11. September – ein doppeltes Tagebuch

pdf der Druckdassung aus Sezession 43/ August 2011

von Volker Mohr

Tagebuch 2001

Schaffhausen, 11. September 2001

Etwa um siebzehn Uhr brachte uns Christine die Meldung von den Terroranschlägen auf die amerikanischen »Nervenzentren«. Im Radio hörten wir, daß zwei entführte Passagierflugzeuge, gesteuert von Selbstmordkommandos, in das New Yorker World Trade Center hineinflogen. Dieses soll kurz darauf in sich zusammengestürzt sein. Es soll Tausende von Toten gegeben haben. Fast gleichzeitig stürzte eine ebenfalls entführte Maschine auf das Pentagon. Hier soll es etwa achthundert Tote gegeben haben. Ein viertes Passagierflugzeug stürzte, wahrscheinlich auf dem Weg zum Weißen Haus, ab. Am Abend und die Nacht hindurch konnten wir die aktuellen Neuigkeiten im Fernsehen mitverfolgen.

Schaff­hau­sen, 12. Sep­tem­ber 2001

Poli­ti­ker und Jour­na­lis­ten spra­chen ange­sichts der Anschlä­ge von einem unge­heu­ren Akt der Unmensch­lich­keit. Das läßt auf­hor­chen, zumal die Unmensch­lich­keit schon vor­ge­ge­ben war. Sie wohnt bereits in den Gebäu­den, die über die räum­li­chen Maße hin­aus­grei­fen, und eben­so in den Trans­port­mit­teln, die die zeit­li­chen Maße des Men­schen über­schrei­ten. Zudem darf hier nicht ein­fach von einem Anschlag auf die Mobi­li­tät gespro­chen wer­den: Viel­mehr wur­den die Zen­tren der Mobi­li­tät durch die Sym­bo­le der­sel­ben getrof­fen – die Schlan­ge beißt sich in den Schwanz.

Prak­tisch alle west­li­chen Län­der erhöh­ten nach dem Vor­fall ihre Alarm­be­reit­schaft. Selbst in Schaff­hau­sen ver­tag­te der Gro­ße Rat anschei­nend sei­ne Sitzung.

Von Sei­ten des Bun­des­ra­tes wur­de von apo­ka­lyp­ti­schen Ereig­nis­sen gespro­chen. Ein wah­res Wort, wenn­gleich dabei viel­mehr an einen Unter­gang gedacht wur­de und weni­ger an eine Ent­hül­lung, was der Begriff im Grun­de meint. Der Anschlag hat­te jedoch, nebst sei­ner Schreck­lich­keit, tat­säch­lich ent­hül­len­den Cha­rak­ter: Der gren­zen­lo­se Libe­ra­lis­mus neigt eben­so wie der Tota­li­ta­ris­mus zum Gigan­tis­mus, wobei alles Gigan­ti­sche unmensch­lich ist. Und so sind die gigan­ti­schen Gebäu­de in ers­ter Linie rie­si­ge Gefäng­nis­se, auch wenn sie als Sym­bo­le der Frei­heit ange­se­hen wer­den. Wie sehr der ein­zel­ne dar­in gefan­gen ist, wur­de dadurch deut­lich, daß es für ihn kei­nen Aus­weg mehr gab.

Schaff­hau­sen, 13. Sep­tem­ber 2001

Den gan­zen Tag und die gan­ze Nacht über Bil­der von New York. Ame­ri­ka spricht von einem Anschlag der Bar­ba­ren gegen die zivi­li­sier­te Welt und erklärt die­sen den Krieg. Die Wort­wahl ist ver­ständ­lich, zumal hier Emo­tio­nen mit­spie­len. Trotz­dem waren gera­de in die­sem Fall kei­ne Bar­ba­ren – also Aus­län­der, die mit der ein­hei­mi­schen Spra­che und Gesit­tung nicht ver­traut sind und des­halb als roh und unge­bil­det gel­ten – am Werk. Damit der Anschlag gelin­gen konn­te, muß­ten die Ter­ro­ris­ten sehr wohl mit Spra­che und Gesit­tung der Ame­ri­ka­ner ver­traut und über­dies gebil­det sein.

Hier lie­gen sich nicht mehr Kain und Abel in den Haa­ren, es han­delt sich viel­mehr um eine Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen ver­schie­de­nen Kains – zwi­schen Kains, die bereits ver­trie­ben waren und somit aus dem Ort­lo­sen agie­ren. Für Ame­ri­ka trifft das real zu. Der Grün­dung des Staa­tes ging die »Ver­trei­bung« uner­wünsch­ter Per­so­nen­grup­pen aus Euro­pa vor­aus, zudem erklärt sich das Land für unbe­grenzt, wodurch es sich über die gan­ze Welt bis in den Welt­raum hin­aus aus­brei­ten muß. Die ara­bi­schen Staa­ten ande­rer­seits, von wel­chen der Ter­ror kom­men soll, bezie­hen ihre Iden­ti­tät aus der Erd­öl­för­de­rung, die sie letzt­lich ort­los macht. Erschwe­rend kommt hin­zu, daß sie eine Tech­nik benut­zen, die sie sel­ber nicht ent­wi­ckelt haben und nicht ent­wi­ckeln kön­nen. Die fun­da­men­ta­lis­ti­schen Strö­mun­gen ver­mö­gen hier kein Gegen­steu­er zu geben. Im Gegen­teil: Inmit­ten von Repres­sio­nen kann kei­ne Kul­tur wachsen.

Da es sich bei der ame­ri­ka­ni­schen und der ara­bi­schen Kul­tur um Anti­po­den han­delt, berüh­ren sie sich, wie alle Gegen­sät­ze, in ihren Extre­men. So ist der Fun­da­men­ta­lis­mus ledig­lich die Kehr­sei­te des gren­zen­lo­sen Libe­ra­lis­mus. Im Grun­de aber gehen sie aus der­sel­ben Ver­drän­gung hervor.

Schaff­hau­sen, 14. Sep­tem­ber 2001

In einer ver­netz­ten Welt sind immer alle an den Ereig­nis­sen betei­ligt und davon betrof­fen. Nur schon die Fern­seh­bil­der mach­ten jeden ein­zel­nen zum Augen­zeu­gen: Die Kata­stro­phe ereig­ne­te sich vor den Augen der Welt – sie ist in die Woh­nung jedes ein­zel­nen ein­ge­drun­gen, hat viel mehr zum Ein­stür­zen gebracht, als man je wird ermes­sen können.

Schaff­hau­sen, 24. Sep­tem­ber 2001

Die Fotos des bren­nen­den World Trade Cen­ters sind mitt­ler­wei­le in jeder Illus­trier­ten groß­for­ma­tig abge­bil­det. Dabei sieht man Leu­te, die sich an der Außen­sei­te eines der Gebäu­de an den Fens­tern fest­klam­mern, um frü­her oder spä­ter in den Tod zu sprin­gen. Jen­seits der Betrof­fen­heit sind das Sinn­bil­der dafür, daß auch der­je­ni­ge, der sich an der Außen­sei­te befin­det, also der Außen­sei­ter, auf Gedeih und Ver­derb zum Sys­tem gehört. Geht das Sys­tem zugrun­de, so ist auch er davon betroffen.

Schaff­hau­sen, 8. Okto­ber 2001

In der Pari­ser Metro sol­len, wie Chris­ti­ne berich­tet, immer wie­der Mel­dun­gen über Laut­spre­cher ertö­nen, in denen vor Pake­ten gewarnt wird, die schein­bar nie­man­dem gehö­ren. Zudem sei­en alle Papier­kör­be abge­deckt wor­den. Die Angst greift um sich.

Zudem scheint die Zeit für Kata­stro­phen emp­fäng­lich zu sein. So kol­li­dier­te heu­te in Mai­land eine klein­mo­to­ri­ge Maschi­ne mit einem Groß­raum­flug­zeug. Fazit: hun­dert­vier­zehn Tote und vier Vermißte.

In Afgha­ni­stan gehen die Bom­bar­de­ments anschei­nend wei­ter. Die­sem Vor­ge­hen liegt das alte Miß­ver­ständ­nis zugrun­de, daß ein jewei­li­ger Makel ein­fach besei­tigt oder ver­drängt wer­den kann. Damit ist aber, medi­zi­nisch gespro­chen, der Pati­ent nicht geheilt – der Tumor bricht zu gege­be­ner Zeit, mit­un­ter in ande­rer Form, wie­der auf.

Wenn der Volks­mund recht hat, wonach jedes Land die­je­ni­ge Regie­rung besitzt, die es ver­dient, so sind Staats­strei­che und auch Ein­grif­fe von außen von vorn­her­ein zum Schei­tern ver­ur­teilt. Das heißt nicht, daß bestimm­te Per­so­nen nicht ent­fernt wer­den könn­ten, aber das Sys­tem bleibt letzt­lich das­sel­be. Das kann sogar dazu füh­ren – vor­aus­ge­setzt, der jewei­li­ge Macht­ha­ber stimmt im Grun­de mit der Volks­ge­sin­nung über­ein –, daß Atten­ta­te fehl­schla­gen. Ernst­haft gefähr­det ist ein tyran­ni­scher Macht­ha­ber erst dann, wenn die Gesin­nung des ein­zel­nen von Über­la­ge­run­gen und Vor­stel­lun­gen befreit ist. Nicht der Anders­den­ken­de ist daher der eigent­li­che Feind des Tyran­nen, son­dern der Sou­ve­rä­ne. Das wird schon bei König Hero­des deutlich.

Für jeden Orga­nis­mus, auch für ein Land, ist der bes­te Schutz gegen Ein­wir­kun­gen jed­we­der Art die Ent­wick­lung von Iden­ti­tät. Das führt zum Auf­bau eines Immun­sys­tems bis hin­ein in die kleins­ten Zel­len, dem einer­seits Ter­ro­ris­ten erlie­gen und das ande­rer­seits tech­ni­sche Abwehr­maß­nah­men im gro­ßen Stil über­flüs­sig macht.

Die Ereig­nis­se spie­len sich immer mehr über die Medi­en ab. Das wur­de bereits beim Anschlag in New York deut­lich. Ärger­lich sind dabei die Bericht­erstat­tun­gen. Gan­ze Aben­de wer­den mit Infor­ma­tio­nen bestrit­ten, die eigent­lich nur Stoff für ein paar Minu­ten lie­fern wür­den. Man sieht die­sel­ben Bil­der mehr­mals und eben­so glei­chen sich die jewei­li­gen State­ments der Poli­ti­ker fast aufs Wort.

Schaff­hau­sen, 10. Okto­ber 2001

Von den Jour­na­lis­ten, die jetzt täg­lich mit Kom­men­ta­ren zum Kriegs­ge­sche­hen im Fern­se­hen zu sehen sind, fällt Peter Scholl-Latour auf, der sich als pro­fun­der Ken­ner der öst­li­chen Welt erweist. Auch schei­nen sei­ne Ein­schät­zun­gen auf einer umfas­sen­den Grund­la­ge zu beru­hen. So erfährt man, daß in Afgha­ni­stan rie­si­ge Ölvor­kom­men ver­mu­tet wer­den. Des­halb also erst der Ein­fall der Rus­sen und jetzt der Ame­ri­ka­ner. In einer von Mobi­li­tät und somit von Ener­gie bestimm­ten Welt wer­den auch die Krie­ge von die­sen The­men bestimmt. Da Ener­gie immer aus unter­ge­gan­ge­nem Leben her­vor­geht, ist dies ein Krieg, der um Kada­ver geführt wird. Daß dabei huma­ne Gesichts­punk­te in den Hin­ter­grund gedrängt wer­den, erscheint folgerichtig.

Schaff­hau­sen, 12. Okto­ber 2001

Eine sich beschleu­ni­gen­de Welt benö­tigt zuneh­mend Ener­gie. Und so ver­wun­dert es nicht, daß par­al­lel zur Beschleu­ni­gung Ener­gie­vor­kom­men ent­deckt wur­den, wie etwa Mit­te des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts die ers­ten Ölfel­der. Daß dabei der Ver­su­chung des »schwar­zen Gol­des« ent­spro­chen wur­de, erstaunt nicht. Hät­te man ihr über­haupt wider­ste­hen kön­nen? Die Vor­tei­le der zur Ver­fü­gung ste­hen­den Ener­gie lie­gen auf der Hand; weni­ger deut­lich zeich­nen sich hin­ge­gen die Nach­tei­le ab – bis­wei­len will man sie auch gar nicht sehen. Für den, der sei­ne Iden­ti­tät zu ver­lie­ren beginnt, was durch die Beschleu­ni­gung zwangs­läu­fig ein­tritt, muß das Öl ein Segen sein – ein Kom­pen­sa­ti­ons­mit­tel ers­ter Güte. Ame­ri­ka konn­te dadurch sei­ne Mobi­li­tät ins Gren­zen-lose stei­gern, womit es kei­ne Iden­ti­tät zu ent­wi­ckeln brauch­te, und die ara­bi­schen Staa­ten konn­ten den Schwund ihrer Iden­ti­tät durch den mate­ri­el­len Gewinn aus­glei­chen. So gese­hen, frißt das Öl Iden­ti­tät – es frißt letzt­lich Gegen­wart. Das spürt der Betrof­fe­ne, und er wird sich dage­gen ver­wah­ren, indem er Macht aus­spielt. So kommt es auf der einen Sei­te zu fun­da­men­ta­lis­ti­schen Strö­mun­gen, auf der ande­ren Sei­te zur Weltmachtpolitik.

Durch das Knap­per­wer­den der Ölvor­rä­te müs­sen sich die jewei­li­gen Kom­pen­sa­tio­nen zuspit­zen, bis hin zum wil­den Umsich­schla­gen. In ein sol­ches Sta­di­um sind Ame­ri­ka und die ara­bi­schen Län­der ein­ge­tre­ten, und es ist zu ver­mu­ten, daß die Kon­fron­ta­tio­nen in Zukunft noch zuneh­men wer­den. Die Iden­ti­täts­lo­sen sind immer die Gefähr­lichs­ten: Sie haben kein Maß und kein Ziel – sie haben kei­ne Ethik.

Schaff­hau­sen, 1. Novem­ber 2001

In den Mor­gen­nach­rich­ten wird davon berich­tet, daß das fran­zö­si­sche Par­la­ment der Poli­zei umfas­sen­de Voll­mach­ten in der Ter­ro­ris­mus­be­kämp­fung erteilt hat. Die Fran­zo­sen wir­ken in die­ser Bezie­hung ent­schlos­se­ner als ihre deut­schen Nach­barn, die dies­be­züg­lich noch immer in der Dis­kus­si­on ste­cken. Bei sol­chen Kom­pe­tenz­über­tra­gun­gen muß jedoch befürch­tet wer­den, daß das Pen­del schon bald umschlägt. Zuse­hends wird der zu Schüt­zen­de in den Mit­tel­punkt des Ver­dachts gera­ten. Das wird mit­tels Tele­fon- und E‑Mail-Über­wa­chun­gen, Per­so­nen­über­prü­fun­gen ohne Anga­ben von Grün­den, durch Video­über­wa­chun­gen und soge­nann­ten Lausch­an­grif­fe erreicht. Der ein­zel­ne wird sich gera­de von die­ser Sei­te stän­dig unbe­wußt bedroht füh­len müs­sen. Für ihn geht vom Staat, zu dem er grund­sätz­lich eine posi­ti­ve Ein­stel­lung hat, letzt­lich eine tie­fer grei­fen­de Bedro­hung aus als vom Ter­ro­ris­mus selbst.

Schaff­hau­sen, 19. Dezem­ber 2001

Der Krieg in Afgha­ni­stan scheint, zumin­dest was die gro­ßen Angrif­fe betrifft, been­det zu sein. Die Flam­me ist erlo­schen, aber im Innern glimmt es wei­ter. Der Chef der Tali­ban, Mul­lah Omar, und auch bin Laden befin­den sich aller­dings noch auf frei­em Fuß. Bes­ser müß­te man wohl sagen, sie sind unter­ge­taucht, denn frei sind sie schon lan­ge nicht mehr.

Die Fes­seln, die das Schick­sal einem anlegt, sind oft här­ter als Ket­ten aus Stahl. Aber der Rich­ter ist unbe­stech­lich und gerecht, auch wenn wir in jedem sei­ner Trümp­fe eine gezink­te Kar­te zu erken­nen glau­ben. Gezinkt sind ein­zig die Kar­ten der irdi­schen Machthaber.

Tage­buch 2010/11

Dies­sen­ho­fen, 19. August 2010

Vie­les, was seit dem 11. Sep­tem­ber 2001 geschah und von Bedeu­tung war, ist wie­der ver­ges­sen. Aber die Bil­der des bren­nen­den World Trade Cen­ters sind prä­sent und lau­fen vor dem geis­ti­gen Auge gesto­chen scharf ab. Um damit umge­hen zu kön­nen, sind nicht Infor­ma­tio­nen, son­dern prä­gnan­te Deu­tun­gen hilf­reich, wie etwa jene von Micha­el Klo­novs­ky: »Bush & Co haben sich den 11. Sep­tem­ber unge­fähr so zunut­ze gemacht wie Hit­ler & Co den Reich­tags­brand. Ansons­ten ent­sprach der Angriff auf den Irak dem Angriff eines Pira­ten­schiffs auf ein Skla­ven­schiff: daß die Schin­der erle­digt wur­den, ist ein ange­neh­mer Kol­la­te­ral­ef­fekt, aber man muß des­halb nicht Par­tei ergrei­fen für die Piraten.«

Dies­sen­ho­fen, 22. August 2010

Neun Jah­re sind seit den Anschlä­gen ver­gan­gen. Der Irak­krieg, der im Jahr 2003 begann, wur­de durch sie zumin­dest legi­ti­miert und eben­so die Inter­ven­ti­on der US-geführ­ten Koali­ti­on in Afgha­ni­stan. Vor allem aber wur­de durch die Anschlä­ge der Islam im Wes­ten wahr­ge­nom­men. Auch das gehört in die Kate­go­rie der Alarm­be­reit­schaft und der Ent­hül­lun­gen. Plötz­lich erkann­te man, daß der Islam auf dem Vor­marsch war, nicht nur krie­ge­risch – durch Ter­ror­ak­te –, son­dern auch »sanft«, so als wäre er durch die Hin­ter­tü­re ein­ge­schli­chen. Plötz­lich wur­den Kopf­tuch, Bur­ka, Mina­rett, wur­den die Scha­ria und der bis­wei­len extrem hohe Aus­län­der­an­teil an Schu­len und vor allem in den Städ­ten wahr­ge­nom­men. Plötz­lich waren Aus­län­der­ge­walt, Gebur­ten­über­schuß der aus­län­di­schen Bevöl­ke­rung und Inte­gra­ti­on ein The­ma. Reden durf­te man dar­über in der Öffent­lich­keit frei­lich noch nicht.

Dies­sen­ho­fen, 1. Sep­tem­ber 2010

Was vom Ein­sturz der Tür­me bleibt, ist neben den Bil­dern die Zahl. Nine ele­ven steht für das epo­cha­le Ereig­nis. Das deu­tet, obwohl immer wie­der auf die see­li­schen Aus­wir­kun­gen hin­ge­wie­sen wur­de, auf einen for­ma­len, rein abs­trak­ten Umgang mit dem Ereig­nis hin. Ins­be­son­de­re in einer tech­ni­schen Welt wird die Zahl wich­ti­ger als der Kopf. Damit ver­bun­den sind huma­ne Ein­bu­ßen, die durch Schlag­wor­te wie »Men­schen­rech­te« oder »Men­schen­wür­de« auf­ge­wo­gen wer­den. Nie­mand wäre beim Unter­gang der »Tita­nic«, der für die dama­li­ge Zeit ein ver­gleich­ba­res Auf­se­hen erreg­te, auf die Idee gekom­men, vom 14. April oder von four four­teen zu spre­chen, und von der ers­ten Mond­lan­dung, die erst gut vier­zig Jah­re zurück­liegt und die eben­falls eine gan­ze Welt beweg­te, ken­nen die meis­ten weder das genaue Datum noch die Jah­res­zahl. Gleich­wohl sol­len Zah­len nicht zu gering geach­tet wer­den. Es ist, glaubt man den Num­e­ro­lo­gen oder Zah­len­mys­ti­kern, kein Zufall, an wel­chem Datum man gebo­ren wur­de, und wohl jeder kam schon mit der Zah­len­sym­bo­lik in Kon­takt, die etwa die 13 als Unglücks­zahl nennt. Auch die Zah­len in der Bibel sind sym­bo­lisch zu ver­ste­hen, und eben­so sind, astro­lo­gisch gese­hen, Zah­len mit Inhal­ten ver­bun­den. So ent­spricht die Neun dem Mars mit sei­nen auf­de­cken­den, form­spren­gen­den Qua­li­tä­ten, wäh­rend die Elf dem Ura­nus zuge­ord­net wird, jenem Pla­ne­ten, der für die Auf­he­bung von Unter­schie­den und Pola­ri­tä­ten steht. Im Zusam­men­spiel der bei­den Zah­len ergibt sich eine Muta­ti­on, die plötz­lich, mit­un­ter aggres­siv in Erschei­nung tritt. Die jün­ge­re deut­sche Geschich­te ist dabei eng mit der Neun und der Elf ver­bun­den. Aller­dings ist es hier nicht der 11. Sep­tem­ber, son­dern des­sen Umkeh­rung: der 9. Novem­ber. Die­ses Datum mar­kiert das Ende der März­re­vo­lu­ti­on, die Aus­ru­fung der Wei­ma­rer Repu­blik, die Grün­dung der SS; die Reichs­pro­grom­nacht fand an einem 9. Novem­ber statt, und eben­so wur­de an die­sem Datum durch den Fall der Mau­er die Wie­der­ver­ei­ni­gung der bei­den deut­schen Staa­ten eingeleitet.

Fast wird unter dem Ein­druck von 9/11 ver­ges­sen, daß am 11. Sep­tem­ber des Jah­res 1609 der Eng­län­der Hen­ry Hud­son in die Bucht von New York vor­drang und dabei die Insel Man­hat­tan entdeckte.

Dies­sen­ho­fen, 7. Sep­tem­ber 2010

Eine evan­ge­li­ka­le Split­ter­grup­pe im US-Bun­des­staat Flo­ri­da plant eine öffent­li­che Koran­ver­bren­nung zum neun­ten Jah­res­tag des 11. Sep­tem­bers. Die Glau­bens­ge­mein­schaft wirbt auf ihrer Sei­te im Online-Netz­werk Face­book mit dem Slo­gan »Islam kommt vom Teufel«.Die Reak­tio­nen blei­ben nicht aus. So demons­trier­ten in Kabul bereits meh­re­re hun­dert Afgha­nen vor einer Moschee gegen die geplan­te Koran­ver­bren­nung. Sie ver­brann­ten ihrer­seits ame­ri­ka­ni­sche Flag­gen und rie­fen »Tod für Amerika«.Auch sol­che Aktio­nen gehö­ren zum media­len Schlag­ab­tausch. Durch die bild­haf­te Ver­viel­fäl­ti­gung wird aus einem Wind­hauch schnell ein Orkan. Wie wäre der 11. Sep­tem­ber von der Welt auf­ge­nom­men wor­den, wenn kei­ne Live-Bil­der zu sehen gewe­sen wären? Die Ant­wort liegt auf der Hand: An das Flug­zeug, das ins Pen­ta­gon prall­te, erin­nert man sich kaum mehr, und von jener Maschi­ne, die angeb­lich auf dem Weg zum Wei­ßen Haus abstürz­te, nahm man schon damals kaum Notiz.

Dies­sen­ho­fen, 20. März 2011

Flut­wel­le und Atom­ka­ta­stro­phe in Japan. Man wun­dert sich, wie gelas­sen der Japa­ner bleibt. Der Euro­pä­er hät­te als ers­tes sei­ne Haut zu ret­ten ver­sucht und wäre wohl schon längst geflüchtet.

Bis­wei­len wird ver­sucht, das Ver­hal­ten des Japa­ners mit des­sen Men­ta­li­tät zu erklä­ren, und es wird erwo­gen, daß der Ernst­fall die Men­ta­li­täts­ni­vel­lie­rung, die die Glo­ba­li­sie­rung mit sich brach­te, auf­zu­he­ben imstan­de sei. Die­ser Schluß erscheint jedoch etwas vor­ei­lig. Natür­lich hat der Japa­ner eine ande­re Men­ta­li­tät als der Euro­pä­er, wesent­lich scheint jedoch, daß bei ihm die Indi­vi­dua­li­sie­rung weit weni­ger fort­ge­schrit­ten ist als beim west­li­chen Typus. Daß der Japa­ner dem Euro­pä­er in tech­ni­scher Hin­sicht trotz­dem nicht hin­ter­her­hinkt, scheint vor allem damit zusam­men­zu­hän­gen, daß die Tech­nik, die ja die Grund­la­ge des Fort­schrit­tes bil­det, mit Dis­zi­plin, intel­lek­tu­el­lem Ver­mö­gen und Hal­tungs­ehr­geiz »leicht« nach­zu­ah­men ist. Das Ein­ste­hen des ein­zel­nen für das Gan­ze fin­den wir in Kul­tu­ren, die sich noch als Ein­heit ver­ste­hen oder in denen die Indi­vi­dua­li­sie­rung nur wenig aus­ge­prägt ist. Das­sel­be Ver­hal­ten, jedoch mit ande­ren Vor­zei­chen, fin­det sich bei Grup­pie­run­gen und Gemein­schaf­ten, die ideo­lo­gi­siert sind. Die Ret­ter in Fuku­shi­ma zäh­len zu der ers­ten Grup­pe, wäh­rend jene, die in Tscher­no­byl die Arbeit mach­ten, dem Sys­tem zu gehor­chen hat­ten. Und die isla­mi­schen Selbst­mord­at­ten­tä­ter? Hier kumu­lie­ren die Beweg­grün­de. In der isla­mi­schen, ins­be­son­de­re aber in der ara­bi­schen Welt ist die Indi­vi­dua­li­sie­rung des ein­zel­nen ver­gleichs­wei­se nur wenig aus­ge­prägt. Dazu kommt, daß der Islam eine Ideo­lo­gie ist und wohl kaum je eine Chan­ce hat, eine ideo­lo­gie­freie Form anzunehmen.

Wäh­rend das Chris­ten­tum, obwohl durch die Kreuz­zü­ge und die Inqui­si­ti­on ent­gleist, auf einem gesun­den Fun­da­ment steht – Lie­be und Ver­ge­bung sind sei­ne urei­gens­ten Maxi­men –, hat der Islam bereits im Fun­da­ment Ris­se. Moha­med setz­te sei­nen Ein­fluß mit­un­ter auch mili­tä­risch durch. So lei­te­te er unter ande­rem die Unter­drü­ckung des Hei­den­tums auf der ara­bi­schen Halb­in­sel ein – man­che Quel­len bezeich­nen ihn schlicht als Mör­der. Was auf gesun­dem Boden grün­det, kann zwar ent­glei­sen, aber es hat durch die Kraft des Fun­da­men­tes immer wie­der die Chan­ce, zum Wah­ren zurück­zu­fin­den. Was ande­rer­seits auf schlech­tem Boden grün­det, kann zwi­schen­durch zwar Blü­ten trei­ben, aber es kann sich sei­nem eige­nen Fun­da­ment nicht ent­zie­hen – es sei denn, es wüch­se über sich hinaus.

Dies­sen­ho­fen, 5. April 2011

Auf­hor­chen las­sen Mit­tei­lun­gen wie die­se: »Ein 47 Stock­wer­ke hohes Gebäu­de in der Nach­bar­schaft des World Trade Cen­ters, das von kei­nem Flug­zeug getrof­fen wor­den war, stürz­te sie­ben Stun­den nach den Tür­men ein. Das deu­tet auf eine kon­trol­lier­te Spren­gung hin.«Daß nach den Anschlä­gen Ver­schwö­rungs­theo­rien auf­tau­chen wür­den, war zu erwar­ten. Egal, was man davon hält: Eine Ver­schwö­rung lag den Anschlä­gen auf jeden Fall zugrun­de, gleich­viel ob hier Isla­mis­ten oder der ame­ri­ka­ni­sche Geheim­dienst ihre Fin­ger im Spiel hat­ten. Mög­lich scheint aber auch, daß bei­de dar­an betei­ligt waren – »Pira­ten und Skla­ven­hal­ter« in ver­deck­ter Sym­bio­se. Immer­hin wur­de bin Laden, als er in den acht­zi­ger Jah­ren in Afgha­ni­stan die Gue­ril­la­trup­pen der isla­mi­schen Mud­scha­hed­din auf­bau­te, von den USA als natür­li­cher Ver­bün­de­ter ange­se­hen und vom CIA unterstützt.

Die USA konn­ten sofort von eige­nen Pro­ble­men ablen­ken und hat­ten einen Kriegs­grund. Ande­rer­seits konn­te bin Laden einen gewal­ti­gen Erfolg für sich ver­bu­chen, der ihn im Wes­ten bekannt und in eige­nen Krei­sen zum Hel­den machte.

Dies­sen­ho­fen, 2. Mai 2011

Ers­te Mel­dung in den Nach­rich­ten: Bin Laden ist tot. Der Nach­rich­ten­spre­cher war anschei­nend so auf­ge­bracht über die Nach­richt, daß er von Oba­ma bin Laden sprach.

Selt­sam mute­te schon damals der kome­ten­haf­te Auf­stieg des Ter­ro­ris­ten an. Von einem Tag auf den ande­ren war er in aller Mun­de. Und jetzt die all­ge­mei­ne Genug­tu­ung über des­sen Tod. Die Fra­ge bleibt natür­lich, ob der Tod bin Ladens kal­ku­liert war. Muß­te gera­de zu die­sem Zeit­punkt etwa von der US-Schul­den­wirt­schaft abge­lenkt wer­den, oder bedeu­te­te er viel­leicht sogar den Start­schuß für Oba­mas Wahl­kampf? Bin Laden war ein Reprä­sen­tant jener Iden­ti­täts­lo­sen, die kein Maß und kein Ziel haben. Iden­ti­täts­lo­sig­keit kün­digt sich in der Jugend oft durch Aus­gren­zung an. Bei bin Laden wird ver­mu­tet, daß er als Kind den Ruf­na­men »Sohn der Skla­vin« erhal­ten habe. Min­der­wer­tig­keits­ge­füh­le wer­den daher als ein mög­li­cher Antrieb zum Ter­ro­ris­mus genannt. Statt durch die Anna­he des »Unrechts« sein eige­nes Maß zu fin­den, kämpft man viel lie­ber dage­gen an, bis hin zum wil­den Umsich­schla­gen. Das gilt natür­lich nicht nur für Indi­vi­du­en, son­dern auch für Staaten.

Dies­sen­ho­fen, 12. Mai 2011

»Das Ver­steck des Al-Qai­da-Chefs in Abbot­ta­bad (Paki­stan) – es war kein Ver­steck, son­dern eine Kom­man­do-Zen­tra­le!« und: »US-Ermitt­ler fan­den das Notiz­buch von Osa­ma bin Laden und wei­te­re wich­ti­ge Doku­men­te«, lau­ten heu­te die Schlag­zei­len in der Pres­se. War­um nicht gleich ein neu­er Comic: »Tim und Strup­pi in Paki­stan« oder: »Die drei Fra­ge­zei­chen – Das gehei­me Notizbuch«.Es ist glei­cher­mas­sen son­der­bar wie bezeich­nend, daß in einer hoch­tech­ni­sier­ten Welt die glei­chen Din­ge eine Rol­le spie­len wie seit eh und je: Ein ein­fa­ches Haus wird zur Kom­man­do­zen­tra­le, ein Notiz­buch gibt ent­schei­den­de Hin­wei­se und viel­leicht taucht schon bald das Motiv der offen­ste­hen­den Türe wie­der auf (Bar­schel), oder ein füh­ren­der Poli­ti­ker stürzt sich wie­der ein­mal aus einem Fens­ter (Prag, 1618).Auch die Mili­tärs und die Poli­tik han­deln im gro­ßen und gan­zen nicht viel anders als frü­her, wenn­gleich die Vor­ge­hens­wei­sen dyna­mi­scher und die Zie­le glo­ba­ler gewor­den sind. Das hängt viel­leicht damit zusam­men, daß sich die Beweg­grün­de nie ändern: Gut und Böse, Macht und Ideo­lo­gie sind untrenn­bar mit dem Men­schen und den Kul­tu­ren ver­bun­den. Letzt­lich steckt dahin­ter das ewi­ge glei­che Motiv: die Nicht­an­nah­me der eige­nen Gren­zen sowie des eige­nen Schicksals.

Dies­sen­ho­fen, 19. Mai 2011

Der Kachelm­ann-Pro­zeß nähert sich sei­nem Ende, und Domi­ni­que Strauss-Kahn, der Direk­tor des IWF, ist wegen ver­such­ter Ver­ge­wal­ti­gung einer New Yor­ker Hotel­an­ge­stell­ten ver­haf­tet wor­den. Da sind die Schlag­zei­len von ges­tern schnell ver­ges­sen. Von Osa­ma bin Laden spricht jeden­falls nie­mand mehr.

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