten (Abstam­mung, kul­tu­rel­le Zuge­hö­rig­keit) ver­bin­den, aber in his­to­ri­scher Zeit ging es vor allem um ein will­kür­li­ches Moment, eine gewis­se über­in­di­vi­du­el­le Anschau­ung von gro­ßer Attrak­ti­vi­tät. Die wirkt zuerst auf eine Mino­ri­tät – und oft bleibt es dabei –, aber unter bestimm­ten Umstän­den strahlt sie auf die Mas­se aus, weckt die­se aus ihrer übli­chen Lethar­gie und durch­dringt sie mit einem neu­en Pathos, einer Vor­stel­lung von dem, was sie aus­macht und wozu sie imstan­de sein könn­te. Damit ver­bun­den ist immer ein Pro­zeß der Ver­ein­heit­li­chung, der sozia­len und kul­tu­rel­len Dis­zi­pli­nie­rung, der heu­te meis­tens abwer­tend beschrie­ben wird. Tat­säch­lich han­delt es sich aber um jenes In-Form-Brin­gen, das über­haupt erst his­to­ri­sche Exis­tenz mög­lich macht. Ein Letz­tes: Der Anthro­po­lo­ge Micha­el Toma­sel­lo hat die Theo­rie ent­wi­ckelt, daß der Erfolg unse­rer Spe­zi­es ganz wesent­lich auf spe­zi­fi­schen For­men der Koope­ra­ti­on beruht, Koope­ra­ti­on inner­halb eines sozia­len Ver­ban­des, der sich hin­rei­chend deut­lich von ande­ren unter­schei­det und Merk­ma­le auf­weist, die geeig­net sind, um als Signa­le ver­stan­den zu wer­den. Der Ver­schie­den­heit der Spra­chen, die sich par­al­lel zur Dif­fe­ren­zie­rung der Mensch­heit ent­wi­ckel­te, kommt in dem Zusam­men­hang gro­ße Bedeu­tung zu. Fest steht jeden­falls, daß die Signa­le uns sagen, ob wir dazu­ge­hö­ren oder nicht. Dabei liegt auf der Hand, daß sich im Zuge der geschicht­li­chen Ent­wick­lung nicht nur die Grö­ße der Grup­pen, son­dern auch die Men­ge und der Cha­rak­ter der Signa­le ver­än­dert hat. Die euro­päi­schen Natio­nen dürf­ten so etwas wie einen Grenz­wert des Erreich­ba­ren bezeich­nen, das heißt, sie stif­te­ten Iden­ti­tä­ten, die sich auf zah­len­mä­ßig star­ke Kol­lek­ti­ve bezo­gen, deren Ein­heit nur noch sym­bo­lisch zu erle­ben war. Trotz­dem gelang es den Natio­nen, eine außer­ge­wöhn­lich star­ke, bin­den­de Kraft zu ent­fal­ten. Vie­les spricht dafür, daß es damit vor­bei ist. Das heißt aber nicht, daß die Fra­ge kol­lek­ti­ver Iden­ti­tät erle­digt wäre. Sie stellt sich viel­mehr mit neu­er Dring­lich­keit, weil der Zustand des Sowohl-als-auch, an den wir uns fast gewöhnt hat­ten, kei­ne Dau­er hat. Wenn das Inter­re­gnum zu Ende geht, gilt es, neu oder wie­der zu bestim­men, wer wir sind, wer wir sein sollten.

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