Blindgänger um »Barbarossa«

pdf der Druckfassung aus Sezession 43/ August

von Stefan Scheil

Die moderne Weltordnung steht auf dem Prüfstand. Das hat kein Geringerer als der russische Ex-Präsident und jetzige Regierungschef Wladimir Putin auf einer Gedenkfeier für den Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion gesagt.

Sekun­diert wur­de ihm vom aktu­el­len Staats­chef Med­wed­jew, der von Ver­su­chen der »Umdeu­tung der Geschich­te« im Zusam­men­hang mit dem Zwei­ten Welt­krieg sprach. Bei­den Poli­ti­kern ist die Sor­ge gemein­sam, es kön­ne die Rol­le der UdSSR bei der »Befrei­ung Euro­pas vom Faschis­mus« in Fra­ge gestellt wer­den, wie der deut­schen Pres­se viel­fach zu ent­neh­men war. Der Druck muß groß sein: Man hat sogar die Online-Publi­ka­ti­on Zehn­tau­sen­der Doku­men­te ange­kün­digt, die bis­her unzu­gäng­lich waren.

Tritt man etwas zurück und betrach­tet das Pan­ora­ma, dann ist es zunächst ein­mal erstaun­lich, wenn Ruß­land glaubt, dau­er­haft geschichts­po­li­ti­sche Legi­ti­ma­ti­on aus den Kriegs­er­fol­gen sei­nes Vor­läu­fers UdSSR zie­hen zu könen. Unbe­strit­ten war die Sowjet­uni­on eines der aggres­sivs­ten und mör­de­rischs­ten Gebil­de der Mensch­heits­ge­schich­te. Ihr Sta­li­nis­mus ver­schul­de­te den Krieg von 1939 mit. Er hin­ter­ließ in Ruß­land und in vie­len Nach­bar­staa­ten Lei­chen­ber­ge und eine ver­rot­ten­de Indus­trie. Dies war west­li­chen His­to­ri­kern schon vor 1989 weit-gehend bekannt. Dar­über hin­aus konn­te in den Wir­ren des Zusam­men­bruchs Anfang der neun­zi­ger Jah­re und der kurz­zei­ti­gen Öff­nung der Mos­kau­er Archi­ve neu­es doku­men­ta­ri­sches Mate­ri­al erschlos­sen wer­den. Die UdSSR hat dem­nach zwei­fels­frei auf den Aus­bruch des Zwei­ten Welt­kriegs hin­ge­ar­bei­tet und beab­sich­tig­te, 1941 mit einem Angriff auf die deut­schen Streit­kräf­te in ihn ein­zu­tre­ten. Aus bei­den Grün­den täte das heu­ti­ge Ruß­land prin­zi­pi­ell gut dar­an, sich eine ande­re Legi­ti­ma­ti­on zu verschaffen.

Den­noch hal­ten die Geschichts­po­li­ti­ker in Ruß­land an der Tra­di­ti­ons­wür­dig­keit der sta­li­nis­ti­schen Ära und an dem Bild eines deut­schen »Über­falls« fest. Es ist ihnen, wie ein Blick in die deut­sche Pres­se aus Anlaß von sieb­zig Jah­ren »Unter­neh­men Bar­ba­ros­sa« zeigt, dabei gelun­gen, die­ses Bild seit 1945 und trotz des Zusam­men­bruchs der UdSSR stark zu expor­tie­ren. Spie­gel­bild­lich für die­se Ent­wick­lung ste­hen etwa die in Ruß­land genann­ten und in Deutsch­land akzep­tier­ten Opfer­zah­len auf sowje­ti­scher Sei­te. Nann­te die Praw­da 1946 noch eine Zahl von sie­ben Mil­lio­nen sowje­ti­schen Toten, so stieg die­se Anga­be der Sowjet­re­gie­rung wäh­rend der Nach­kriegs­kon­fe­ren­zen der Sie­ger­mäch­te auf etwa zwölf bis drei­zehn, um sich dann über kur­ze Zwi­schen­sta­tio­nen auf die jahr­zehn­te­lang in allen Schul­bü­chern zu fin­den­de Anga­be von zwan­zig Mil­lio­nen ein­zu­pen­deln. In der Ära Gor­bat­schow begann man dann, seit Mit­te der acht­zi­ger Jah­re offi­zi­ell von sie­ben­und­zwan­zig Mil­lio­nen zu spre­chen, jene Zahl, die jetzt wie­der regel­mä­ßig in der bun­des­deut­schen Pres­se gedruckt wur­de. Wel­che Zahl zutref­fend wäre, dar­über kann und muß an die­ser Stel­le nichts gesagt wer­den. Ihre ste­te, bereit­wil­lig nach­voll­zo­ge­ne Erhö­hung spie­gelt jeden­falls treff­lich den rus­si­schen wie den bun­des­deut­schen Umgang mit dem Rußlandfeldzug.

Denn auch wenn sich im Bal­ti­kum, in Rumä­ni­en, in der Ukrai­ne sowie in Ruß­land selbst die Stim­men meh­ren, die auf den ver­bre­che­ri­schen Cha­rak­ter des Sowjet­sys­tems hin­wei­sen und es offen ableh­nen, sich von Mos­kau aus den frü­he­ren Mas­sen­mord plus jahr­zehn­te­lan­ger Unter­drü­ckung als Teil eines Unter­neh­mens zur Befrei­ung sug­ge­rie­ren zu las­sen, so fehlt die­ser not­wen­di­ge neue Ton in der Bun­des­re­pu­blik weit­ge­hend. Der deut­sche Ruß­land­feld­zug galt der bun­des­deut­schen Pres­se im Juni 2011 mehr­heit­lich als »ver­bre­che­ri­scher« Ver­nich­tungs­krieg. Daß er gegen ein Regime geführt wor­den war, wel­ches sei­ne Ver­nich­tung voll­auf ver­dient und den Krieg zudem selbst eröff­net hat­te, wur­de über­wie­gend ausgeblendet.

Aber den­noch: Auch hier­zu­lan­de nahm man wahr, daß das ein­di­men­sio­na­le Geschichts­bild in der Luft hängt – die Fak­ten haben ihm längst den Boden ent­zo­gen. Und so kam es um den 22. Juni her­um zu Ver­su­chen, die Ein­di­men­sio­na­li­tät zu ret­ten. Die Tages­zei­tung Die Welt empör­te sich in Gestalt Sven Felix Kel­ler­hoffs über Autoren wie Gerd Schult­ze-Rhon­hof und Ste­fan Scheil. Zwar sei­en ihre Gedan­ken­ket­ten »abstrus«, aber sie hät­ten Wider­sprü­che in den gän­gi­gen Mei­nun­gen auf­ge­zeigt, das wur­de zuge­ge­ben. Dies wird hier nicht aus Eitel­keit erwähnt, son­dern aus zwei Grün­den, die in die­sem Zusam­men­hang sehr schön illus­trie­ren, wie das heu­te herr­schen­de Geschichts­bild geschaf­fen wur­de und wel­che Fol­gen es hat. Denn die Welt emp­fahl laut­hals und mehr­mals das neue Buch von Rolf-Die­ter Mül­ler über Hit­lers gehei­me Plä­ne zum Über­fall auf die Sowjet­uni­on im Jahr 1939 als Anti­dot gegen Scheil und Schult­ze-Rhon­hof, ja als eines der wich­tigs­ten Bücher der letz­ten Jah­re zum Zwei­ten Welt­krieg über­haupt. Rolf-Die­ter Mül­ler ist nun jemand, der als Mit­ar­bei­ter des Mili­tär­ge­schicht­li­chen For­schungs­amts (MGFA) in nicht unbe­deu­ten­der Funk­ti­on die Schief­la­ge des Geschichts­bilds vor­an­ge­trie­ben hat und dies auch in die­ser neu­en Ver­öf­fent­li­chung tut. Hit­ler­sche Über­fall­plä­ne im Jahr 1939 sind näm­lich nir­gends nach­weis­bar. Sie wür­den auch über­haupt nicht in die dama­li­ge poli­ti­sche Lage pas­sen. Also pro­du­ziert Mül­ler sie kur­zer­hand selbst.

Der Leser erfährt: »Reichs­au­ßen­mi­nis­ter Con­stan­tin Frei­herr von Neu­r­a­th ver­si­cher­te dem ame­ri­ka­ni­schen Bot­schaf­ter Wil­liam C. Bul­litt am 18. Mai 1936, daß aus Hit­lers Sicht die Feind­schaft zur UdSSR unüber­wind­bar sei und er nur so lan­ge ruhig blei­ben wol­le, bis die West­be­fes­ti­gun­gen fer­tig­ge­stellt sei­en.« (S. 79) Als Quel­le für die­se Behaup­tung, wonach Hit­ler nach Bau der West­be­fes­ti­gun­gen gegen die UdSSR vor­ge­hen woll­te, gibt Autor Mül­ler die Pro­to­kol­le des Nürn­ber­ger Tri­bu­nals an, genau­ge­nom­men Band 37, Dok. 150‑L, S. 588–592, eine eng­lisch­spra­chi­ge Auf­zeich­nung Bul­litts über das Gespräch mit von Neurath.

Dort steht aller­dings fol­gen­des: »Wir spra­chen über die Bezie­hun­gen zwi­schen Deutsch­land und der Sowjet­re­gie­rung. Von Neu­r­a­th gab an, daß er die Feind­schaft zwi­schen bei­den Län­dern für abso­lut unüber­wind­bar hal­te. Er sag­te, daß die Sowjet­uni­on Nazi-Deutsch­land als das Haupt­hin­der­nis für eine Erobe­rung Euro­pas durch den Kom­mu­nis­mus anse­hen wür­de. Daher kön­ne es kein Ende der Feind­se­lig­keit zwi­schen bei­den Staa­ten geben.« (S. 590) In der Gesprächs­auf­zeich­nung Bul­litts steht also so ziem­lich das exak­te Gegen­teil des­sen, was Autor Mül­ler behaup­tet. Die UdSSR wird von Neu­r­a­th als Aggres­sor und Ursprung der Feind­schaft genannt, wie auch in den Äuße­run­gen und Denk­schrif­ten Hit­lers aus die­ser Zeit, die Mül­ler eben­falls falsch wiedergibt.

Wir haben es hier also ers­tens mit einer glat­ten Quel­len­fäl­schung zu tun, auf die grund­sätz­lich mög­lichst deut­lich hin­ge­wie­sen wer­den muß. Das gilt zumal, wenn ein der­ar­ti­ges Pro­dukt in den gro­ßen Print­me­di­en uni­so­no gelobt wird, was übri­gens kein Ein­zel­fall ist. Hät­te sich die bun­des­deut­sche Publi­zis­tik zur Kennt­nis der Fak­ten bereit gefun­den, wäre die­se Geschichts­bla­se so nie­mals ent­stan­den. Zwei­tens aber wird gera­de an der Art, wie dies prä­sen­tiert und ange­nom­men wird, die Struk­tur der gegen­wär­ti­gen Bla­se sicht­bar. Die lach­haf­te Behaup­tung, es kön­ne ein deut­scher Außen­mi­nis­ter wie von Neu­r­a­th zum damals wich­tigs­ten ame­ri­ka­ni­schen Diplo­ma­ten in Euro­pa qua­si salopp gesagt haben, »wenn der West­wall fer­tig ist, über­fal­len wir Ruß­land«, rutscht nicht nur einem beam­te­ten His­to­ri­ker des MGFA aus der Feder. Nein, die­ser Unsinn pas­siert auch mühe­los die angeb­lich vor­han­de­nen Qua­li­täts­kon­trol­len der deut­schen Medien.

Es kann mit­hin in der Bun­des­re­pu­blik über die Außen­po­li­tik des Deut­schen Rei­ches und das Ver­hal­ten sei­ner Streit­kräf­te – der­zeit – prak­tisch alles behaup­tet wer­den, wenn es nur ent­spre­chend nega­tiv aus­fällt und gewis­ser­ma­ßen noch eine Schip­pe auf­legt: noch mehr Ver­bre­chen, noch mehr Tote, noch frü­he­re Über­fall­plä­ne. Eine Glaub­wür­dig­keits­prü­fung fin­det ernst­lich gar nicht statt. Dies ist die Bilanz, die man aus der Dar­stel­lung des 70. Jah­res­tags des Angriffs auf die UdSSR in den gro­ßen deut­schen Medi­en zie­hen kann. Daher müs­sen sich Putin und Med­wed­jew der­zeit nur wenig Sor­gen über eine Gefähr­dung der Welt­ord­nung durch eine Ände­rung des Geschichts­bilds machen, die etwa aus Deutsch­land kom­men könn­te. Aber Deutsch­land ist ja bekannt­lich nicht allein auf der Welt.

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