Deutschtum und Christentum

pdf der Druckfassung aus Sezession 44 / Oktober 2011

von Karlheinz Weißmann

Der vierte Teil von Madame de Staëls Buch Über Deutschland ist »Religion« und »Enthusiasmus« gewidmet.

Es han­delt sich um den ver­hält­nis­mä­ßig kür­zes­ten und an den Schluß gesetz­ten Abschnitt, was aber nichts gegen die Bedeu­tung sagt, die die klu­ge Beob­ach­te­rin dem Glau­ben und der Kir­che Deutsch­lands am Beginn des 19. Jahr­hun­derts zurechnete.

Ganz im Gegen­teil, und schon der ers­te Satz des ers­ten Kapi­tels beginnt mit: »Alle Natio­nen ger­ma­ni­schen Ursprungs sind von Natur aus reli­gi­ös …« Die­se Grund­ver­fas­sung der Deut­schen erklär­te nach Madame de Staëls Über­zeu­gung aus fran­zö­si­scher Sicht irri­tie­ren­de Sach­ver­hal­te: daß weder die Refor­ma­ti­on mit ihrem Angriff auf die alten For­men und Dog­men, noch die fol­gen­den Kon­fes­si­ons­krie­ge, noch die Auf­klä­rung zu jener Glau­bens­lo­sig­keit geführt hat­ten, die für die Eli­te ihres Hei­mat­lan­des typisch gewor­den war. Viel­mehr las­se sich bei den Deut­schen »in der Auf­fas­sung des Reli­giö­sen eine Frei­heit und eine Grö­ße fest­stel­len, die, ohne irgend­ei­ne Form des Kul­tus zu for­dern oder zu ver­wer­fen, die himm­li­schen Din­ge zum herr­schen­den Prin­zip des Daseins macht.«

Man kann die­se Beschrei­bung und Beur­tei­lung der deut­schen Ver­hält­nis­se nicht ein­fach der Begeis­te­rung der Autorin für ihren Gegen­stand zurech­nen. Tat­säch­lich fällt im euro­päi­schen Ver­gleich nicht nur auf, wie tief die Refor­ma­ti­on in das deut­sche Geis­tes­le­ben ein­ge­drun­gen war – auch im katho­li­schen Volks­teil –, oder daß die Auf­klä­rung in Deutsch­land reli­gi­ons­freund­lich war, son­dern auch, daß die fol­gen­den Bewe­gun­gen die blei­ben­de Bedeu­tung des Glau­bens her­vor­ho­ben. Daß es sich bei Roman­tik, Klas­sik und Idea­lis­mus um wenn nicht spe­zi­fisch deut­sche, dann doch um Erschei­nun­gen han­del­te, die in Deutsch­land ihren Schwer­punkt hat­ten, ist dabei genau­so­we­nig zu bestrei­ten wie die Tat­sa­che, daß das natio­na­le Erwa­chen der Deut­schen von Anfang an mit reli­giö­sen Impul­sen durch­drun­gen war.

Bei­spiel­haft ist das an den Ideen Ernst Moritz Arndts abzu­le­sen, einer Zen­tral­ge­stalt in der Ent­wick­lung des deut­schen Natio­nal­be­wußt­seins. Arndts intel­lek­tu­el­le Prä­gung war ursprüng­lich kon­ven­tio­nell, das heißt welt­bür­ger­lich, den Idea­len von 1789 wohl­ge­sinnt, maß­voll deis­tisch. Das änder­te sich dra­ma­tisch, weni­ger durch das Erschre­cken über den revo­lu­tio­nä­ren Ter­ror, eher durch die Erfah­rung der napo­leo­ni­schen Beset­zung Deutsch­lands. Inso­fern war Arndts Natio­na­lis­mus ein »Kon­ter-Natio­na­lis­mus« (Eugen Lem­berg), erschöpf­te sich aber nie dar­in, die Befrei­ung zu for­dern und den Kampf gegen Frank­reich zu pre­di­gen, son­dern war von Anfang an mit einer umfas­sen­den Vor­stel­lung von Natio­nal­päd­ago­gik ver­knüpft. Arndt ging gera­de nicht davon aus, daß das Volk sei, wie es sein soll­te, son­dern ent­warf ein Pro­gramm, um es zu dem zu bil­den, was keim­haft in ihm ange­legt sei. Dabei kam der Reli­gi­on ent­schei­den­de Bedeu­tung zu, und man kann vor allem sei­nen Brie­fen ent­neh­men, wie dif­fe­ren­ziert sei­ne Ana­ly­se der reli­giö­sen Situa­ti­on war; im wesent­li­chen ging es ihm um fünf Aspekte:

Die Selbst­ver­ständ­lich­keit des Glau­bens ist in Fra­ge gestellt, ein Vor­gang, der nicht mehr rück­gän­gig gemacht wer­den kann;

der Weg zurück in ein vor­christ­li­ches Hei­den­tum bleibt aus­ge­schlos­sen; deut­sche Iden­ti­tät ist nur im Zusam­men­hang mit dem Chris­ten­tum denkbar.

Zu den Beson­der­hei­ten deut­scher und christ­li­cher Iden­ti­tät gehört die Glau­bens­spal­tung. Die kann nicht durch eine Heim­kehr zum Katho­li­zis­mus – wie man­che der Roman­ti­ker mein­ten – kor­ri­giert wer­den, weil die­se nur dem indi­vi­du­el­len ästhe­ti­schen Bedürf­nis Rech­nung tra­ge, aber nicht der eigent­li­chen Reli­gio­si­tät des deut­schen Menschen.

Die Lösung des Pro­blems müs­se des­halb in Rich­tung auf eine Natio­nal­kir­che gesucht wer­den, die einer­seits auf die Gestal­tung des Got­tes­diens­tes mehr Wert lege, als es der Pro­tes­tan­tis­mus gemein­hin tue, ande­rer­seits dem Gewis­sen kei­nen Zwang in den ent­schei­den­den Fra­gen auf­er­le­ge, sondern

das Chris­ten­tum im Kern ver­ste­hen soll­te als Glau­ben an den Schöp­fer und eine ethi­sche Pra­xis, die sich an Jesu Auf­fas­sung der Nächs­ten­lie­be ausrichte.

War Arndt weit ent­fernt von nai­ver Gläu­big­keit, so hat­te sein Ent­schluß, der Neu­grün­dung einer »deut­schen Reli­gi­on« eine Absa­ge zu ertei­len, vor allem damit zu tun, daß er die noch vor­han­de­ne selbst­ver­ständ­li­che Reli­gio­si­tät des Vol­kes bewah­ren und nur all­mäh­lich eine Trans­for­ma­ti­on ein­lei­ten woll­te. Wie untaug­lich Retor­ten­re­li­gio­nen waren, hat­te man im übri­gen wäh­rend der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on satt­sam erfah­ren. Arndt wuß­te dabei sehr genau, daß man nicht auf den Bestand ver­trau­en konn­te. Des­sen Ero­si­on auf­zu­hal­ten, war kei­ne Fra­ge des guten Wil­lens oder der Erwe­ckung, der Wan­del war auch da zu grei­fen, wo die christ­li­che Sache in sei­ner Zeit offen­siv ver­tei­digt wur­de: mit den Mit­teln der Theo­lo­gie wie bei Schlei­er­ma­cher oder den Mit­teln der Phi­lo­so­phie wie bei Fichte.

Das Selbst­ver­ständ­nis Arndts, das wesent­lich von der Vor­stel­lung geprägt war, am Über­gang vom Alten zum Neu­en zu ste­hen, kann man auch den Tex­ten sei­ner Kir­chen­lie­der ent­neh­men, die bis in die zwei­te Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts zum Kern­be­stand der evan­ge­li­schen Gesang­bü­cher gehör­ten. Der Ver­weis auf das berühm­te »Der Gott, der Eisen wach­sen ließ« ist dabei nicht erschöp­fend, vie­les von dem, was er gedich­tet hat, wirkt fast pie­tis­tisch, jeden­falls »inner­lich« und inso­fern beson­ders deutsch.

Skep­sis gegen­über der Christ­lich­keit Arndts gab es des­halb ursprüng­lich kaum, aller­dings Skep­sis gegen­über sei­ner Kirch­lich­keit, was wie­der­um einem gefühls­pro­tes­tan­ti­schen Zug ent­sprach, der nicht nur die Reli­gio­si­tät der Gebil­de­ten bestimm­te. Abge­se­hen von den Ortho­do­xen und den Hoch­kirch­li­chen, wuchs im Deutsch­land des 19. Jahr­hun­derts die Reser­ve gegen­über der Kir­che als Insti­tu­ti­on wie gegen­über der Vor­stel­lung, daß die Reli­gi­on in Lehr­sät­zen zu fixie­ren sei; der Publi­zist und Theo­lo­ge Wil­helm Hein­rich Riehl urteil­te, der Pro­tes­tan­tis­mus ken­ne sei­nem Selbst­ver­ständ­nis nach »nur das Rin­gen nach dem Erwerb der Gna­de durch den Glau­ben, und sei­ne Dog­ma­tik gibt der Kir­che nir­gends einen recht­li­chen Besitz­ti­tel für das fes­te, ruhen­de Kapi­tal eines eigent­li­chen Gna­den­schat­zes«. Der Zwei­fel an den Ver­bind­lich­keits­for­de­run­gen hat­te eine tie­fe­re Ursa­che, war auch nicht nur auf die vor­schrei­ten­de Säku­la­ri­sie­rung zurück­zu­füh­ren, son­dern hat­te zu tun mit der – wie­der­um auf deut­schem und pro­tes­tan­ti­schem Boden – ent­wi­ckel­ten his­to­ri­schen Bibel­kri­tik. So wenig die Außen­ste­hen­den in der Lage waren, die geschicht­li­chen und phi­lo­lo­gi­schen Details zu begrei­fen, die da dis­ku­tiert wur­den, so deut­lich sahen sie doch, daß die Nor­mal­auf­fas­sung von der Hei­li­gen Schrift als Offen­ba­rungs­quel­le nicht mehr auf­recht­zu­er­hal­ten war.

Einer der­je­ni­gen, die die­sen Sach­ver­halt früh und rück­sichts­los an die Öffent­lich­keit brach­ten, war Paul de Lag­ar­de, der Begrün­der der moder­nen Sep­tuag­in­ta-For­schung. Lag­ar­de hat­te sei­nen Aus­gangs­punkt noch in Pie­tis­mus und Kon­ser­va­tis­mus genom­men, sah aber die Kir­che wie die tra­di­tio­nel­le Ord­nung über­haupt dis­kre­di­tiert durch Ver­qui­ckung ihrer Inter­es­sen und den Eigen­nutz der Amts­trä­ger. In ver­schie­de­nen Schrif­ten ent­wi­ckel­te er seit den 1850er Jah­ren Vor­schlä­ge für eine umfas­sen­de Gesell­schafts- und Kul­tur­re­form, zu deren Kern­for­de­run­gen nicht nur die Tren­nung von Thron und Altar gehör­te, son­dern auch die Schaf­fung einer »Natio­nal­kir­che«, für die weder der Kanon noch die Leh­re von Gna­de und Recht­fer­ti­gung Ver­bind­lich­keit haben soll­ten. Viel­mehr gehe es in der »natio­na­len Reli­gi­on«, so Lag­ar­de, um eine sitt­li­che Erzie­hung, mit der der von Jesus begon­ne­ne Kampf gegen die Geset­zes- und Schuld­re­li­gi­on des Juden­tums voll­endet wer­den soll­te, den Luther eben noch nicht zu füh­ren gewagt habe.

Wahr­schein­lich muß man in Lag­ar­de den ein­fluß­reichs­ten reli­giö­sen Den­ker Deutsch­lands der bei­den letz­ten Jahr­hun­der­te sehen. Selbst wenn man von der außer­or­dent­li­chen Wert­schät­zung absieht, die ihm so bedeu­ten­de Köp­fe wie Nietz­sche, Richard Wag­ner, Hein­rich von Treit­sch­ke und Tho­mas Mann ent­ge­gen­brach­ten, bleibt eine außer­or­dent­lich brei­te Rezep­ti­on im gebil­de­ten Bür­ger­tum, vor allem den evan­ge­li­schen Krei­sen unter Ein­schluß des theo­lo­gi­schen Nach­wuch­ses, in der Jugend- und Lebens­re­form­be­we­gung der wil­hel­mi­ni­schen Zeit, in den neu­ar­ti­gen poli­ti­schen Strö­mun­gen der Christ­lich-Sozia­len wie Natio­nal-Sozia­len. Ulrich von Wila­mo­witz-Moel­len­dorff, der ihm in vie­lem kri­tisch gegen­über­stand, sprach doch am Grab des 1891 Ver­stor­be­nen von einer »pro­phe­ti­schen Natur«.

Zu beto­nen ist dabei, daß Lag­ar­des »Pro­phe­ten­tum« nur von einer Min­der­heit mit sei­nem Anti­se­mi­tis­mus oder sei­ner Idee zu einer aggres­si­ven Ost­ex­pan­si­on ver­knüpft wur­de. Die Mehr­heit betrach­te­te als sei­ne ent­schei­den­de Leis­tung die Neu­for­mu­lie­rung jener hoch­ge­steck­ten Vor­stel­lun­gen von Deutsch­tum und Chris­ten­tum, die ihren Ursprung in Roman­tik und Idea­lis­mus hat­ten. Daher rühr­te auch die Inten­si­tät der von sei­nen Gedan­ken inspi­rier­ten reli­giö­sen Debat­ten an der Jahr­hun­dert­wen­de, die Ernst­haf­tig­keit, mit der an der Vor­stel­lung gear­bei­tet wur­de, dem Glau­ben wie­der sei­ne ursprüng­li­che Kraft zurück­zu­ge­win­nen. Wer dabei nicht auf reli­giö­se Impor­te setz­te oder auf den Okkul­tis­mus zurück­griff, der damals mäch­tig auf­schoß, und wer sich auch nicht zu einer »Deutsch­gläu­big­keit« durch­rang, die in ihrer »Art­ge­mäß­heit« das Chris­ten­tum samt dem Juden­tum aus der natio­na­len Über­lie­fe­rung aus­sto­ßen woll­te, der ori­en­tier­te sich im Nor­mal­fall an einer »Ger­ma­ni­sie­rung des Chris­ten­tums«. Die­se For­mel ging auf Arthur Bonus zurück, der schon 1895 in einem Auf­satz geschrie­ben hat­te: »Es ist gleich­gül­tig, ob man for­mu­liert: Moder­ni­sie­rung des Chris­ten­tums oder Ger­ma­ni­sie­rung. Eine moder­ne­re Gestalt des Chris­ten­tums kann für uns nur eine deut­sche­re Gestalt sein, eine deut­sche­re Gestalt des Chris­ten­tums wird von selbst eine moder­ne­re sein.« Und: »Ob im Übri­gen das, was bei dem Umschöp­fungs­pro­zeß her­aus­kommt, noch Chris­ten­tum zu nen­nen sein wird, las­se ich aus­drück­lich uner­ör­tert, – und zwar, weil es völ­lig gleich­gül­tig ist.«

Bonus ver­kör­per­te in sei­ner Per­son den Über­gang vom theo­lo­gi­schen Libe­ra­lis­mus zur völ­ki­schen Reli­gio­si­tät, 1905 leg­te er das Pfarr­amt nie­der und arbei­te­te zukünf­tig als frei­er Schrift­stel­ler und nach dem Ers­ten Welt­krieg als Leh­rer. Sei­ne Aus­wahl von Islän­der­sa­gas erschien in sie­ben Auf­la­gen, vor allem aber war Bonus der wich­tigs­te theo­lo­gi­sche Autor des ein­fluß­rei­chen Diede­richs-Ver­la­ges. Die­se Stel­lung hat­te auch mit feh­len­der Ori­gi­na­li­tät zu tun. Bonus war eine Art Ver­mitt­ler, der die Gedan­ken Lag­ar­des (und Nietz­sches) mit den damals viel­dis­ku­tier­ten Vor­stel­lun­gen von kul­tu­rel­ler und geist­li­cher Rege­ne­ra­ti­on und völ­ki­scher Erneue­rung ver­knüpf­te. Was da zusam­men­floß, bestimm­te die Vor­stel­lungs­welt des deut­schen Bür­ger­tums in der Zeit vor dem Ers­ten Welt­krieg, das Unbe­ha­gen in der »reli­giö­sen Kri­sis«, von der Bonus aus­drück­lich sprach, wie die Vor­stel­lung von einem Aus­weg. Daß der in einer neu­en Syn­the­se von deut­schem Chris­ten­tum zu suchen sei, war die all­ge­mei­ne Über­zeu­gung, die von den »Reichs­pa­trio­ten« in eher kon­ser­va­ti­ver, von den Wag­ne­ria­nern, ihrem Meis­ter­den­ker Hous­ton Ste­wart Cham­ber­lain genau­so wie dem akti­vis­ti­schen Hans von Wolz­o­gen, in eher roman­ti­scher, von der nach­wach­sen­den Gene­ra­ti­on in eher jugend­be­weg­ter Wei­se geteilt wurde.

Wie es mit der Reli­gio­si­ät der Jun­gen bestellt war, hat Wal­ter Flex in sei­nem Wan­de­rer zwi­schen bei­den Wel­ten wenigs­tens für den pro­tes­tan­ti­schen und gebil­de­ten Teil ver­bind­lich aus­ge­drückt, wo es über den Theo­lo­gie­stu­den­ten und Wan­der­vo­gels­ol­da­ten Ernst Wur­che heißt: »Sein Gott war mit einem Schwer­te gegür­tet, und auch sein Chris­tus trug wohl ein hel­les Schwert, wenn er mit ihm in den Kampf schritt«. Und für vie­le dürf­te zutref­fen, was Paul Schütz von der Geis­tes­hal­tung vor allem der Frei­wil­li­gen schrieb, die nicht mit der Hei­li­gen Schrift, son­dern mit der Edda, dem Faust und Nietz­sches Zara­thus­tra in den Krieg zogen, als »Deutsch­gläu­bi­ge«, um als »Anti­chris­ten« heimzukehren.

Wie auch immer man das »Fel­d­er­leb­nis« beur­teilt: Ohne Zwei­fel hat es in Deutsch­land noch ein­mal zu einer unge­heu­ren Ent­la­dung theo­lo­gi­scher Ener­gie geführt. Gemeint ist damit nicht die ver­ständ­li­che Rück­wen­dung der Trau­ern­den, Ver­zwei­fel­ten, Gebro­che­nen zur Kir­che – es gab nach 1918 auch sehr star­ke gegen­läu­fi­ge Ten­den­zen –, son­dern die außer­or­dent­li­che Ernst­haf­tig­keit, mit der man sich wie­der den reli­giö­sen Kern­fra­gen zuwand­te. Man kann den Vor­gang sowohl an der »Luther­re­nais­sance« fest­ma­chen, die das Erbe der Refor­ma­ti­on von auf­klä­re­ri­scher und moder­ni­sie­ren­der Umdeu­tung befrei­te, wie an der Ver­öf­fent­li­chung von Rudolf Ottos Buch Das Hei­li­ge (1917), in dem gegen jede ethi­sie­ren­de und ratio­na­li­sie­ren­de Ten­denz das Außer­ver­nünf­ti­ge des Glau­bens her­aus­ge­ar­bei­tet und ver­tei­digt wur­de, und schließ­lich an der Grün­dung der Zeit­schrift Zwi­schen den Zei­ten durch Karl Barth, Edu­ard Thur­ney­sen und Fried­rich Gogar­ten als den Ban­ner­trä­gern der neu­en »Dia­lek­ti­schen Theo­lo­gie« (1923).

Ohne Zwei­fel war die »Luther­re­nais­sance« ihrem Wesen nach ein genu­in kon­ser­va­ti­ves, das heißt jetzt: »jung­kon­ser­va­ti­ves«, Pro­jekt. Die neu her­vor­tre­ten­de Gene­ra­ti­on von Theo­lo­gen aus den Jahr­gän­gen der Kriegs­teil­neh­mer – Paul Alt­haus, Wer­ner Elert, Wal­ter Kün­neth – ein­te nicht nur das Bestre­ben, Luthers Grund­an­lie­gen wie­der ver­ständ­lich zu machen und von da aus auch die äuße­re Gestalt der evan­ge­li­schen Kir­che neu zu grün­den, sie ver­stan­den sich auch als Ver­tre­ter eines »volks­kirch­li­chen« Kon­zepts, dem­zu­fol­ge die Kir­che natur­ge­mäß Spre­che­rin des gan­zen Vol­kes sei, was in die­sem Fall hieß: die Nati­on in ihrer Ernied­ri­gung wie­der auf­zu­rich­ten und nach außen ihre Gel­tung zu behaupten.

Die Schnitt­men­ge zwi­schen die­sen »Junglu­the­ri­schen« und der offi­zi­el­len Kir­chen­li­nie war groß, Alt­haus berühmt gewor­de­ne Anspra­che auf dem Deut­schen Evan­ge­li­schen Kir­chen­tag von 1927 fand bezeich­nen­der­wei­se fast all­ge­mei­ne Zustim­mung, gera­de wegen des ihr inne­woh­nen­den Pathos: »Es ist, als habe unser Volk tiefs­te Mensch­heits­fra­gen schmerz­li­cher und mehr bis aufs Blut als ande­re durch­lei­den müs­sen und sei dadurch zu beson­de­rem Pries­ter­tum an der Erkennt­nis letz­ter Din­ge gehal­ten und geweiht. Wir reden davon wahr­haf­tig nicht im Über­mut. Wir ken­nen die Last deut­scher Einsamkeit.«

Wesent­lich ver­deck­ter wirk­ten, ver­gli­chen damit, die Gedan­ken Rudolf Ottos, die aber doch das intel­lek­tu­el­le Zeit­kli­ma, die Reser­ve gegen­über dem Posi­ti­vis­mus ver­stärk­ten und sich ohne Zwei­fel mit der zuletzt­ge­nann­ten For­ma­ti­on der Dia­lek­ti­schen Theo­lo­gie berühr­ten, deren Kern­an­lie­gen es war, die Wirk­lich­keit Got­tes gera­de in ihrer Unfaß­bar­keit und Unmensch­lich­keit zur Gel­tung zu brin­gen. Für gewöhn­lich wer­den die Trä­ger der Dia­lek­ti­schen Theo­lo­gie wegen der her­aus­ra­gen­den Bedeu­tung Barths der poli­ti­schen Lin­ken zuge­ord­net. Aber die­se Zuwei­sung stimm­te schon für Thur­ney­sen nicht und erst recht nicht für Gogar­ten, der in der Wei­ma­rer Repu­blik zu den offe­nen Par­tei­gän­gern der DNVP gehör­te und außer­dem als Theo­re­ti­ker der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on anzu­spre­chen war.

Bezeich­nen­der­wei­se kam es zwi­schen Gogar­ten und Barth 1933 zum Bruch über der Fra­ge, wie eigent­lich das Wir­ken Got­tes in die­ser Welt fest­ge­stellt wer­den kön­ne, weil Gogar­ten einen Gedan­ken­gang, der Barth nicht fremd war, für den kon­kre­ten Fall der »natio­na­len Erhe­bung« in Anspruch nahm und dar­in aus­drück­lich einen Fin­ger­zeig Got­tes sehen woll­te, den man als christ­li­cher Theo­lo­ge zu deu­ten habe. Zwar ging Gogar­ten nicht so weit wie Alt­haus, der von einem »deut­schen Ostern« sprach und damit Gol­ga­tha und den deut­schen Zusam­men­bruch von 1918 in Par­al­le­le setz­te, aber er ging an ande­rer Stel­le noch wei­ter, indem er sich der »Glau­bens­be­we­gung Deut­sche Chris­ten« (DC) anschloß, jener Grup­pie­rung inner­halb der NSDAP, die auf eine neue Syn­the­se aus Natio­nal­so­zia­lis­mus und Chris­ten­tum setz­te. Die DC war ihrem Ansatz nach ohne theo­lo­gi­sches Pro­gramm, aber gera­de das hat – wie auch der jugend­li­che Akti­vis­mus ihrer Trä­ger in der »Kampf­zeit« – ihr Anhang ver­schafft und nach Hit­lers Macht­er­grei­fung über­ra­schend Hand­lungs­mög­lich­kei­ten eröff­net. Die gin­gen von Anfang an auf die Schaf­fung jener Natio­nal­kir­che, die von der gro­ßen Mehr­heit der Evan­ge­li­schen und ins­be­son­de­re den Deutsch­christ­li­chen aller Fär­bun­gen gefor­dert wur­de. In der Auf­bruchs­stim­mung von 1933/34 schien die­ses Ziel tat­säch­lich zum Grei­fen nahe. Wenn es doch nicht erreicht wur­de, hat­te das wenig mit poli­ti­scher Oppo­si­ti­on zu tun, son­dern mit dem Ver­such der NS-Füh­rung, die DC als ver­län­ger­ten Arm zu nut­zen, um die Gleich­schal­tung des Pro­tes­tan­tis­mus zu errei­chen. Dar­aus ergab sich eine Unüber­sicht­lich­keit der Front­ver­läu­fe, die den gan­zen »Kir­chen­kampf« kennzeichnete.

Gegen den staat­li­chen Über­griff for­mier­te sich von Anfang an ein Wider­stand, der auch von sol­chen Geist­li­chen und Lai­en getra­gen wur­de, die sich als Natio­nal­so­zia­lis­ten ver­stan­den – der Fall Mar­tin Niem­öl­lers war nur der bekann­tes­te –, vor allem aber spal­te­te sich die Kir­che in »Beken­nen­de« und »Brau­ne« und »Neu­tra­le«, wobei ers­te­re ihre Loya­li­tät gegen­über Volk und Staat beton­ten, aber im Theo­lo­gi­schen auf Vor­stel­lun­gen zurück­grif­fen, die im Grun­de seit dem 19. Jahr­hun­dert nicht mehr kon­sens­fä­hig waren, wäh­rend die »Brau­nen« zwar die Rücken­de­ckung des Staa­tes besa­ßen, aber suk­zes­si­ve an Rück­halt in den Gemein­den ver­lo­ren. Ihr rüdes Auf­tre­ten und die man­geln­de Eig­nung ihres Füh­rungs­per­so­nals stieß rasch auch die­je­ni­gen ab, die ursprüng­lich zu ihnen gehal­ten hat­ten, wie etwa Gogar­ten. Gogar­ten geriet damit in eine ähn­lich pre­kä­re Lage wie Alt­haus und die Mehr­zahl der über­zeug­ten Luthe­ra­ner, die schon aus ihrem Ver­ständ­nis der Zwei-Rei­che-Leh­re nicht gegen das NS-Regime oppo­nie­ren und sich der Beken­nen­den Kir­che (BK) anschlie­ßen woll­ten. Vor allem aber hat­te sein Schritt zur Fol­ge, daß in den Rei­hen der DC (abge­se­hen von dem Neu­tes­ta­ment­ler Ger­hard Kit­tel) nur noch ein Theo­lo­ge von Rang ver­blieb: Ema­nu­el Hirsch.

Zu den bemer­kens­wer­ten Defi­zi­ten der Sys­te­ma­tik wie der Kir­chen­ge­schich­te gehört, daß es bis heu­te kei­ne Mono­gra­phie über Hirsch gibt. Zwar exis­tie­ren Auf­sät­ze, Arbei­ten über ein­zel­ne Aspek­te sei­ner Leh­re und klei­ne­re Unter­su­chun­gen, die sich vor allem mit sei­nem Ein­satz in der NS-Zeit befas­sen, aber kei­ne wirk­lich erschöp­fen­de Dar­stel­lung und Ana­ly­se der Bio­gra­phie und des Werks, des­sen Umfang und des­sen Niveau die Beur­tei­lung erschwert.

In gewis­ser Hin­sicht gehör­te auch Hirsch zu den Trä­gern der »Luther­re­nais­sance«, aber schon in den zwan­zi­ger Jah­ren war in sei­nen Arbei­ten eine Akzent­ver­schie­bung zu erken­nen, die im Grun­de nur als Neu­auf­nah­me libe­ra­ler Vor­stel­lun­gen gedeu­tet wer­den konn­te, die er als Ver­such ansah, zwi­schen der »Theo­lo­gie der Kri­se« und dem »jun­gen Luther­tum« zu ver­mit­teln. Ein Grund für die­ses Bemü­hen Hirschs lag dar­in, daß er glaub­te, der not­wen­di­ge Dienst der Kir­che am Volk sei nur zu leis­ten, wenn sie eine neue Ein­heit bil­de. Eine Vor­stel­lung, die auch mit einem hoch­ge­spann­ten, theo­lo­gisch imprä­gnier­ten Natio­na­lis­mus ver­knüpft war, der schon 1932 zur offe­nen Par­tei­nah­me für Hit­ler und die NSDAP führte.

Kein ande­rer evan­ge­li­scher Theo­lo­ge von Rang hat dann so kon­se­quent wie Hirsch die Auf­fas­sung von Hit­ler als gött­li­chem Werk­zeug ver­tre­ten, der DC die Treue gehal­ten und gleich­zei­tig wei­ter an genu­in reli­giö­sen Fra­ge­stel­lun­gen gear­bei­tet, mit dem Ziel, jene »mythen­zer­stö­ren­de Refle­xi­on« zu Ende zu brin­gen, die in der his­to­ri­schen Bibel­kri­tik ihren Anfang genom­men hat­te. Wenn über­haupt jemand, dann hat Hirsch in sei­nen Arbei­ten der drei­ßi­ger und vier­zi­ger Jah­re den Ver­such gemacht, die Impul­se zu bün­deln, die seit dem Beginn des 19. Jahr­hun­derts das Ver­hält­nis von Deutsch­tum und Chris­ten­tum bestimmt hat­ten. Zu einem Abschluß ist er nicht gekom­men, aber schon die Anstren­gun­gen, die er unter­nahm, sind beeindruckend.

Hirsch hat nach 1945 unbe­irr­bar an sei­nen Posi­tio­nen fest­ge­hal­ten, schied frei­wil­lig aus dem Lehr­amt, um der Ent­na­zi­fi­zie­rung zu ent­ge­hen, und setz­te sei­ne wis­sen­schaft­li­che wie schrift­stel­le­ri­sche Tätig­keit trotz Erblin­dung fort. Sei­ne aus­ge­spro­che­ne Wei­ge­rung, sich den neu­en Ver­hält­nis­sen anzu­pas­sen, wäh­rend die inner­kirch­li­che »Ver­söh­nungs­ar­beit« aus­drück­lich die ehe­ma­li­gen DC-Pfar­rer samt ihren Füh­rern ein­be­zog, hat­te nicht nur mit Unein­sich­tig­keit und Hals­star­rig­keit zu tun, son­dern hing auch mit sei­nem Ver­ständ­nis von reli­giö­ser Wahr­heits­su­che zusam­men, das natur­ge­mäß nichts anzu­fan­gen wuß­te mit dem Tri­umph der BK oder der Bereit­schaft der Luthe­ra­ner, unter den nun gege­be­nen Umstän­den Mit­ar­beit zu leis­ten. Es ist dabei zu beto­nen, daß die evan­ge­li­sche Kir­che sich auch in der Nach­kriegs­zeit kei­nes­wegs von der Vor­stel­lung ver­ab­schie­det hat­te, sie sei Spre­che­rin der Deut­schen als Volk. Gera­de in der Pha­se der Besat­zung nahm sie die­se Auf­ga­be wahr, aber auch in einem theo­lo­gi­sie­ren­den Ver­ständ­nis von »Kol­lek­tiv­schuld« und erst recht ange­sichts des gro­ßen Kurs­wech­sels der sech­zi­ger Jah­re, der auf eine ver­que­re Wei­se und wohl zum letz­ten Mal das alte Selbst­be­wußt­sein weck­te, daß das deut­sche als ein christ­li­ches Volk zu begrei­fen sei und die Kir­che des­sen geist­li­che und mora­li­sche Füh­rung stelle.

Aber der Spalt zwi­schen die­sem Anspruch und der Wirk­lich­keit war merk­lich grö­ßer gewor­den, und der Ver­such der jun­gen Gene­ra­ti­on, sich dem neu­en Zeit­geist anzu­ver­wan­deln, hat­te jeden­falls nichts zu tun mit dem Bewußt­sein von der Schwe­re und der Tra­gik des »Ein­schnei­den­den«, von dem Hirsch in einem sei­ner letz­ten Bücher sprach, und das letzt­lich auch das Ver­hält­nis des Deut­schen und des Christ­li­chen bestim­men wird: »Es wer­den auch Men­schen auf­stehn müs­sen, wel­che neue Gestal­tung erwir­ken. Nicht nur die Klei­der und die Möbel wer­den ver­schlis­sen im Gebrauch durch die Men­schen. Auch die Gedan­ken, Bräu­che, Sit­ten und Fes­te wer­den es. Auch sie müs­sen, wenn doch alles in der Geschich­te lang­sam sich wan­delt, in neu­er Lage neue Gestalt gewin­nen. Zudem: Gott ist nicht tot, nach­dem er sich ein­mal offen­bart hat. Er ist die ewi­ge tie­fe Unru­he der Geist­wer­dung ins Unend­li­che hinaus.«

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