Vollendete Aufklärung? – Theorien hinter der Wiki-Republik

von Felix Dirsch

Zu den ambitioniertesten Projekten der Aufklärung gehören Konzepte, die eine Grundtatsache des Politischen,...

die Herr­schaft von Men­schen über Men­schen, über­win­den wol­len. In der Spra­che des Mar­quis des Cond­or­cet heißt das: Es gehe nicht mehr an, »die Men­schen in zwei ver­schie­de­ne Ras­sen auf­zu­tei­len, von denen die eine zum Regie­ren, die ande­re zum Gehor­chen bestimmt« sei.

Auch ande­re nam­haf­te Den­ker die­ses Zeit­al­ters, etwa Hen­ri de Saint-Simon und Augus­te Comte, erst recht ein »techno¬kratischer Kon­ser­va­ti­ver« des 20. Jahr­hun­derts, Hel­mut Schelsky, inten­die­ren, das Zusam­men­le­ben über unper­sön­li­che und ratio­na­le Nor­men zu regeln. Die Macht von Per­so­nen über Per­so­nen sol­le von »Sach­ge­setz­lich­kei­ten der wis­sen­schaft­lich-tech­ni­schen Zivi­li­sa­ti­on« (Schelsky) abge­löst wer­den, die nicht als poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen begreif­bar sei­en. Fol­ge­rich­tig, so vie­le Prot­ago­nis­ten des Tech­ni­zis­mus, wer­de der Staats­mann von Ana­ly­ti­kern, Kon­struk­teu­ren und Pla­nen­den abhän­gig. Läßt sich aber auf die­se Wei­se die poli­ti­sche Ent­schei­dung wirk­lich ver­mei­den? Wohl nicht, da ver­schie­de­ne Mög­lich­kei­ten einer tech­ni­schen Lösung häu­fig nicht ratio­nal, son­dern im Sti­le einer Glau­bens­fra­ge beleuch­tet werden.

Ein wei­te­res, damit eng zusam­men­hän­gen­des Ziel wich­ti­ger Reprä­sen­tan­ten des im 18. Jahr­hun­dert immer selbst­be­wuß­ter agie­ren­den Bür­ger­tums ist die Erset­zung von Macht und Herr­schaft durch Moral, die infol­ge kom­mu­ni­ka­ti­ver Pro­zes­se gewon­nen wer­de. Die Räso­nie­ren­den, die durch die zuneh­men­de Alpha­be­ti­sie­rung, die deut­lich gestie­ge­ne Zahl an Druck¬erzeugnissen, die Ver­meh­rung der Lese­ge­sell­schaf­ten und so fort an gesell­schaft­li­cher Rele­vanz gewin­nen, besä­ßen kein Macht­mit­tel außer dem »zwang­lo­sen Zwang des bes­se­ren Argu­ments« (Jür­gen Haber­mas). Mit­tels Publi­zi­tät sol­le die Wahr­heit ans Licht kom­men, die vor der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on etwa durch die übli­che Geheim­di­plo­ma­tie der Fürs­ten ver­schlei­ert wor­den sei – jeden­falls aus Sicht derer, die damals den »Struk­tur­wan­del der Öffent­lich­keit« (Haber­mas) förderten.

Mag auch eine sol­che Per­spek­ti­ve auch im nach­hin­ein stark sti­li­siert erschei­nen, rich­tig dar­an bleibt, daß eine demo­kra­ti­sche Ord­nung nicht ohne eine vita­le öffent­li­che Mei­nung aus­kommt, die frei­lich kei­nes­falls herr­schafts­frei ist. Einer der Vor­den­ker der moder­nen Demo­sko­pie, der ame­ri­ka­ni­sche Schrift­stel­ler und Jour­na­list Wal­ter Lipp­mann, präg­te nicht von unge­fähr den Begriff des »Gate­kee­pers«, der ent­schei­det, was an Infor­ma­tio­nen in Umlauf kommt und was nicht.

Gegen einen sol­chen Trend der Auf­lö­sung von Macht und Herr­schaft durch Moral und Tech­nik rich­te­te Carl Schmitt sei­ne klas­si­sche Streit­schrift Der Begriff des Poli­ti­schen. Sie streb­te eine Neu­fun­die­rung des Poli­ti­schen an, die in der Freund-Feind-Unter­schei­dung kul­mi­nie­re und somit die Eigen­ge­setz­lich­keit und Auf­klä­rungs­re­sis­tenz die­ses Bereichs sicher­stel­len könne.

Ist Schmitts The­se rich­tig, wonach ein Zeit­al­ter, in dem die Tech­nik zum Zen­tral­ge­stirn des Daseins mutiert, zwangs­läu­fig zu Ent­po­li­ti­sie­rung und Neu­tra­li­sie­rung wich­ti­ger Lebens­be­rei­che füh­re? Ten­den­zi­el­le Hin­wei­se für eine der­ar­ti­ge Auf­fas­sung bie­ten wich­ti­ge Ver­tre­ter einer sich abzeich­nen­den »Wiki«-Republik, die man als Syn­the­se west­lich-par­la­men­ta­ri­scher Sys­te­me mit den neu­en Infor­ma­ti­ons­me­di­en begrei­fen kann – in Deutsch­land ent­stand als Sam­mel­be­cken und poli­ti­scher Arm die Piratenpartei.

Zu den Schlüs­sel­be­grif­fen die­ser neu­en Ära zählt Wät­zold Plaum (Die Wiki-Revo­lu­ti­on: Absturz und Neu­start der west­li­chen Demo­kra­tie, Ber­lin 2012), einer der Vor­den­ker der Pira­ten­par­tei, die Trans­pa­renz. Sie ent­spre­che im EDV-Zeit­al­ter der Licht­me­ta­pher der Auf­klä­rung. Zu den wesent­li­chen Vor­kämp­fern die­ses Prin­zips zählt welt­weit der Begrün­der von Wiki­leaks, Juli­an Assan­ge, des­sen Orga­ni­sa­ti­on in kür­zes­ter Zeit zum »Staats­feind Nr. 1« erko­ren wur­de. Er ist der »Hüter der Trans­pa­renz« – solan­ge es nicht um Wiki­leaks selbst geht. Der pro­fes­sio­nel­le Hacker hin­ter­fragt prin­zi­pi­ell das Han­deln von grö­ße­ren Ein­rich­tun­gen, ins­be­son­de­re von Staa­ten, und unter­stellt die­sen ver­schwö­re­ri­sche, unrecht­mä­ßi­ge Absich­ten. Wäh­rend der Bür­ger, auch in sei­ner infor­ma­tio­nel­len Selbst­be­stim­mung, geschützt wer­den müs­se, gel­ten Staa­ten und eini­ge Groß­in­sti­tu­tio­nen wie Ban­ken nach Assan­ge als Fein­de, die wie­der­holt bloß­zu­stel­len sei­en. Beson­de­res Auf­se­hen erreg­te die Ver­öf­fent­li­chung von Depe­schen aus US-Minis­te­ri­en 2010.

Der alte Zusam­men­hang von Ent­po­li­ti­sie­rung, Publi­zi­tät und Libe­ra­lis­mus ist auch im Kon­text von Wiki­leaks kaum zu über­se­hen. Die wohl berühm­tes­te Cyber­be­we­gung der Welt betont, sich der Ein­ord­nung von rechts und links zu ent­zie­hen. Ihre Mit­glie­der ver­or­ten sich meist als liber­tär. Bei­na­he jede ver­öf­fent­lich­te Infor­ma­ti­on wird als etwas, was die Welt zum Gerech­te­ren hin ver­bes­se­re, hoch­ge­ju­belt. Dage­gen spricht jedoch die Beob­ach­tung, daß der größ­te Teil der erwähn­ten Depe­schen, deren Fül­le ohne­hin unüber­schau­bar ist, eher unter die Rubrik des Klat­sches zu sub­su­mie­ren ist.

Man wird sich in Zukunft mit der durch­aus ambi­va­len­ten »Trans­pa­renz­ge­sell­schaft« (Byung-Chul Han) kri­ti­scher aus­ein­an­der­set­zen müs­sen, da auch sie unge­heu­re Sys­tem­zwän­ge frei­setzt und letzt­lich auf eine mas­si­ve Kon­trol­le des Zusam­men­le­bens hin­aus­läuft. Dar­über hin­aus ist jede ernst­haf­te Diplo­ma­tie immer Geheim­di­plo­ma­tie, und nie­mand wür­de von einem Elf­me­ter­schüt­zen ver­lan­gen, daß er dem Tor­wart die Ecke nennt.

Ein wei­te­rer Eck­pfei­ler der Wiki-Repu­blik ist die popu­lä­re Inter­net-Enzy­klo­pä­die Wiki­pe­dia, deren obers­ter Grund­satz eben­falls die Trans­pa­renz ist. Auch frü­he­re Ver­sio­nen sol­len nach Ver­än­de­run­gen noch ein­seh­bar sein. Die Wur­zeln die­ses Mit­mach-Pro­jekts in der Auf­klä­rung sind evi­dent, ver­such­ten doch die im 18. Jahr­hun­dert an Bedeu­tung gewin­nen­den wis­sen­schaft­li­chen Aka­de­mien, das gebil­de­te Publi­kum an der Gelehr­sam­keit teil­neh­men zu las­sen. Fol­ge­rich­tig lob­te man Preis­aus­schrei­ben aus. Rous­se­au wur­de durch die Beant­wor­tung zwei­er die­ser Fra­gen berühmt. Indes: Die »Weis­heit der vie­len« (James Sur­owiecki: – War­um Grup­pen klü­ger sind als ein­zel­ne, Mün­chen 2007) der moder­nen Open-Source-Vari­an­te kommt am Ende vor allem durch die Umtrie­big­keit und Mob­bing­fä­hig­keit etli­cher Admi­nis­tra­to­ren zustan­de, von herr­schafts­frei­em Dis­kurs oder zwang­lo­sem Zwang des bes­se­ren Argu­ments kann kei­ne Rede sein.

Inwie­fern also darf die Wiki-Repu­blik als Mus­ter­bei­spiel für Ent­po­li­ti­sie­rung gel­ten? Plaum hat die­ses Ziel deut­lich her­aus­ge­stellt. An die Stel­le der sei­ner Mei­nung nach über­hol­ten Gesäß­geo­gra­phie von links und rechts sol­le die Sach­ori­en­tie­rung tre­ten. Der Mathe­ma­ti­ker und Phi­lo­soph emp­fiehlt Bünd­nis­se, die zur Lösung des jewei­li­gen Pro­blems bei­tra­gen, ohne ideo­lo­gi­sche Scheu­klap­pen und volks­par­tei­li­che Bin­dun­gen. In die­sen Kon­text gehört auch die For­de­rung, die Dop­pel­mit­glied­schaft in Par­tei­en aus­drück­lich zu erlau­ben. Poli­ti­sche Iden­ti­tät wer­de auf die­se Wei­se mehr oder weni­ger ent­behr­lich, Par­tei­dis­zi­plin und Frak­ti­ons­zwang sei­en ausgehebelt.

Wenn Publi­zi­tät und Dis­kurs zu den phi­lo­so­phi­schen Schlüs­sel­be­grif­fen der Auf­klä­rer (von Rous­se­au über Kant bis Haber­mas) zäh­len, die dem Gemein­wohl den Vor­rang vor Son­der­in­ter­es­sen ein­räum­ten, so liegt die Fra­ge nach der Bedeu­tung der ins Infla­tio­nä­re gestei­ger­ten, mas­sen­elek­tro­nisch gestütz­ten Kom­mu­ni­ka­ti­on nahe. Gewiß sind vie­le Par­al­le­len zum tra­di­tio­nel­len Aug-in-Aug-Gespräch zu erken­nen. Haber­mas hat einst als Vor­aus­set­zung des herr­schafts­frei­en Dis­kur­ses die Aner­ken­nung sämt­li­cher Teil­neh­mer als Eben­bür­ti­ge genannt. Ver­gleich­ba­res stel­len auf tech­ni­schem Niveau etwa soge­nann­te Peer-to-Peer-Netz­wer­ke dar, in denen alle ange­schlos­se­nen Com­pu­ter gleich­wer­tig sind – und damit auch (rein for­mal) die Benut­zer die­ser Rech­ner. Unge­ach­tet sol­cher Ana­lo­gien über­wie­gen die neu­en Dis­kurs­bar­rie­ren. So sind her­kömm­li­che Dis­kurs­theo­rien homo­ge­nis­tisch, mit­hin kon­sens­ori­en­tiert und poli­tisch aus­ge­rich­tet. In per­sön­li­chen Gesprä­chen erscheint das Ziel der Eini­gung der Teil­neh­mer leich­ter zu errei­chen als in anony­men Chat­rooms des Welt­net­zes, das in star­kem Maß frag­men­tie­rend wirkt. Die Nut­zung ist deut­lich von Geschlecht, Ort, Alter und Bil­dungs­grad der Anwen­der abhän­gig. In allen Alters­grup­pen domi­nie­ren nicht poli­ti­sche Inter­es­sen und Absich­ten, son­dern der Wert der Unter­hal­tung. Zudem erfor­dert die Wis­sens­über­flu­tung hohe selek­ti­ve Fähig­kei­ten, die höchst ver­schie­den ver­teilt sind.

Fest­zu­hal­ten ist: Uto­pis­ti­sche Über­schüs­se fin­den sich zuwei­len auch im Zusam­men­hang mit der »Emer­genz digi­ta­ler Öffent­lich­kei­ten« (Ste­fan Mün­ker) wie einst in eini­gen bür­ger­li­chen Krei­sen des 18. Jahr­hun­derts. Jedoch brin­gen die neu­en sozia­len Medi­en im Web 2.0 neben Sym­me­trien auch bis­her unbe­kann­te Asym­me­trien mit sich.

Ins­ge­samt ist das heu­ti­ge tech­ni­sche Zeit­al­ter nüch­ter­ner als noch die 1970er Jah­re und erst recht als das »mora­li­sche Jahr­hun­dert« (Carl Schmitt) der Auf­klä­rung. Der distan­zier­te Beschrei­ber sozia­ler Sys­te­me, Luh­mann, hat über den empha­ti­schen Auf­klä­rungs­in­stru­men­ta­li­sie­rer Haber­mas längst den Sieg errungen.

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